Sind Sie systemrelevant?

Publiziert am 9. April 2020 von Matthias Zehnder

Ein böses Wort macht die Runde: «systemrelevant». Bezeichnet werden damit wichtige Berufe, etwa das Pflegepersonal, Verkäuferinnen und Verkäufer bei Coop und Migros, Polizei, Feuerwehr, Lastwagenfahrer. Sie dürfen, ja: sie müssen arbeiten. Wer nicht systemrelevant ist, soll zu Hause bleiben. Die systemrelevanten Menschen erbringen alle zweifellos eine grosse Leistung. Aber was ist mit allen anderen Berufen und Tätigkeiten? Sind Musiker und Confiseur, Ingenieurin und Philosophin, Gärtner und Coiffeure tatsächlich nicht relevant?

Der Regierungsrat des Kantons Zürich verpflichtet alle Gemeinden dazu, ein minimales Angebot für die Betreuung von Kindern sicherzustellen, damit Eltern, die in «systemrelevanten Berufen» arbeiten, weiterhin ihrer Arbeit nachgehen können. Deshalb schreibt die Bildungsdirektion des Kantons Zürich: «Krippen und Tagesfamilien müssen ihren Betrieb … aufrechterhalten, um insbesondere Eltern in systemrelevanten Berufen ihren Einsatz zu ermöglichen.»[1]

In der Schweiz gibt es für die systemrelevanten Berufe keine offizielle Definition. Die Zürcher Regierung zählt dazu Berufe in den Bereichen Gesundheit, Pflege und Altersbetreuung, Sicherheit, Verkehr, Energie- und Wasserversorgung, Entsorgung, Telematik, Reinigung und Logistik. Letztere umfasst die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern, öffentliche Verwaltung oder Institutionen mit einem öffentlichen Auftrag und Medien.[2] Kurz: systemrelevant ist, was lebensnotwendig ist. Alle anderen Berufe und Tätigkeiten scheinen mehr oder weniger verzichtbar zu sein.

Dabei fallen drei Dinge auf.

1) Warum sind diese Berufe so schlecht bezahlt?

Ausgerechnet die Berufe, die jetzt als systemrelevant bezeichnet werden, sind durchs Band schlecht bezahlt. Die «Republik» weist in einer Analyse darauf hin, dass die Löhne der Berufe in den Bereichen Gesundheits- und Sozialwesen, Verkehr/Logistik, Wasserversorgung / Abwasser- und Abfallentsorgung, Post und Kurier, Herstellung Nahrungsmittel/Getränke und Detailhandel in der unteren Hälfte der Schweizer Lohnskala angesiedelt sind. Ganz besonders gilt das für die Beschäftigten im Detailhandel. Dass die Lohnhöhe nichts mit der Ausbildung zu tun hat, zeigt die schlechte Entlohnung der Pflegefachkräfte.[3]

Man könnte vermuten, dass typische Frauenberufe schlechter bezahlt sind. Das trifft aber auf die Mitarbeitenden von Post und Kurierdiensten, der Abfallentsorgung oder von Verkehr und Logistik nicht zu. Ein zweiter Verdacht: Je technisierter eine Branche ist, desto höher sind die Löhne. Auch das trifft es nicht ganz – die Logistikbranche zum Beispiel ist stark technisiert. Die «Republik» vermutet einen anderen Zusammenhang: Je grösser die Wertschöpfung ist, die in einer Branche erzielt wird, desto höher sind die Löhne. Ein Börsenhändler ist in der Lage, in einer Stunde Millionengewinne zu erzielen – einem Pöstler, einer Pflegefachfrau oder einer Verkäuferin im Coop ist das nicht möglich.

Das führt zu der seltsamen Feststellung, dass systemrelevante Berufe unverzichtbar sind, sich aber nicht lohnen – und die Gesellschaft auf jene Berufe, die sich lohnen, locker verzichten kann.

2) Von welchem System ist da die Rede?

