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1000 Sprachen – 1000 Welten

Publiziert am 1. Mai 2025 von Matthias Zehnder

Es ist oft die Rede von der Biodiversität und wie wichtig es ist, die Vielfalt von Pflanzen und Tieren auf unserem Planeten zu erhalten. Weniger oft ist die Rede von der Diversität der Sprachen. Obwohl es über 7000 verschiedene Sprachen auf der Welt gibt, dominieren nur eine Handvoll Sprachen die Welt: Neben Mandarin und Arabisch sind es vor allem Englisch, Französisch und Deutsch – Sprachen, die alle denselben Ursprung haben. In seinem Buch untersucht Caleb Everett, wie Sprache unsere Wahrnehmung und unser Denken beeinflusst. Er zeigt, dass grundlegende Konzepte wie Zeit, Raum, Farben und Gerüche kulturell geprägt sind und durch Sprache ganz unterschiedlich interpretiert werden. Weil alle Erkenntnisse über das menschliche Denken aber auf Studien von und an Menschen aus westlichen, gebildeten, industrialisierten, reichen und demokratischen Gesellschaften beruhen, ist unsere Sicht auf den Menschen und sein Denken extrem einseitig. Caleb Everett nennt diese Sicht «weird» Das Akronym von «Western, educated, industrialized, rich, democratic» bedeutet auf deutsch «seltsam». So ist etwa keineswegs selbstverständlich, dass die Zukunft vor uns liegt und die Vergangenheit hinter uns. Everett zeigt in seinem Buch anhand von Beispielen etwa aus Sprachen, die im Amazonas-Gebiet gesprochen werden, dass es auch ganz andere Verständnisses von Zeit gibt – und das bedeutet, dass das Verständnis von Zeit nicht universell ist.

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Wenn Europäer oder Amerikaner gebeten werden, eine Serie von Fotos in chronologischer Abfolge anzuordnen, dann ordnen sie die Bilder horizontal an: Die Vergangenheit liegt links, die Zukunft rechts. Das entspricht unserer Schreibrichtung. Mandarin-Sprecher verwenden dagegen auch vertikale Metaphern: Vergangenheit ist oben, Zukunft unten. Auch das entspricht ihrer Schreibrichtung. Bei den Aymara in der Andenregion dagegen liegt die Vergangenheit vor ihnen, weil sie sie «sehen» können, die Zukunft liegt hinter ihnen, weil sie unbekannt ist. Einige Sprachen, wie Tupi-Kawahíb, haben kein Wort für «Zeit». Stattdessen wird Zeit durch andere Konzepte ausgedrückt. Das zeigt, dass das Verständnis von Zeit nicht universell ist. Sprache und kognitive Konzepte hängen eng zusammen: Die Sprachliche Vielfalt beeinflusst die Wahrnehmung von Zeit.

Das gilt nicht nur für die Zeit, sondern auch für die Raumorientierung. Während viele westliche Sprachen egozentrische Begriffe wie «links» und «rechts» verwenden, nutzen andere Kulturen geozentrische Orientierungssysteme. Die Guugu Yimithirr zum Beispiel sagen Dinge wie: «Die Tasse steht südlich von dem Teller.» Um sich verständigen zu können, müssen sie also immer wissen, wo Norden, Süden, Osten und Westen sind – sogar in Innenräumen oder bei Dunkelheit. Sie haben deshalb eine aussergewöhnlich präzise räumliche Orientierung entwickelt. Studien zeigen, dass sie selbst in unbekannten Landschaften ohne Kompass sofort die Himmelsrichtungen benennen können.

Dieser Zusammenhang zwischen Sprache, Wortschatz und kognitiven Fähigkeiten lässt sich in vielen Bereichen feststellen. So beeinflusst die Anzahl und Art der Farbbegriffe in einer Sprache, wie die Menschen Farben wahrnehmen und unterscheiden. Ähnlich verhält es sich mit Gerüchen: Einige indigene Sprachen verfügen über ein reichhaltigeres Vokabular für Gerüche als viele europäische Sprachen. In bestimmten Kulturen werden Tageszeiten nicht durch spezifische Begriffe, sondern durch den Stand der Sonne ausgedrückt. Dies zeigt, wie eng Sprache mit den Lebensweisen und Umweltbedingungen einer Kultur verbunden ist.

Caleb Everett kritisiert in seinem Buch, dass viele linguistische Studien sich hauptsächlich auf Sprachen aus westlichen, gebildeten, industrialisierten, reichen und demokratischen Gesellschaften, den «Weird-Gesellschaften» konzentrieren. Das führe zu einer verzerrten Sicht auf die sprachliche und kognitive Vielfalt weltweit und enge den Blick auf den Menschen und seine kognitiven Fähigkeiten ein. Everett betont in seinem Buch, wie wichtig die sprachlichen Vielfalt für unser Verständnis von menschlicher Kognition und Kultur ist. Er zeigt, dass Sprache nicht nur ein Kommunikationsmittel ist, sondern auch unsere Wahrnehmung und unser Denken formt oder mindestens beeinflusst.

Caleb Everett: 1000 Sprachen – 1000 Welten. Wie sprachliche Vielfalt unser Menschsein prägt. Westend, 320 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-86489-481-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783864894817

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/

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