Schreiben im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz

Publiziert am 10. Oktober 2025 von Matthias Zehnder

1859 war sich Charles Baudelaire sicher, dass die «Kunst nichts anderes ist und sein kann als die genaue Wiedergabe der Natur». Er betont das, weil zu dieser Zeit eine neue Technik aufkommt: Die Fotografie bildet die Natur einfacher und genauer ab als jeder Künstler. Baudelaire spottet, die fotografische Industrie sei zur «Zuflucht aller gescheiterten Maler» geworden, der «Unbegabten und der Faulen». Die industrielle Bilderproduktion habe eine «allgemeine Überfütterung», eine «Verblendung und Verdummung» zur Folge. Tatsächlich schlug die Fotografie der Malerei ihre Aufgabe, die Welt abzubilden, aus der Hand. Die Kunstmaler reagierten darauf, indem sie nicht mehr das malten, was ihre Augen sahen, sondern das, was sie spürten und empfanden. So entstanden Impressionismus, Expressionismus und schliesslich die moderne, abstrakte Malerei. Heute stehen wir an einem ähnlichen Punkt: Die textgenerierende Künstliche Intelligenz erledigt, was früher nur Menschen konnten: Sie beschreibt, erklärt, argumentiert, fasst zusammen und formuliert auf Knopfdruck und in industriellem Massstab Texte. Welche Folgen hat das für das Schreiben? Wird ChatGPT jetzt zur «Zuflucht aller gescheiterten Autoren»? Muss sich das künstlerische Schreiben vom Transportieren von Informationen abwenden wie vor 150 Jahren die Malerei von der Wiedergabe der Natur? Wenn Maschinen besser Texte produzieren, was bleibt dem Schreiben?

Es war unerhört: 1839 erwarb Johann Baptist Isenring aus St. Gallen, ein damals bekannter Kunstmaler und Porträtist, eine Bildermaschine. Er kaufte bei Louis Daguerre in Paris eine Daguerreotypie-Kamera und avancierte zum ersten Schweizer Fotografen. Im August 1840 präsentierte er in seinem Atelier in St. Gallen die erste fotografische Ausstellung der Welt. Er zeigte Stadtansichten, Gemäldereproduktionen und 38 Porträts. Später wurde die Ausstellung in Zürich, München, Augsburg, Wien und Stuttgart gezeigt.

 

Weil die Bilder schwarzweiss waren, erfand Johann Baptist Isenring eine Kolorierungstechnik für Daguerreotypien, die er in den USA patentieren liess. Mit seiner Arbeit hat Isenring dazu beigetragen, die Kunstwelt zu erschüttern: Die Fotografie hat, je nach Sichtweise, die Kunst befreit – oder zerstört. Bis dahin hatte die Malerei die Aufgabe, die Wirklichkeit realitätsgetreu abzubilden. Noch 1859 schreibt Charles Baudelaire, Aufgabe der Kunst sei die «genaue Wiedergabe der Natur». Isenring bewies als erster, dass die Fotografie das besser konnte als jeder Kunstmaler.

Die Impression ersetzt die Wirklichkeit

Das war, schreibt Ernst Gombrich in seiner «Geschichte der Kunst», ein schwerer Schlag für die Erwerbsmöglichkeiten der Künstler: «Vorher hatte sich nämlich jedermann, der etwas auf sich hielt, wenigstens einmal im Leben malen lassen. Jetzt liess sich kaum jemand auf so eine lange Marter ein.» Die Fotografie zerstörte also die Lebensgrundlage vieler Kunstmaler. Gleichzeitig befreite die Fotografie die Kunst von der Verpflichtung, zu malen, was man sieht.

Das war eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung neuer Kunstrichtungen. Die Impressionisten rund um Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir und Camille Pisarro zeigen die Wirklichkeit nicht mehr, wie sie ist, sondern wie sie sie sehen. Damit steht nicht mehr das Wahrgenommene im Zentrum der Kunst, sondern das Wahrnehmen, der Eindruck. Die Impression ersetzt die Wirklichkeit. Vincent van Gogh geht etwas später einen entscheidenden Schritt weiter: Er drückt in seiner Malerei nicht mehr das aus, was er sieht, sondern das, was er empfindet. Das ist die Geburtsstunde des Expressionismus.