Das bringt uns zur Frage, von welchem System denn da die Rede ist. Ich kenne das Wort «systemrelevant» aus dem Kontext der Finanzkrise. Damals rettete der Staat die Banken, weil sie «systemrelevant» waren. Seither ist mir das Wort suspekt. Denn der Staat rettete damals nicht nur die Banken, sondern auch das System der Spekulation. Also jenes System, das die Banken (und in der Folge viele Staatsfinanzen) erst zum Einsturz gebracht hatten. Welches System retten heute die «systemrelevanten» Berufe? Die Rede ist von der Systemrelevanz für das staatliche Gemeinwesen und die Gesellschaft. Aber ist es wirklich sinnvoll, die Gesellschaft genauso zu erhalten, wie sie vorher war? Böte nicht die Krise eine Chance, sich von der Konsumgesellschaft zu verabschieden? Langsamer, nachhaltiger zu leben? Die anhaltenden Hamsterkäufe bei Coop und Migros deuten nicht darauf hin, dass viele Menschen sich darüber Gedanken machen. Vielleicht sogar im Gegenteil.

3) Was heisst da relevant?

Klar: Der Polizist und die Pflegefachfrau sind überlebenswichtig. Natürlich brauchen wir auch den Lebensmittelverkauf und die Wasserversorgung. Und wie die Stadt aussähe, wenn die Abfallentsorgung nicht arbeiten würde, mag ich mir nicht ausmalen. Aber leben wir dafür? Ich vermisse den Mann, der auf dem Münsterplatz aus einem Kübel die grossen Seifenblasen hervorzaubert. Ich hätte so gerne noch die Hopper-Ausstellung in der Fondation Beyeler besucht. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass es noch lange nicht möglich sein wird, Konzerte zu besuchen. Ich würde gerne mal wieder mit meiner Frau auswärts essen gehen.

Ja, ich bin den Frauen und Männern dankbar, die im Coop und in der Migros, im Universitätsspital und in der Apotheke arbeiten. Aber für mein Leben ist ein Museum und das Sinfonieorchester ebenso relevant. Freude am Leben verleiht mir nicht Polizei und Feuerwehr, sondern Musik, Bilder, ein gutes Essen mit Freunden, ein Blumenstrauss, ein frisch gebackenes Croissant. Es sind oft gerade die Dinge, die wir nicht unbedingt brauchen, die das Leben ausmachen. Marcel Reich-Ranicki beschreibt in seiner wunderbaren Autobiographie, wie die im Warschauer Ghetto eingesperrten Juden unter Lebensgefahr Konzerte, Theater und Lesungen veranstalteten. Manche verzichteten lieber auf Essen als auf die Musik. So weit möchte ich nicht gehen. Und doch. Relevant ist nicht nur das, was der Körper nötig hat. Gerade das sogenannt Unnötige macht das Leben aus. Denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Musik, Bilder, Theater, Literatur, gutes Essen, Blumen, Gespräche – für mich sind all diese Dinge genauso relevant.

Ich mag deshalb das Wort «systemrelevant» nicht. Ich spreche lieber von «lebenswichtig» – im Bewusstsein, dass auch Kunst und Kultur wichtig sind für das Leben. Gerade Kunst und Kultur.

Basel, 9. April 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: ©travnikovstudio – stock.adobe.com

[1] Vgl. Coronainformation der Bildungsdirektion des Kantons Zürich: https://bi.zh.ch/internet/bildungsdirektion/de/themen/coronavirus-informationen-fuer-die-schulen.html

[2] Vgl. «Tages-Anzeiger» vom 19. März 2020: «Gemeinden müssen Kita-Plätze zur Verfügung stellen», https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/gemeinden-muessen-betreuungsplaetze-fuer-kinder-zur-verfuegung-stellen/story/18501895

[3] Vgl. «Republik», 6. April 2020: https://www.republik.ch/2020/04/06/systemrelevant-und-schlecht-bezahlt

