Wir wollen den Tod überwinden und schaffen dabei das Leben ab.
Ewig, das ist ganz schön lang. Länger jedenfalls als jedes Leben hier auf Erden. Aus Sicht unseres Planeten sind wir alle nicht viel mehr als Eintagsfliegen. Viele Menschen träumen deshalb davon, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und ihr Leben zu verlängern. Nicht um ein paar Jahre, sondern auf ewig: Unsterblichkeit ist das Ziel. Im Silicon Valley machen Milliardäre ernst damit: Sie investieren Millionen, um dem Körper die Sterblichkeit auszutreiben. Sie verstehen den Tod als Krankheit, ja als Angriff auf das Leben. Einige von ihnen möchten den Körper gleich ganz abschaffen und den Inhalt ihres Gehirns auf einen Computer laden. «Mind uploading» heisst die Technik. Ich glaube, sie wollen den Tod auf Kosten des Lebens besiegen. Was meinen Sie?
Wer zur Welt kommt, muss sie irgendwann auch wieder verlassen. Schon in der Antike mahnten die Philosophen deshalb: Memento mori! Bedenke, dass du sterben musst. Der römische Dichter Horaz folgerte daraus: Carpe diem! Geniesse den Tag! Das Leben ist kostbar, weil es jederzeit zu Ende sein kann. Christian Morgenstern dichtete daraufhin spöttisch: «Heute ist heut! Après nous le déluge!» also: Nach uns die Sintflut! Ob ernsthaft oder spöttisch: Der Tod war und ist eine Herausforderung. Für manche gilt der Tod gar als die grösste Kränkung des Menschen. Heute sind wir noch das Zentrum unseres Universums, doch schon morgen gehören wir als Staub zum Staub. Wer sich selbst als König seiner eigenen Welt betrachtet, für den ist diese Vorstellung sehr unangenehm.
Viele Menschen sehen den Tod deshalb nicht als Ende, sondern als einen Übergang: als Beginn einer grossen Reise. Das Museum der Kulturen in Basel zeigt in der Ausstellung «Der Weg ins Jenseits» gerade, wie sich Menschen unterschiedlichster Kulturen diese Reise vorgestellt haben. Es ist geradezu rührend, mit welcher Detailversessenheit Menschen überall auf der Welt ihre Toten auf die letzte Reise vorbereiten.
Ewiges Leben dank Weihnachten
Um Weihnachten ist der Tod besonders präsent. Gläubige Christen feiern die Geburt von Jesus Christus, der als der Retter in die Welt kam, um die Menschheit zu erlösen und die Tür zum ewigen Leben wieder zu öffnen. Die Weihnachtsbotschaft lautet: Jesus bringt Licht in die Dunkelheit. Er besiegt den Tod durch Auferstehung, befreit die Menschen von ihren Sünden und erlöst sie damit. Jesus ermöglicht damit ewiges Leben, indem er uns von Tod erlöst.
Google-Chefingenieur Ray Kurzweil macht Jesus Konkurrenz: Er verspricht ebenfalls ewiges Leben, aber anders als der Prophet aus Nazareth. Die Bibel versteht die Auferstehung wörtlich: Der ganze Mensch wird erlöst, mit Haut und Haar. Also auch der Leib. Ray Kurzweil nimmt dagegen eine Abkürzung: Er will den Leib endlich loswerden. Für ihn ist ewiges Leben eine Speicherfrage.
Er geht davon aus, dass sich der Inhalt eines Gehirns bald auf einen Computer laden lässt. «Mind Upload» heisst dieses Konzept. Wenn das so ist, wenn sich die Gehirnfunktionen an einen Computer auslagern lassen, dann sind Geist und Bewusstsein des Menschen nicht mehr an seinen sterblichen Körper gebunden. Ray Kurzweil geht davon aus, dass es etwa 2045 so weit sein wird: Dann werden wir das menschliche Bewusstsein in einen Computer einspeisen können. Damit hätten wir in gut 20 Jahren so etwas wie virtuelle Unsterblichkeit erreicht.
Griefbots halten Verstorbene am Leben
Bis dahin lässt sich die ganze Sache schon mal mit KI simulieren: Griefbots sammeln die digitalen Spuren von Verstorbenen, also E-Mails, Social-Media-Posts, Videos und Fotos, und nutzen sie, um eine simulierte Version der verstorbenen Person zu kreieren. Mit der digitalen Person können die Hinterbliebenen chatten, als hätten sie eine Zoom-Sitzung mit ihren Liebsten. Griefbots sind bereits ein grosses Geschäft: Digital Afterlife Industry nennen Amerikaner die Branche.
Die Anbieter behaupten, dass die simulierten Toten es den Trauernden ermöglichen, dem Verstorbenen Dinge zu sagen, die man nicht mehr sagen konnte. Die Bots könnten zudem basierend auf den gesammelten Daten neue Geschichten erzählen und so den Hinterbliebenen neue Einsichten bieten. Das helfe dabei, den Verlust zu verarbeiten.