Die Wirklichkeit der Wahrnehmung

Damit wird auch deutlich: Der Verlust des Abbildes war nicht das Ende der Malerei, sondern der Anfang der modernen Kunst. Sie widmet sich nicht mehr der Wirklichkeit, die wir alle sehen, sondern der Wirklichkeit der Wahrnehmung und des Gefühls, später, etwa mit Edvard Munch, der Wirklichkeit der Angst und des Irrationalen, oder, mit Wassily Kandinsky, der Wirklichkeit der Musik. Die Erfindung der Fotografie hat die Kunst also befreit.

Walter Benjamin hat sich schon 1935 mit der Frage auseinandergesetzt, was mit Bildern passiert, wenn sie beliebig reproduziert werden können. In seinem Essay «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» beschreibt er die Folgen der neuen technischen Medien Fotografie und Film. Ein Gemälde hängt an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit. Benjamin schreibt: «Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.» Dieses « Hier und Jetzt des Originals» bezeichnet Walter Benjamin als «Aura». Er schreibt deshalb: «Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.»

Walter Bejnamin sagt deshalb, dass sich das Verhältnis des Menschen zum Kunstwerk grundlegend verändert: Kunst entwickelt sich von der kontemplativen Erfahrung zur konsumierbaren Erfahrung. Im Vordergrund steht nicht mehr die Einmaligkeit des Kunstwerks, sondern seine Verfügbarkeit.

Texte verlieren ihre Aura

Ich vermute, was im neunzehnten Jahrhundert Fotografie und Film für die bildende Kunst war, ist heute die textgenerierende KI für das Schreiben und die Sprache. Bis jetzt waren Sprache und Text das Resultat eines einmaligen Schreibakts einer Autorin oder eines Autors. In den Worten von Walter Benjamin: Jeder Text hatte eine Aura. Er war einmalig in Ausdruck und Stil, verkörperte eine Absicht und war an eine Zeit und einen Ort gebunden.

Die KI macht Text technisch nicht nur reproduzierbar, sondern beliebig produzierbar: Die Bots können unendlich viele Varianten eines Textes erzeugen, sie imitieren Stil, Stimme und Ton und simulieren Originalität, Eindruck und Gefühl. Damit verliert der Text seine Aura: Die KI mechanisiert die Sprache. Text wird zum blossen Output, zum Datenprodukt ohne Autorin oder Autor.

Text ohne Sprechakt

Für Leserinnen und Leser heisst das: Sie begegnen immer mehr Texten, die nicht mehr Ausdruck eines Menschen sind, sondern generische Artefakte. Texte ohne Aura. Der Linguist und Sprachphilosoph John Searle, der übrigens kürzlich gestorben ist, würde wohl sagen: Text ohne Sprechakt, also ohne menschliche Absicht und Intention.

Walter Benjamin sah die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks aber nicht nur als Verlust, sondern auch als Veränderung. Der Film macht Kunst massenhaft erfahrbar. Oder etwas freundlicher gesagt: Die Technik demokratisiert das kulturelle Erlebnis. Das könnte man ja auch von der Textproduktion durch die KI erhoffen: Die KI-Bots demokratisieren die Textproduktion. Jeder kann schreiben lassen. Vielleicht entstehen dadurch neue Formen des Schreibens: Die Textproduktion wird zum Dialog mit der Maschine, das Schreiben ein kollaborativer, interaktiver Prozess.

Neue Aufgaben für das Schreiben

Vor allem aber glaube ich, dass menschliches Schreiben sich neuen Aufgaben zuwenden muss. Wie die Fotografie die Malerei dazu gebracht hat, sich von der äusseren Wirklichkeit abzuwenden und sich der Wirklichkeit der Gefühle zu widmen, wird sich das Schreiben abwenden von der Reproduktion von Wissen und sich Neuem zuwenden. Aber was?

Ich vermute, im Zentrum werden künftig drei Aspekte stehen: Authentizität, Prozessualität und Erfahrung. Authentizität, weil Texte noch viel stärker zum echten Ausdruck eines Menschen werden müssen. Prozessualität, weil nicht mehr das Ergebnis des Schreibens, also der fertige Text, sondern das allmähliche Verfertigen des Textes, also das Schreiben selbst im Vordergrund stehen wird. Und Erfahrung, weil es nicht mehr um Text als Transporteur von Informationen, sondern um Text als unmittelbare Erfahrung geht.

