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Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben
Er gilt als einer der Sprachschöpfer der Moderne: Seine Sprache ist musikalisch, bildreich und von metaphysischer Tiefe geprägt. Geboren 1875 in Prag als René Rilke, lebte er rastlos in ganz Europa, unter anderem in Paris, Russland und der Schweiz. Seine Mutter verkraftete den Tod seiner älteren Schwester nicht und kompensierte ihren Schmerz, indem sie den jungen René als Mädchen aufzog: Er nannte sich Ismene und sprach über den bösen René in der dritten Person. In ihrer spannenden Biographie über den Dichter schreibt Sandra Richter: «Die Erziehung zum Mädchen eröffnete Rilke den Weg zu etwas Ungewöhnlichem: einer Gefühls- und Geschmackskultur, die vielen Zeitgenossen verschlossen blieb. Er pflegte und bewahrte seine Begeisterung für das ästhetisch Feine, Weibliche: Der Heranwachsende wünschte sich duftende Seife und spezielles Briefpapier.» Der schwedische Psychotherapeut Poul Bjerre meinte sogar, dass Rilke durch die Erziehung zum Mädchen in seinem Geschlecht «heimatlos» geworden sei: Von hinten habe er wie ein dreizehnjähriges Mädchen ausgesehen und er habe sich nie damit versöhnt, ein Mann zu sein. Rilke selbst war überzeugt, dass aus der Reibung beider Geschlechter in einem Menschen jene besondere Spannung entstehe, die Kunst hervorzubringen erlaube. Offen sein und schreiben. Mehr wollte Rilke nicht. Seine Kindheit und Jugend hat er in den «Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge» verarbeitet – es wurde einer der ersten modernen Romane. Seine Gedichte sind so ausdrucksstark, dass sie bis heute nachwirken.
In der Tradition der Romantik erklärte Rilke alles zu seinem Werk, auch seine Briefe. Deshalb, schreibt Sandra Richter, verschwimmen «die Grenzen von Werk und Lebenszeugnissen». Rilkes Leben lasse sich schon aufgrund dieser selbsterklärten Durchlässigkeit «nicht einfach von der Wiege bis zur Bahre erzählen, auf sein Werk abbilden, bewerten und kanonisieren». Zudem sei die Sichtweise von Rilke auf sich selbst und die äussere Wirklichkeit in stetigem Fluss gewesen: «Er veränderte seine Identität, spielte unterschiedliche Rollen, leugnete reale Zusammenhänge und schrieb sie um.» Auch darin ist Rilke sehr modern.

In ihrem Buch geht Sandra Richter den von Rilke selbst verwischten Spuren nach und schält Wirklichkeitskerne aus Rilkes Texten heraus. Die Auswahl der Begebenheiten orientiert sich an «Biographemen», also an prägenden Ereignissen, die Rilke dauerhaft beschäftigten und über die er sich immer wieder äusserte. Dazu gehörten das schwierige Verhältnis zur Mutter, die Erzählung von der vermeintlich adligen Vaterfamilie, der körperliche Zwang in der Militärschule der k.u.k. Monarchie. «Biographeme wie diese sind Dreh- und Angelpunkte von Rilkes Handeln, Schreiben, Sich-Verweigern und zugleich Gegenstand der Selbstdeutung in seinen Briefen, Gedichten, Dramen, Erzählungen», schreibt Richter.
Wie die Expressionisten suchte Rilke seine Anregungen in jenen Ecken der Gesellschaft, die andere mieden: «bei ‹gefallenen Mädchen› in der tschechischen Provinz, in den Krankenhäusern von Paris, im Kampf mit einer schwedischen Mücke und, nachts, am Fuss der Sphinx». Er entwickelte tradierte Schreibweisen weiter, dichtete in kritischer Auseinandersetzung mit seiner Zeit und lobte sie gleichzeitig in den höchsten Tönen. Rilke entwarf Kinderlyrik und studierte die Geschichte der Frauen, beklagte die Folgen des Anthropozän und begeisterte sich für neue Techniken, er hoffte auf grosse Leistungen und «nahm vom eigenen Erfolg erst Notiz, als er sich ums Geld keine Sorgen mehr machen musste und einen abgelegenen Wohnturm in der Schweiz bezog», schreibt Sandra Richter. Wahlmütter, Psychologen, Mäzene und ein umsichtiger Verleger schufen dafür den Freiraum und lenkten seinen Willen zu höchster Kunst.
Als Sekretär des Bildhauers Auguste Rodin lernte Rilke in Paris die Disziplin der Beobachtung. Ein Resultat waren die «Dinggedichte»: eine neue, gegenständliche Art der Lyrik. Das bekannteste dieser Gedichte ist zweifellos «Der Panther». Sandra Richter erzählt, Rilke habe das Gedicht «ausgehend von einem Gipsabdruck eines antiken Tigers in Rodins Atelier und von seinen Spaziergängen vorbei an den Tiergehegen des Jardin des Plantes» geschrieben: «Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe / so müd geworden, daß er nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.» Rilke erweist sich in diesem Gedicht als «Anwalt der stummen Natur, die in Gefangenschaft nicht sie selbst ist, das trostlose Einerlei erhält Gestalt im wiederholten Umlaut ‹ä›. Nichts kann das Tier mehr erreichen, ein Bild, das zufällig in sein Auge fällt, erlischt an der vom Menschen domestizierten Gestalt.»
Für ihre Biografie hat Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter Dokumente ausgewertet, die 2022 ins Deutsche Literaturarchiv Marbach gelangt sind. Entstanden ist ein faszinierendes Lebensbild, das uns die Werke, insbesondere die Gedichte von Rilke neu erschliesst.
Sandra Richter: Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben. Eine Biographie. Insel Verlag, 478 Seiten, 39.90 Franken; ISBN 978-3-458-64482-8
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783458644828
Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/
Basel, 02.07.2025, Matthias Zehnder
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