100 Nachrichten aus dem Jenseits für zehn Dollar
Mittlerweile gibt es gut ein halbes Dutzend Firmen, die solche Griefbots anbieten. Das Geschäft mit den Untoten floriert: Die Afterlife Industry soll im nächsten Jahrzehnt schon 80 Milliarden Dollar Umsatz machen. Im Diesseits, wohlverstanden. In China kosten massgeschneiderte Griefbots heute bis zu 13’000 Dollar. In den USA sind 100 Botschaften aus dem Jenseits schon für zehn Dollar zu haben – im 19. Jahrhundert waren Séancen sicher teurer. Psychologen warnen allerdings, dass die Simulationen die echte Trauerarbeit behindern oder sogar verhindern könnten. Ziel der Trauer sei es, sich an eine Welt ohne die geliebte Person zu gewöhnen und sie in Erinnerung zu behalten. Chatbots verhindern genau das: Man gewöhnt sich nicht an den Verlust und überschreibt die Erinnerungen an die echte Person mit simulierten Konversationen.
Die meisten Menschen, mit denen ich mich darüber ausgetauscht habe, schütteln den Kopf über diese Art der Lebensverlängerung. Blättern in einem Fotoalbum, alte Briefe lesen: ja. All die Daten zu künstlichem Leben erwecken: lieber nicht. Wir sind uns einig: Ein Mensch ist mehr als die Daten, die er hinterlässt.
Das Gehirn auf einem Chip
Weniger eindeutig reagieren die Menschen auf die Vorstellung von Ray Kurzweil. So ein «Mind Upload» wäre vielleicht doch etwas. Zumindest wäre es ein gutes Rezept gegen Arthrose, Gicht und Zahnausfall. Aber wäre ein «Mind Upload», ein Gehirn auf einem Chip, so viel mehr als ein plappernder KI-Bot?
Die harmlose Frage nach dem digitalen ewigen Leben führt erstaunlich rasch zur Grundsatzfrage: Was ist der Mensch? Sind wir nur unsere Daten? Bin ich mehr als das, was ich im Kopf habe? Im Französischunterricht habe ich das immer behauptet: Ich hab die Wörtchen schon gelernt, ich hab sie nur verlegt in meinem Hirn. Und wie um meiner Ausrede zu spotten, kam mir so manche Vokabel prompt wieder in den Sinn. Das Gehirn scheint doch etwas anders zu funktionieren als eine Festplatte.
Butterbrote und ein Kuss
Ganz zu schweigen von meinem übrigen Ich. Gehören meine Hände, meine Beine und, naja, mein Bauch nicht auch zu mir? Bin ich nur, was ich denke, oder gehört die Lust am Butterbrotestreichen mit dazu? Das Gefühl unbändiger Lebendigkeit, das entsteht, wenn man am frühen Morgen durch dunkle Eiseskälte joggt? Die Wärme, die einen bei einem Kuss durchflutet? Die Wohligkeit beim Lesen auf der Ofenbank?
Ray Kurzweil würde jetzt wohl sagen: Alles eine Frage der richtigen Stimulation. Wenn du das jetzt mit deinem Gehirn so empfindest, dann musst Du in fünfzig Jahren die Festplatte nur richtig stimulieren, schon zirpen die digitalen Neuronen ebenso. Aber braucht es nicht die Kälte, damit sich das trotzige Gefühl von Lebendigkeit einstellen kann? Ist ein Kuss nicht deshalb so bittersüss, weil er jederzeit enden kann? Muss ich nicht erst frieren, damit ich die Wohligkeit des Ofens empfinde? Und das zieht notgedrungen die Generalfrage nach sich: Ist das Leben nicht deshalb so kostbar, weil es so verletzlich und deshalb endlich ist?
Wir umgehen den Tod – und verpassen das Leben
Natürlich sagt sich das leicht. Wenn Gevatter Tod anklopft, werden wohl auch Helden zum Krämer und betteln um etwas mehr Leben. So war es schon in den griechischen Sagen und schon damals kam es selten gut heraus, wenn einer dieser Helden versuchte, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Trotzdem fürchte ich, dass das Sehnen nach Unsterblichkeit uns direkt in eine bittere Paradoxie führt: Auf der Suche nach Unsterblichkeit verpassen wir das Leben.
Das gilt ganz besonders für das digitale Afterlife, das virtuelle ewige Leben durch den «Mind Upload»: Ich fürchte, wir versuchen, den Tod zu überwinden, indem wir das Lebendigste an uns aufgeben – unsere Körperlichkeit. Und damit eng verbunden unsere Gefühle, die Intuition und Empathie. Nicht zufällig geht uns manches zu Herzen, lassen wir den Bauch sprechen oder strecken anderen Menschen die Hand aus: Gefühle sind an unseren Körper gebunden. Der Geist ist es vermutlich auch. Das macht die alte Weihnachtsbotschaft plötzlich ganz modern: Die Bibel verspricht nicht Erlösung vom Körper, sondern mit ihm.
