Über die angemessene Reaktion des Rechtsstaates auf die Anschläge von Paris

Publiziert am 21. November 2015 von Matthias Zehnder

Die Fahrt von Paris nach Basel dauert mit dem TGV gerade mal drei Stunden. Luftlinie sind es nur etwas mehr als 400 Kilometer. Die Strecke Basel-Paris ist damit etwa gleich weit wie Basel–Düsseldorf. Hannover zum Beispiel, wo diese Woche das Länderspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden hätte stattfinden sollen, ist 150 Kilometer weiter weg. Kein Zweifel: Mit den Anschlägen von Paris ist der Terror vor unserer Haustüre angekommen.

Die Szenen in Paris waren entsetzlich. Kein Wunder, hat der französische Staatspräsident François Hollande den Krieg ausgerufen: den Krieg gegen den Terrorismus. Vor der Nationalversammlung im Schloss von Versailles hat Hollande eine bewegende Rede gehalten. Danach sind alle Abgeordneten aufgestanden und haben spontan die Marseillaise gesungen, das Kriegslied aus der Französischen Revolution. Sie liessen keinen Zweifel daran: Frankreich meint es ernst. Sie bescherten den Zuschauern am Fernseher Hühnerhautmomente.

Bloss: Ist das gut und richtig, was die französischen Politiker da tun? Ist es ein Vorbild für uns in der Schweiz, in Basel? Sollen wir auch den Krieg ausrufen gegen den Terror?

Bitte nicht. Es wäre falsch, auf den totalen Terrorismus mit totalem Krieg zu reagieren. Das ist die Totalitarismusfalle. Gegen den unbändigen Zorn der Dschihadisten hilft nur die kühle Vernunft des Rechtsstaates. Es ist deshalb höchst problematisch, wenn Hollande, indem er für drei Monate das Notrecht ausruft, genau diesen Rechtsstaat aushebelt. Er setzt damit nämlich jene Werte ausser Kraft, die eine demokratische Ordnung ausmachen. Das heisst nicht, dass der Staat nicht zuschlagen soll, wo er Terror ortet, so, wie das die französische Polizei diese Woche in Saint-Denis gemacht hat.

Die Terroranschläge sind keine strategisch gegen einen Staat geführten Schläge. Es sind rauschhafte, emotionale Anschläge, welche die Gefühle einer ganzen Gesellschaft destabilisieren wollen. Deshalb dürfen wir darauf nicht emotional reagieren und das grösstmögliche Leid, das die Terroristen verursachen wollen, mit grösstmöglicher Härte vergelten. In seinem letzten Buch, «Was ich noch sagen wollte», schreibt Helmut Schmidt: «Erstens erkennen die meisten Bürger gar nicht, wenn tatsächlich Gefahr droht; zweitens verfallen die meisten Bürger in Zeiten, in denen es stürmisch zugeht, schnell in einen kollektiven Rausch.»

In den Jahren nach den Anschlägen vom 11. September 2011 reagierten viele Amerikaner emotional: Sie verzichteten aus Angst vor einem Terroranschlag auf das Flugzeug und nahmen das Auto. Die Folge: Der Verkehr auf den Autobahnen nahm schlagartig um fünf Prozent zu, die Zahl der Verkehrstoten stieg um 1500. Die Amerikaner wollten der Terrorgefahr aus dem Weg gehen und übersahen dabei, dass der Strassenverkehr das viel grössere Risiko darstellt.

Dass Bürger sich berauschen, kann vorkommen. Der Staat aber darf es nicht. Er muss rational bleiben. Denn das ist die grösste Errungenschaft der Aufklärung: der vernünftige Staat. Die Aufklärung hat uns von der Willkür der Könige und Feudalherren befreit und an die Stelle des subjektiven Willens die Vernunft und das Recht gesetzt. Das Recht der Bürger.

Der Soziologe Max Weber unterscheidet zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, also zwischen einem Handeln, das sich, ungeachtet der Folgen, nach der Gesinnung, nach Werten, nach Prinzipien richtet, und einem Handeln, das die tatsächlichen Ergebnisse, ihre Folgen und ihre Verantwortbarkeit in den Vordergrund stellt. Terroristen sind Gesinnungstäter, die sich nicht um die Folgen ihres Tuns scheren. Wer den Terrorismus bekämpft, darf nicht denselben Fehler begehen und ebenso ruchlos einfach für eine andere Gesinnung kämpfen. Das Gegenprogramm zu Terrorismus ist ein verantwortungsethisches Handeln, das die Folgen des eigenen Tuns im Auge behält. Das gilt für den Einzelnen, aber ganz besonders für den Rechtsstaat.

Noch aus einem ganz anderen Grund ist Krieg das falsche Wort für den Kampf gegen den Terrorismus. Das Wort Krieg suggeriert, dass sich die Nation gegen einen äusseren Feind wehren kann. Frankreich hat denn auch sofort Kampfflugzeuge in Richtung Syrien geschickt. Das mag im Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien eine wichtige Massnahme sein, es dürfte Terroranschläge aber nicht unterbinden. Denn die meisten Terroristen von Paris sind in Frankreich aufgewachsen. Das ist kein Guerilla-Krieg des IS, es ist wohl zu einem rechten Teil Terror aus Frust über mangelnde Perspektiven. Das Mittel dagegen sind nicht Kampfflugzeuge, sondern Bildung und Einbindung in die Gesellschaft. Weil das so ist, dürfen wir nicht, von Emotionen angefeuert, einen Keil in unsere Gesellschaft treiben, sondern müssen im Gegenteil zusammen das alte Gebot der Aufklärung verfolgen: Nur Bildung bietet einen Weg aus der eigenen Unmündigkeit. Das gilt auch und gerade für das multikulturelle Basel.

Erschienen in der bzBasel vom 21. November 2015

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