Ein Computer macht noch keine Digitalisierung

Publiziert am 20. November 2020 von Matthias Zehnder

Die Coronakrise hat einen Digitalisierungsschub ausgelöst: Schule über Internet, Sitzungen per Videokonferenz – plötzlich sind Dinge möglich, gegen die sich noch vor wenigen Monaten die Institutionen gesträubt haben. Doch ein Computer macht noch keine Digitalisierung: Nur weil der Lehrer heute aus dem Bildschirm grüsst, heisst das noch lange nicht, dass die SchülerInnen sich dabei digitale Kompetenzen aneignen. Und nur weil die Sitzung per Zoom stattfindet, ist die Firma noch lange nicht digital. Es besteht im Gegenteil die Gefahr, dass viele Firmen und so manche Uni vor lauter digitaler Kanäle die Digitalisierung verpassen.

Das Bild ist unscharf, der Mann nuschelt, sein Gesicht ist halb abgeschnitten, im Hintergrund schläft eine Katze. Viele Schülerinnen und Schüler und alle Studentinnen und Studenten in der Schweiz kennen solche Bilder: Unterricht per Videokonferenz. Ähnliche Szenen spielen sich landauf und landab in Meetings statt: Per Zoom, Hangout oder Teams kommt man nicht nur mit Konferenzteilnehmern in Kontakt, sondern kriegt auch Einblick in ihre Wohnungen, lernt Familienmitglieder und Haustiere kennen. Das ist durchaus sympathisch und allemal effizienter, als maskierte Meetings in krampfhafter Distanz in einem Sitzungsraum.

Studium per Internet und Sitzungen im Katastrophenmodus – eigentlich funktioniert das ja erstaunlich gut. Trotzdem sollten sich Schulen, Universitäten und Firmen nicht zu viel darauf einbilden: Ein Computer macht noch keine Digitalisierung. Bloss weil die Chefin auf einem Bildschirm spricht, ist die Firma nicht digitalisiert. Dass die Studenten der Professorin auf Zoom folgen, heisst noch lange nicht, dass sie deswegen ihre digitalen Skills verbessern. Dazu gehört mehr als eine Webcam.

Zeitung vorlesen im Radio

In der Mediengeschichte war es immer so, dass neue Medien in einem ersten Schritt lediglich dazu benutzt wurden, die Inhalte der alten Medien zu übertragen. In den Anfängen des Radios lasen die Sprecher Zeitungsnachrichten vor. In den Anfängen des Fernsehens übertrugen die Sender Radioprogramme mit Bild. In den Anfängen des Internets füllten Zeitungen ihre Inhalte einfach ins Web ab. OK, das machen sie zum Teil heute noch, aber Sie verstehen, was ich meine: Neue Medien sind zunächst nur neue Kanäle für die alten Inhalte.

Die Videofassung des Kommentars gibt’s hier auf YouTube.

Und so verhält es sich auch mit der Digitalisierung in der Schule, an der Universität und im Geschäftsleben. Die Videokonferenz-Sitzung läuft genau gleich ab wie die Sitzung vor Corona im Sitzungszimmer, bloss wird sie per Zoom oder Skype übertragen – und ist deshalb ineffizient. Die meisten Vorlesungen an der Universität sehen auf Zoom oder Teams gleich aus wie im Vorlesungssaal und die Lehrpersonen im virtuellen Klassenraum verhalten sich gleich wie im realen Schulzimmer. Die Diskussionen drehen sich um die Nachteile der digitalen Werkzeuge, etwa die fehlende soziale Nähe oder das Fehlen von informellen Kontakten am Rand eines Vortrags. Dabei geht ganz vergessen, dass die digitalen Werkzeuge eigentlich grosse Vorteile bieten würden – man muss sie nur nutzen.

