
Was tun die Figuren eines Buchs in meinem Kopf?
Von Michael Ende stammt die wunderbare Frage: «Was tun die Personen in einem Buch, wenn es niemand liest?» Ich habe die Frage vor vielen Jahren in seinem «Zettelkasten»-Buch gefunden; seither spuckt sie in meinem Kopf herum. Deshalb hat mich auch der Roman von Andreas Eschbach angesprochen, den ich Ihnen diese Woche zur Lektüre empfehle: Er hat sich ausgedacht, wie das Leben der «Drei Fragezeichen» weitergegangen sein könnte: In seinem Roman sind die drei Teenager aus den Jugendbüchern Mitte Fünfzig.
Michael Ende hat seine Frage selber beantwortet: In «Die unendliche Geschichte» erzählt er, wie Fantásien von der Einbildungskraft der Menschen lebt. Wenn niemand liest, beginnen die Figuren zu verblassen. Das schwarze Nichts frisst sie auf. Sobald jemand ein Buch aufschlägt und in seinem Kopf die Figuren wieder zum Leben erweckt, kehrt auch Fantásien zum Leben zurück. Michael Ende hat auf diese Weise die Abhängigkeit der Figuren vom Leser (und vom Lesen) wörtlich genommen und daraus so etwas wie eine poetische Metaphysik gebaut.
Jorge Luis Borges beschreibt in «Die Bibliothek von Babel» («La Biblioteca de Babel») eine etwas düsterere Vision: Seine babylonische Bibliothek ist unendlich gross und enthält alle Bücher, die möglich sind. Es ist also eine Universalbibliothek. Die Figuren in den Büchern warten wie Gefangene im Dunkel der Seiten, bis sie durch die Augen eines Lesers erlöst werden.
Was das heisst, führt Italo Calvino in «Wenn ein Reisender in einer Winternacht» («Se una notte d’inverno un viaggiatore») vor Augen: In seinem Roman ist die Leserin, der Leser die Hauptperson, die er auch konsequent mit «Du» anspricht. Italo Calvino schildert, wie der Leser (also: Du) das Buch von Italo Calvino kauft, nach Hause trägt, auspackt und zu lesen beginnt. Die spannende Geschichte bricht unvermittelt ab – ein Fehler im Buch. Der Leser eilt in die Buchhandlung und verlangt ein anderes Exemplar. Das wiederholt sich insgesamt zehnmal. Im Laufe seiner Lektüre (man könnte auch sagen: seines Lebens) verliebt sich der Leser, er heiratet (eine Leserin) und wenn sie nicht gestorben sind, dann lesen sie heute noch. Italo Calvino macht auf diese Weise das Leben selbst zur poetischen Möglichkeit, zu einer verwirrenden Erzählung.

Die Geschichten von Michael Ende, Jorge Luis Borges und Italo Calvino erzählen also, wie wir das, was wir lesen, Wirklichkeit werden lassen. Cornelia Funke entwickelt daraus in der «Tintenwelt»-Tetralogie die Idee, dass Figuren aus Büchern herausgelesen werden können: Maggies Vater Mortimer Folchart (Mo) liest Staubfinger und die Bösewichte Capricorn und Basta aus Fenoglios Tintenwelt heraus.
Genau das tun wir alle beim Lesen: Wir holen die Figuren ins Leben – und sie bleiben in unseren Köpfen. Vielleicht erinnern Sie sich an Mo, den Vorleser. Dann ist er längst eine Figur in Ihrem Gedächtnis. Das bringt mich zur Frage, die mich seit Michael Endes «Zettelkasten» beschäftigt: Was tun die Figuren eines Buchs in meinem Kopf, nachdem ich es gelesen habe? Zweifellos haben wir alle viele Figuren im Kopf. Bei mir ist das eine bunte Truppe: von Old Shatterhand bis Stiller, von Heidi bis Anna Karenina. Runzeln Sie bitte nicht die Stirn über Old Shatterhand. Der war wichtig für mich, als ich in der zweiten Klasse war: Es war der einzige Held, den ich kannte, der stark war und Bücher las. Ich las damals nur Bücher und schöpfte daraus Hoffnung, auch einmal stark zu werden. Aber ich frage mich schon, wie sich Old Shatterhand in meinem Kopf mit Stiller verträgt. Und mit Gregor Samsa, Ravic, Hildegard Palm, Teresa und Tomas, Garp und vielen anderen. Und ich frage mich, was diese Figuren in meinem Kopf mit mir machen.
Seit Old Shatterhand in der zweiten Klasse mir Halt gab auf dem Pausenhof ist es selten geworden, dass eine Figur mir zum Helden wird. Es sind eher einzelne Aspekte, kleine Geschichten und Wesenszüge, die mir wichtig sind. Die mir so wichtig sind, dass ich sie mir zu eigen gemacht habe und sei es nur zu eigenen Erinnerungen.
Michael Ende hat beschrieben, was mit Fantásien passiert, wenn wir nicht lesen: Das Nichts breitet sich aus. Er hat nicht beschrieben, was passiert, wenn sich dieses Nichts in unseren Köpfen ausbreitet – oder wenn wir, wie es Mo mit Capricorn passiert, an die falschen Figuren geraten und sie sich in unseren Köpfen selbstständig machen. Seien Sie deshalb vorsichtig, was Sie lesen. Die Figuren werden sich in ihrem Kopf einnisten. Seien Sie vorsichtig – aber lesen Sie!
So viel für heute, mehr Wochenkommentar gibt es nicht, ich mache gerade eine kleine Herbstpause – auch um zu lesen. Alles Gute – und lesen Sie gut!
26.09.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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