Dazu gehört auch, dass das Leben nur im Moment stattfinden kann. Wir sind an diesen Moment gebunden – Ewigkeit verträgt sich damit schlecht. Denn ewig, das ist ganz schön lang.
Basel, 19.12.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen:
Bachinger, Frontend Author: Eva (2020): Streitthema Sterbehilfe: «Der Tod ist die größte Kränkung», in: Salzburger Nachrichten, 2020, https://www.sn.at/panorama/wissen/streitthema-sterbehilfe-der-tod-ist-die-groesste-kraenkung-art-379856 [19.12.2025].
Harari, Yuval Noaḥ (2018): Homo Deus: eine Geschichte von Morgen, übers. v. Andreas Wirthensohn, 13. Auflage, München 2018.
Hollanek, Tomasz; Nowaczyk-Basińska, Katarzyna (2024): Griefbots, Deadbots, Postmortem Avatars: on Responsible Applications of Generative AI in the Digital Afterlife Industry, in: Philosophy & Technology, 37,2, 2024, S. 63, https://link.springer.com/10.1007/s13347-024-00744-w [19.12.2025].
Kurzweil, Ray (2026): Die nächste Stufe der Evolution: Wenn Mensch und Maschine eins werden | Wie Futurist, Tech-Visionär und Google-Chef-Ingenieur Ray Kurzweil die Zukunft der Künstlichen Intelligenz sieht, übers. v. Sigrid Schmid, Moritz Langer, Jens Hagestedt, 1. Auflage, München 2026.
Seidel, Thomas A.; Kleinschmidt, Sebastian (Hgg.): Coram Deo versus Homo Deus: Christliche Humanität statt Selbstvergottung, 1st ed, Leipzig 2021 GEORGIANA 6.
Stapelfeldt, Ralf (2024): Transhumanismus, Mind Upload, Superintelligenz und Utopia, Berlin 2024.
Worth, Tammy (2025): Ready or not, the digital afterlife is here, in: Nature, 2025, S. d41586-025-02940-w, https://www.nature.com/articles/d41586-025-02940-w [19.12.2025].
7 Kommentare zu "Wir wollen den Tod überwinden und schaffen dabei das Leben ab."
Wer nicht sterben will, kann auch nicht leben: so einfach geht das. Alles andere ist ein Geschäft mit der Angst vor dem Tod.
„Was für eine tiefgehende Weihnachtsbotschaft”,
bestens geeignet zum Nachdenken vor dem Fest…
Vielleicht kann jemand der Bevölkerung in der Ukraine und im Gazastreifen mit Unterrichtshilfe zur Seite stehen?
Buon Natale!
Rudolf
Gaza ist zerstört. Und die Ukraine wird es wahrscheinlich auch noch. Von der Politik geopfert: für die todbringend kranken, wahrhaftig und wirklich Mächtigen unserer Welt. Dies ist meine unheilige ‚Weihnachtsbotschaft‘, Herr Kitzmüller. Und wie Sie dies wohl mit den ‚Unterrichtshilfen‘ meinen mögen?
Herr Keller,
Herrn Zehnders Wochenkommentar lautet:
„Wir wollen den Tod überwinden und schaffen dabei das Leben ab“.
Das zu verstehen, braucht es Unterrichtshilfe, wenn man in den von Krieg geschundenen Ländern
noch zuhause ist.“
Oder ist Herr Zehnder nur von uns
„noch Wohlbehüteten“, gedacht zu verstehen?
Danke Herr Kitzmüller, so verstehe ich Sie besser. Der Begriff ‚Unterrichtshilfe‘ driftet aus meiner Sicht in Richtung ‚Abrichten‘ oder ‚Zurichten‘: alles mehr oder weniger mit Gewalt verbunden!?
Herr Keller,
Da haben Sie mich aber falsch eingestuft!, ganz im Gegenteil, verherrliche ich keine, wie immer geartete Gewalt!
„Ab- und Zurichten“ würde ich eher bei einer Hundeschule verorten.
Ich glaube, wir haben uns auch im Sinn von Herrn Zehnders Wochenkommentar, doch noch irgendwie getroffen..
Scheene Suntig !
Geschätzter Herr Kitzmüller, ich habe Sie ganz und gar nicht so „eingestuft“, dass Sie brutale oder gar kriegerische Gewalt „verherrlichen“ würden. Was ich aber generell und mehrheitlich als ausgeblendet erfahre, ist, dass das Unterrichten im Rahmen von Schulen – verbunden mit einem Gebäudeanwesenheitszwang – implizit eine Art von sogenannt struktureller Gewalt beinhaltet und ein Ab- und Zurichten werden kann. Schlimm finde ich, dass und wie Schulen zur Erziehung in Kriegstauglichkeit verpflichtet werden.