5 Kommentare zu "Sind Sie systemrelevant?"

  1. Lieber Matthias, du bringst es auf den Punkt. Eine meiner Töchter arbeitet als Pharmaassistentin. In den Apotheken sind sie teilweise am Anschlag, besonders wenn sie sowieso ein kleines Team sind. Und sie verdient nach 10 Jahren in demselben Geschäft, als langjährigste Mitarbeiterin, als diejenige, die mit einer Zusatzausbildung i.S. Pflege immer alle verarztet und Notfalleinsätze macht, grad mal so knapp, was eine Verkäuferin gemeinhin bekommt. Es braucht eine grosse Portion Engagement dazu und ich „lüpfe“ den Hut vor all denjenigen Damen und Herren, die hier tagtäglich einstehen und uns Kundinnen und Kunden nicht im Stich lassen.

  2. Menschen als „relevant“ zu klassieren entspricht der Würdelosigkeit einer neoliberalisierten Gesellschaft. Die Coronakrise bringt die «Immer-noch-mehr-Ballone» weltweit zum Platzen. Alles ist lahmgelegt. Und nachher wird nichts mehr so sein wie vor der Krise. Wer das wissen will, kann es wissen. Es sind bisher viel zu wenige. Viele scheinen verantwortungs-, werte- und würdelos weitermachen zu wollen wie vorher. Es wird aber nicht gehen. Auch mit noch so vielen Milliarden nicht.
    Wir stehen an einem Scheideweg. Anhalten. Innehalten. Die Stille hören und fühlen, was wirklich wichtig ist. Als Weltgemeinschaft einen andern, den richtigen Weg suchen. Diesen Weg gemeinsam finden und ihn dann zusammen gehen. Im Kleinen wie im Grossen. Mit Freude, mit Energie, mit Vertrauen: In eine Zukunft mit einem guten Leben für alle. Vielleicht ist es dafür noch nicht zu spät?!

