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Der tiefe Graben

Publiziert am 19. November 2020 von Matthias Zehnder

Wir leben alle irgendwie in der Überzeugung, dass 2016 bei der Wahl von Donald Trump irgendetwas fürchterlich schief gegangen sei. In ihrem Erinnerungsbuch «What Happened» schreibt Hillary Clinton: «Seit dem 8. November 2016 ist kaum ein Tag vergangen, an dem mich nicht die immer gleiche Frage gequält hätte: Warum habe ich verloren?» In der Tat können wir uns fragen, was schief gegangen ist, dass 2016 ein Kandidat wie Donald Trump für die Republikaner ins Weisse Haus einziehen konnte, ein Kandidat, der Geringschätzung gegenüber der Partei ausstrahlte, die er repräsentierte, und für den Job, den er anstrebte. Was ist da passiert?

Ezra Klein dreht in diesem Buch auf verstörende Weise die Frage um: Was, wenn überhaupt nichts Ungewöhnliches passiert ist? Analysiert man nämlich die Zahlen, dann fallen die Wahlen 2016 nicht aus der Reihe. Das Besondere an der Wahl von Donald Trump war höchstens, dass die Wähler Trump behandelten, als sei er ein ganz normaler Republikaner. Ezra Klein schreibt, die parteipolitische Polarisierung sei in den USA so stark, dass «sie das Ergebnis einer so bizarren Wahl wie 2016 in dieselben Spurrinnen zwingen kann wie das von Romneys Rennen gegen Obama oder Bushs Rennen gegen Kerry. Wir sind unseren politischen Identitäten so sehr verhaftet, dass im Grunde kein Kandidat, keine Information, keine wie auch immer gearteten Umstände uns zwingen können, unsere Meinung zu ändern.» Das Resultat dieser tiefen Spaltung des Landes sei «eine Politik, in der es weder Leitplanken noch Standards, Überzeugungsmöglichkeiten oder Möglichkeiten einer Haftbarmachung gibt.»

Anders gesagt: Donald Trump ist nicht das Problem, sondern ein Symptom davon: Er ist die Folge der scharfen und unversöhnlichen Teilung der USA in eine rote und eine blaue Hälfte. Ezra Klein schreibt von einem «toxischen System», das auch gute Menschen nur allzu leicht verderbe. «Und zwar nicht, indem sie von uns fordern, unsere Werte zu verraten, sondern, indem sie unsere Werte auf eine Weise kapern, die dazu führt, dass wir einander verraten.» Solcher Sätze wegen habe ich dieses Buch übrigens richtig gern gelesen.

Das Problem ist, dass ein Handeln, das wir als Individuen für rational oder sogar moralisch halten, destruktiv wird, wenn es kollektiv geschieht. In seinem Buch beschreibt Ezra Klein, wie die US-amerikanische Politik zu einem toxischen System wurde, warum die Amerikanerinnen und Amerikaner daran teilnehmen und was das für die Zukunft des Landes bedeutet.

Ezra Klein zoomt dabei aus der Perspektive einzelner Individuen heraus und versucht, das Politsystem der USA als Ganzes in den Blick zu nehmen. Er schreibt: «Ich bin hier nicht auf eine Story aus, vielmehr möchte ich eine Blaupause erstellen, einen Wegweiser durch die Maschinerie, die politische Entscheidungen formt.» Damit unterscheidet er sich von der üblichen Politanalyse, die behauptet, die amerikanische Politik sei defekt, und das Problem sei, je nach Analyse, Geld, Political Correctness, die sozialen Medien oder Mitch McConnell. Diese Analysen versprechen, dass sich das System reparieren lasse, wenn man nur das schadhafte Teil repariere. Doch die Vergangenheit zeigt, dass es so nicht funktioniert.

Ezra Klein schreibt, das politische System der USA sei nicht irrational. Von den Wählern über die Journalisten bis hin zum Präsidenten besteht es aus rational denkenden und handelnden Akteuren, die in Anbetracht der Anreize, die ihnen geboten werden, rationale Entscheidungen treffen. «Wir sind eine Ansammlung funktionierender Teile, deren Bemühungen ein dysfunktionales Ganzes ergeben.» Das Problem ist also nicht ein diafunktionales Einzelteil, sondern das System als Ganzes. Klein schreibt: «Dass die schlimmsten Akteure so häufig die grössten Erfolge feiern, beweist nicht, dass das System kaputt ist, sondern vielmehr, dass sie begriffen haben, auf welche Weise es in Wahrheit funktioniert.»

Laut Klein ist die amerikanische Politik am besten zu verstehen, wenn man zwei Arten von Wissen miteinander verbindet, die sonst getrennt belassen werden: zum einen die unmittelbaren, realen Einsichten von Politikern, Aktivisten, Regierungsbeamten und anderen Personen, die Teil der politischen Berichterstattung sind, zum anderen die eher systemischen Analysen von Politikwissenschaftlern, Soziologen, Historikern und sonstigen Personen, die sowohl über die Zeit als auch die Methoden und Expertise verfügen, die amerikanische Politik in grossem Massstab zu untersuchen. Das Resultat dieser zweiäugigen Analyse ist: Die Ursache für all den Trennlinien und für das Verhalten der Beteiligten ist die Logik der Polarisierung. «Diese Logik lautet, einfach ausgedrückt, wie folgt: Um eine zunehmend polarisierte Öffentlichkeit anzusprechen, verhalten sich politische Institutionen und Akteure auf immer stärker polarisierte Weise. Und in dem Mass, wie sich politische Institutionen und Akteure polarisieren, verstärken sie wiederum die Polarisierung der Öffentlichkeit.» Die amerikanische Politik ist also in einem Teufelskreis gefangen.

Warum ist das so? Ezra Klein führt es darauf zurück, «dass alle, die sich mit amerikanischer Politik befassen, mit Identitätspolitik befasst sind.» Wer schreibt, alle Politik sei von Identität beeinflusst: «Identitäten sind dann am mächtigsten, wenn sie derart weit verbreitet sind, dass sie entweder unsichtbar werden oder als unumstritten gelten.» «Amerikanisch» ist so eine Identität oder «christlich». Wenn Politiker ihre Reden mit der Formel «God bless America» beenden, dann sei das keine religiöse Handlung, keine Bitte an eine höhere Macht. Es sei ein Appell an «unsere in Stein gemeisselten Identitäten».

Im ersten Teil seines Buches erzählt Ezra Klein deshalb davon, wie und warum sich amerikanische Politik im 20. Jahrhundert um Identität herum polarisierte und was diese Polarisierung für die Art und Weise bedeutet, wie Amerikanerinnen und Amerikaner die Welt und einander sehen. Der zweite Teil des Buches widmet sich den Feedbackschleifen zwischen polarisierten politischen Identitäten und polarisierten politischen Institutionen, die das politische System der USA immer tiefer in die Krise treiben. Ezra Klein klagt mit seinem Buch nicht an und er verurteilt nicht. Er versucht, der tiefen Trennung der USA auf den Grund zu gehen. Das gelingt ihm auf verblüffend einleuchtende Art und Weise. Seine Argumentation über Politik als Identitätspolitik und Polarisierung rund um Identitäten lässt sich auch auf Europa und die Schweiz anwenden. Ein äusserst spannendes und lehrreiches Buch.

Ezra Klein: Der tiefe Graben. Die Geschichte der gespaltenen Staaten von Amerika. Hoffmann und Campe, 384 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-455-01002-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455010022

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