Gespensterhafte Penelope

Genau das formuliert Dorothee Elmiger in ihrer neuen Erzählung «Die Holländerinnen»: «Tag für Tag, sagt sie, habe sie sich in den letzten Wochen vor ihren Laptop gesetzt und an diesem Vortrag gearbeitet, aber über Nacht sei ihr stets bedeutungslos geworden, was sie tags zuvor aufgeschrieben habe, und einer gespensterhaften Penelope gleich habe sie das am Vortag Gewobene immer wieder aufgetrennt.» (Seite 9)

Elmiger lässt die namenlose Schriftstellerin in ihrer Erzählung sagen, dass sich ihr Schreiben aufgelöst habe: «eigenhändig habe sie es, wenn man so wolle, in immer kleinere Teile zerlegt: Der Text, jeder Versuch eines Textes habe sich fragmentiert, sei zunehmend formlos geworden.» Das beschreibt recht genau das Vorgehen der KI, die nicht Texte als Ganzes entwirft, sondern das wahrscheinlich nächste Wort, ja die nächste Silbe berechnet.

Weiter schreibt Elmiger: «Sie selbst zumindest habe sich den Text in den Jahren, die sie schreibend verbracht habe, nie als Rettung, sondern vielmehr als Ausdruck einer irren, gellenden Lebendigkeit gedacht, einer Gegenwart, von der sie selbst ja ganz durchschossen sei.» (Seite 10)

Ausdruck einer gellenden Lebendigkeit

Das ist das, was ich mit Authentizität, Prozessualität und Erfahrung meine, den drei Dimensionen von Schreiben, die im Zeitalter der KI als einzige noch Bedeutung haben: Text als «Ausdruck einer irren, gellenden Lebendigkeit», wie es Elmiger ausdrückt, als Ausdruck «einer Gegenwart, von der sie selbst ja ganz durchschossen sei.» Von Gegenwart durchschossen: das ist die Präsenz im Jetzt. Nur in dieser Gegenwart ist Leben möglich.

Und das bedeutet auch: Schreiben als Widerstand. Als Aufbegehren gegen das Reibungslose, das maschinell funktionierende. KI-generierte Texte sind beneidenswert fehlerlos, grammatisch perfekt und damit auch glatt, ja seelenlos. Wenn ich schreibe, mache ich Fehler. Manchmal holpert es, mein Schweizerdeutsch dringt durch. Es sind die verbalen Pinselstriche, die auf meiner Sprachleinwand sichtbar bleiben.

Schreiben als Performance

Vor allem aber schlägt die KI uns Schreibenden das Informieren aus der Hand, wie die Fotografie einst der Malerei die Abbildung. Ich glaube, unsere Aufgabe wird künftig weniger das Informieren als das «Formieren» sein. Wenn die KI alles Sagbare perfekt ausdrückt, müssen wir uns um das Unsagbare kümmern. Wir müssen unser Ringen nach Worten spürbar machen. Expressiv, manchmal vielleicht dadaistisch stotternd, aber immer als «Ausdruck einer irren, gellenden Lebendigkeit».

Sprechen und Schreiben sind zutiefst menschliche Handlungen. Wir Schreibenden müssen sie wieder als Handlung begreifen, als Performanz wider die hohle Perfektion der künstlichen Sprachautomaten. Ziel des Schreibens wird also nicht mehr Textproduktion sein. Die industrielle Textproduktion wird in den Worten von Charles Baudelaire eine «allgemeine Überfütterung», eine «Verblendung und Verdummung» zur Folge haben. So, wie es beim Tanzen nicht um ein Ergebnis geht, sondern um den lebendigen Tanz im Augenblick, den Tanz als Performance, wird das Ziel des Schreibens deshalb künftig das Schreiben selbst sein. Schreiben als Ausdruck der lebendigen Gegenwart.

 Basel, 10.10.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

Bild: Das Werk «Flame» (Privatsammlung Alexejew-Brandl, Berlin) der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama in der aktuellen Ausstellung der Fondation Beyeler in Riehen, Freitag, 10. Oktober 2025.. (KEYSTONE/Andreas Becker)

Baudelaire, Charles Die Fotografie und das moderne Publikum (1859), https://www.hgb-leipzig.de/daniels/kunst-als-sendung/suche_n=44.html [10.10.2025].

Benjamin, Walter (2020): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 7. Auflage, Berlin 2020 Suhrkamp-Taschenbücher 4196.

Bocola, Sandro (1994): Die Kunst der Moderne: zur Struktur und Dynamik ihrer Entwicklung; von Goya bis Beuys, München New York 1994.

Elmiger, Dorothee (2025): Die Holländerinnen: Roman, München 2025.

Gombrich, Ernst H.; Gombrich, Ernst H. (1992): Die Geschichte der Kunst, Neubearb. und erw. Ausg., 5., durchges. Aufl, Stuttgart Zürich 1992.

 

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