    1. Antwort:
      Wir wissen ja, das heute immer alles schneller geht. Ganz frappant: Wenn man jetzt neu nicht genug schnell mit den Tasten seines Telefonapparates die gewünschte Telefonnummer eintippt, kommt schon das Besetztzeichen. Man muss nochmals auflegen und von vorne, aber ganz subito, nochmals die gewünschte Nummer eingeben. Sonst hat man verloren. Ich darf nicht an die vielen zittrigen Finger älterer Leute denken, welche bei jedem weiteren Versuch immer nervöser werden. Und ich darf nicht an die Wählscheibe zurückdenken, wo Zeit keine Rolle spielte. Dies alles kam mit der modernen Zeit, mit der IP-Telefonie (die ja in regelmässigen Abständen zuverlässig ausfällt).
      Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass heute ganz schnell beurteilt (verurteilt?) wird, was Relevant sei, was nicht, was wichtig, was unwichtig, was top und was mies.
      Dazu gehören auch die Ständer mit einem lachenden (grünen) Knopf und einem bösen (roten) Knopf in den Verkaufsgeschäften. Dort soll man beurteilen, ob der Verkäufer gut oder schlecht war. Innerhalb von ein paar Minuten sollte also die Kundschaft (ich) über einen Menschen urteilen, ob er eine „Granate“ sei oder eine „Lusche“. Diese Werte werden digital in die Geschäftsleitung katapultiert, wo die CEO’s wunderschöne Grafiken der einzelnen Verkaufsstellen anschauen können und bei schlechter Kurve sofort „eingreifen“ können. Für das sind sie ja bezahlt, fürs gucken und drucken…
      Tja, und jetzt – durch diese Virus-Krankheit – keimt in vielen die Hoffnung, dass es danach anders wird. Das alles anders wird.
      Gewiss, in denjenigen, welche solche Träume keimen, fühlen sich durchaus bestätigt. Oft leben sie ja (wie wir alle) eher mit Gleichgesinnten zusammen. Freunde, Bekannte, ja sogar die Familie denken ähnlich. Und auch medial wird oft dies konsumiert, was ähnlich tickt. Sei es im TV-Radio oder Internet. Auf You-Tube gibt es tausende deutschsprachige Kanäle, welche von der neuen Zeit, von neuen Werten und von einer neuen Zeitrechnung sprechen. Und je mehr man schaut, je noch mehr wird einem vorgeschlagen. Die bekannte Blase eben.
      Obwohl die Welt, die Schweiz endlich mal neue Werte gut gebrauchen könnte (Masshalten in Allem, Begrenzen des uferlosen Wahnsinns in Allem usw.) gebe ich diesen Hoffnungskeimen auch einen Dämpfer.
      Weil es eben auch noch die „andere Welt“ gibt. In der verkehre ich zwar auch weniger, bekomme sie aber durch Drittpersonen gut mit. Es wird gewartet, bis man endlich wieder fliegen kann. Denn „ohne einmal ans Meer im Jahr kann ich nicht leben“ – dieser Spruch hört man zur Zeit tausende male (so müssen wir als nebst den Corona-Verstorbenen auch bald mit „Nicht-ans-Meer-gehen-können“-Toten rechnen?) Tausende Menschen, die kribbelnd warten, bis all die Bergbahnen, die Hotels, die Badis, die Motorradgeschäfte, die Mercedes-Verkaufs-Suiten, die Grandits/Stuckis und Stückis wiedereröffnen, denn auch alle Statussymbole brechen jenen ja weg. Kein Juwelier für neue Klunker, kein Bashing beim Tempobolzen auf der Autobahn und schwierig an Harley-Davidson-Motorcycle-Ersatzteile zu kommen, welche gerade jetzt ihren Geist aufgeben. Sein Pferd nicht wochenendlich durch die ganze Schweiz karren und an Wettbewerben und Pferdeschauen präsentieren können. Kein neuer Pferdeanhänger (mit Klima) und kein neuer „SUV“-Bolide davor, der kraftvoll das eigene Vehikel-Gespann zieht.
      Kein Shisha-Bar-Laufsteg, keine Fitness-Center-Lounge um sehen und gesehen zu werden….
      All dies wird sehnsüchtlich erwartet und wird auch wieder kommen.
      Ich tendiere ebenfalls zu ersterem, zu Dankbar- und Bescheidenheit.
      Doch letzteres wird auch zurückkehren. Und beim Eid, mehr denn je.
      …………………………………………………………
      NB:
      Darf man in nächster Zeit auch mal wieder mit einem Corona-freien Wochenkommentar rechnen? Da in den Medien nur noch dieses eine Thema regiert, werden die Leser, Seher und Hörer langsam abgedroschen. Oft hört man, „dies ganze Zeug lese ich schon gar nicht mehr“. Man hat genug von der medialen Einseitigkeit. Und das ist gefährlich. Denn so werden wichtige Neuigkeiten darüber verblassen, aussortiert und nicht mehr ernst genommen. Deshalb an die Medienzunft: Es gibt so viele Dinge, über die es sich zu berichten lohnt, die Welt ist gross.
      Es birgt sonst die Gefahr der Abgebrühtheit, des „Nicht-mehr-ernst-nehmen“. Und dies wäre tödlich. In loser Reihenfolge habe ich Mailkontakt mit Dr. Matthias Ackeret, ehem. Radio-24-Reporter, Videojournalist bei TeleZüri und Tele24, Wochenkolumnist bei Radio 1. Autor von Sachbüchern (z.B. die Glückssucherin) und Romanen (z.B. Eden Roc) und Verleger und Chefredaktor des Branchenmagazins Persönlich (Print) und persönlich.com (Online), wo wir diesen Punkt auch schon thematisierten. (und der – Ackeret, nicht ich – auch mal ein prima Interview-Gast Ihrer „Menschen&Medien“ Kolumne abgäbe.
      Danke.

  3. Jeder Mensch der gut zu sich, seinen Mitmenschen und Umwelt Sorge trägt ist wichtig. Ist so zugehöriges Mitglied unserer Gesellschaft. Die Relevanz als sachbezogene Wichtigkeit ist meiner Meinung nach auf den Menschen angelegt müssig!

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