Schreiben kann ganz anders gehen

Nun haben wir eine Schock-Digitalisierung hinter uns. Da war es vielleicht gar nicht so schlecht, dass zu Beginn der Umwälzung im neuen Setting die altvertrauten Abläufe stattgefunden haben. So langsam wäre es aber an der Zeit, sich zu überlegen, wie sich diese Abläufe an die digitalen Möglichkeiten anpassen lassen. Technisch ist das keine Zauberei. Die entsprechenden Programme und Tools sind simpel und oft kostenlos. Ihre Nutzung setzt aber andere Fertigkeiten voraus und vor allem eine andere Kultur, als sie in den meisten Unternehmen gelebt und in der Schule gelernt wird.

Ich erkläre Ihnen an einem einfachen Beispiel, was ich meine: am Schreiben eines Textes. Einen Text schreiben zu können gehört zu den grundsätzlichen Fertigkeiten, die wir in der Schule lernen, an der Uni praktizieren und in den Unternehmen anwenden. Das Problem ist nur: Was wir unter einem Text verstehen und wie er zustande kommt, das ist tief in der analogen Welt verwurzelt. Wir alle haben in der Schule das Schreiben mit der Füllfeder auf Papier gelernt. Das führt dazu, dass wir einen Text sequenziell angehen: Wir beginnen mit dem Anfang und hören mit dem Ende auf. Anders geht es nicht, wenn man mit Füllfeder (oder Kugelschreiber) auf Papier schreibt. Und: Ein Text ist aus dieser Perspektive etwas, das wir beginnen und zu Ende führen. Ein Text ist also irgendwann fertig.

Kollaboratives Schreiben

In der digitalen Welt kann ein Text etwas völlig anderes sein. Zum Beispiel ist es oft sinnvoller, beim Schreiben mit dem Ende zu beginnen und den Anfang am Schluss zu schreiben. Ein Text kann problemlos von mehreren Autoren gleichzeitig geschrieben werden. Gleichzeitig heisst dabei nicht, dass Autor A den ersten Abschnitt schreibt, Autor B den zweiten und Autor C den dritten, sondern dass die drei Autoren gleichzeitig am selben Text arbeiten. Digitale Werkzeuge ermöglichen ganz neue Formen der Zusammenarbeit. Und: Es kann sein, dass der Text nie abgeschlossen wird, weil er zum Beispiel sich automatisch aktualisierende Daten enthält oder weil er fortgesetzt wird.

Wenn man einen Text nicht vorne beginnt und hinten aufhört, dann praktiziert man «nicht sequenzielles Schreiben». Wenn gleichzeitig mehrere Personen an einem Text arbeiten, dann ist das «kollaboratives Schreiben». Und wenn man Texte kreiert, die sich selber aktualisierende Elemente enthalten, dann könnte man von «datengetriebenem Schreiben» sprechen. Es sind drei Techniken, die zum kleinen Einmaleins in der digitalen Welt gehören, die vielen Studentinnen und Studenten aber zu Studienbeginn fremd sind – und den meisten Mitarbeitern von grösseren Firmen sowieso.

Der Genius ist das Problem

Ein Grund dafür ist unsere Kultur: In der Romantik wurde der schöpferische Genius erfunden. Damit ist das Werk als Leistung des Einzelnen ins Zentrum gerückt. Bis dahin waren auch künstlerische Werke oft die Leistung von Kollektiven. Maler wie Rembrandt oder Canaletto waren so produktiv, weil sie nicht alleine arbeiteten. Sie hatten Werkstätten, die vielleicht mit einer heutigen Gourmetküche vergleichbar sind. Wenn Tanja Grandits kocht, dann steht ihr Name für ihre «Werkstatt»: In ihrer Küche arbeitet eine Brigade von Spezialisten. Tanja Grandist kreiert «bloss» die Rezepte und kontrolliert die Leistung der Köche. So ähnlich war es wohl bei Rembrandt und Canaletto. Mit der Romantik ist diese kollektive Form der Arbeit bei uns in den Hintergrund gerückt. Im Zentrum steht der schöpferische Genius. Fertigkeiten, Zusammenarbeit und Tools werden ausgeblendet. Auch in Firmen ist oft die Leistung des Einzelnen wichtiger als die Leistung der Gruppe, der Abteilung oder der ganzen Firma.

Kurz: Wir sind alle darauf getrimmt, die Leistung des Einzelnen ins Zentrum zu rücken. Entsprechend schwer tun wir uns mit kollaborativen Ansätzen, wie sie in der digitalen Welt alltäglich sind. Ähnlich steht es um die nicht sequenzielle Arbeitsweise: Wir sind darauf getrimmt, eine Arbeit von A bis Z zu erledigen – weil das auf Papier nicht anders geht. In der digitalen Welt ist es oft sinnvoller, ganz anders vorzugehen. Nicht Schritt für Schritt, schön der Reihe nach, sondern assoziativ, entlang von Prioritäten, Ideen oder anderen Kriterien. Vor allem aber lebt die digitale Arbeitsweise vom Verknüpfen und Verbinden. Im Zentrum steht kein leeres Blatt Papier, sondern eine Datenbank, ein Spreadsheet oder ein Kanban-Board, also eine interaktive Aufgaben-Karte.

Es braucht bloss Ideen…

Das bedeutet: Damit wir den Nutzen von digitalen Arbeitsinstrumenten abschöpfen können, müssen wir auch die Arbeitsprozesse überdenken. Die schnellste Internetverbindung bringt nichts, wenn darüber dieselben Prozesse abgewickelt werden, wie sie in der analogen Welt üblich waren. Die gute Nachricht dabei ist: Das ist keine Frage von Investitionen, sondern eine Frage der Unternehmenskultur, von Ideen, Abläufen und Verhalten. Die schlechte Nachricht: Es ist oft einfacher, irgendeine neue Kiste zu kaufen als das Verhalten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu ändern. Diesbezüglich ist die Krise eine Chance: Wann, wenn nicht jetzt, ist der Moment, eingeschliffene Verhaltensweisen und Prozesse zu verändern? Sie brauchen nur die richtigen Ideen dafür…

Basel, 20. November 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Tipps: Werkzeuge

Tools, die neue Formen des digitalen Arbeitens ermöglichen, müssen nicht teuer sein. Folgende Programme sind, mindestens in der Basisversion, kostenlos und ermöglichen ganz neue Arten der Informationsverarbeitung:

Kollaboratives Schreiben: Google Docs ermöglicht es, dass gleichzeitig mehrere Menschen an einem Text oder an einer Tabelle arbeiten. Anders als bei der Überarbeitung eines Textes im Korrekturmodus von Word sind die einzelnen Beiträge dabei nicht notwendigerweise sichtbar. Es zählt nur das gemeinsam erzielte Resultat.
https://docs.google.com/?hl=de

Schreiben per Datenbank: Eine ganz neue Art, Informationen zusammenzutragen, bietet Notion. Eigentlich ist das eine Notiz-App. Anders als Evernote oder OneNote bietet Notion aber auch Möglichkeiten, wie sie sonst nur Datenbanken anbieten. Darüber hinaus lassen sich Informationen auf einfache Art und Weise mit einem Kalender oder einem Kanban-Board verknüpfen.
https://www.notion.so/


Quellen

Bild: ©kanashkin – stock.adobe.com

Ein Kommentar zu "Ein Computer macht noch keine Digitalisierung"

  1. Wir lügen uns an, wenn wir uns einreden, dass alles so weitergehen kann, wie bisher. Einen Wandel gibt es nicht nur beim Klima. So geht es grundsätzlich nicht mehr weiter. Und auch nicht mit noch so viel Digitalisierung. Und vor allem nicht mit immer noch mehr. Nicht mit dem Bauen und dem Verkehr, nicht mit dem Wachstum und der Wirtschaft, nicht mit den Grosskonzernen und der Hochfinanz, nicht mit der Schere zwischen Arm und Reich, … und auch nicht mit der Gier und der Rücksichtslosigkeit, mit der wir unsere Erde kaputt machen. Weiter so wie bisher, werden wir endlos scheitern. Und das auch ohne Corona. Nutzen wir die Chancen, die uns der Wandel bietet. Wir sind stark. Es gibt vor allem sehr viel zu lassen … und es kommt gut … wenn wir es tun.

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