
Pascal Nufer: «Das gesprochene verdrängt das geschriebene Wort immer häufiger.»
Das 331. Fragebogeninterview, heute mit Pascal Nufer, freier Journalist und Praxisdozent am Institut für angewandte Medienwissenschaft der ZHAW in Winterthur. Er sagt, die Anforderungen an künftige Journalist:innen seien heute «zuallererst technischer Art», von Text über Bild und Audio bis Video. «Das birgt die Gefahr, dass die ebenso wichtigen journalistischen Grundfertigkeiten in den Hintergrund rücken.» Fertigkeiten wie Recherchieren, Themen entwickeln, Storytelling, Nachhaken, kritisches Hinterfragen – «all diese handwerklich wichtigen Fähigkeiten haben heute in der Ausbildung weniger Raum, obwohl sie selbstverständlich nach wie vor wichtig sind.» Er selbst glaube nach wie vor an die Wirkung des geschriebenen Wortes. «Tatsächlich verdrängt aber das gesprochene das geschriebene Wort in der digitalen Welt immer häufiger auf den Beifahrersitz.» Auf TikTok und Instagram würden Texte «zur eigentlichen Krücke des Bewegtbilds» degradiert. Ein Problem sieht der darin, dass «die Gelder, die früher als Gegenleistung für Werbung in unsere Zeitungen, Radios und Fernsehsender flossen, bei den Tech-Konzernen in den USA landen». Er sehe deshalb «wenig andere Möglichkeiten, als eine Medienförderung neu zu denken.» Konkret nennt er eine «Lex-Google» oder eine «Lex-TikTok» nach dem Vorbild von Australien. Als Ausgleich engagiert er sich für einen Quartierladen in Winterthur: «Dieses Umfeld ist sozusagen mein natürlicher Algorithmus, der mich rausbringt aus der Medienbubble.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Es gibt noch einen linearen Radio-Moment in meinem Leben und der ist täglich um 7.00 Uhr morgens, wenn mich das Signet der SRF-News-Sendung «Heute Morgen» weckt. Zum Frühstück begleitet mich darauf das zweite Überbleibsel aus der Zeit der analogen Medien: Die immer dünner werdende Papierausgabe des «Landboten». Sie liegt meist bereits auf dem Esstisch, schon sichtbar durchgeblättert von den restlichen Familienmitgliedern, die vor mir das Haus verlassen. Das neuste mediale Produkt, das ich seit ein paar Wochen täglich mit grossem Interessen lese, ist der «Winti-Brief» der neuen digitalen Winterthurer Zeitung, «Winti.ch».
Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?
Twitter war für mich während meiner Korrespondentenzeit in Asien eine sehr wichtige Plattform für wertvollen Austausch. Ich war über lange Zeit auch selbst sehr aktiv, habe dies jedoch eingestellt, seit der Übernahme der Plattform durch Elon Musk. Meine Aktivität auf neuen Plattformen, wie «Threads» oder «Bluesky» ist sehr beschränkt. Am ehesten füllt hier LinkedIn die Lücke, es ersetzt jedoch den lebhaften und zeitweilig auch sehr humorvollen Austausch auf Twitter nicht.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
Seit meinem Einstieg in den Journalismus Mitte der 90er-Jahre hat sich technisch alles verändert. Ich begann als Printjournalist bei Lokalzeitungen im Thurgau, wechselte dann zum Radio und landete schliesslich beim Fernsehen. Das waren damals strikt getrennte Disziplinen: Print, Radio oder Fernsehen. Diese Trennung ist heute fast verschwunden, was ich auch in meiner Rolle als Journalismus-Dozent an der ZHAW deutlich sehe. Die Anforderungen, die an unsere Studierenden heute gestellt werden, sind zuallererst technischer Art. Es gehört zum Rüstzeug, dass sie schreiben, fotografieren, Audios verarbeiten und Videos produzieren können. Dies birgt die Gefahr, dass die ebenso wichtigen journalistischen Grundfertigkeiten in den Hintergrund rücken. Recherchieren, Themen entwickeln, Storytelling, Nachhaken, kritisches Hinterfragen, all diese handwerklich wichtigen Fähigkeiten haben heute in der Ausbildung weniger Raum, obwohl sie selbstverständlich nach wie vor wichtig sind.
Ich sehe auch positive Effekte, die durch die Veränderungen des medialen Alltags entstanden sind: Die Journalist:innen sind heute weniger Einzelkämpfer:innen, die im stillen Kämmerlein vor sich hinbrüten. Die Arbeit in einem Newsraum zwingt sie, kollaborativer zu arbeiten. Wenn wir unsere Geschichten für verschiedene Kanäle aufbereiten müssen, heisst das automatisch, dass wir in Teams zusammenarbeiten, unsere Recherchen teilen und unsere Produkte gemeinsam erarbeiten und erstellen.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Die reinen Zahlen sind erdrückend: Als ich zu schreiben anfing, gab es in meiner Umgebung im Thurgau fünf eigenständige Zeitungen. Heute gibt es im Thurgau keine Tageszeitung mehr, die nicht in der Hand eines der grossen Verlage ist. Die Medienvielfalt ist damit unbestritten kleiner geworden und das ist definitiv heute schlechter. Verbessert hat sich aber, dass die Redaktionen diverser sind, dass verkrustete Redaktionsstrukturen aufgebrochen wurden und der Umgangston unter Kolleg:innen deutlich angenehmer wurde. Durch neue Vertriebskanäle gibt es auch wieder Platz für innovative Projekte, wie zum Beispiel die bereits erwähnte neue neue Online-Zeitung «Winti.ch», bei der ich mich im Beirat engagiere.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Ich glaube nach wie vor an die Wirkung des geschriebenen Wortes. Tatsächlich verdrängt aber das gesprochene das geschriebene Wort in der digitalen Welt immer häufiger auf den Beifahrersitz. Das geschriebene Wort wird auf TikTok und Instagram zur eigentlichen Krücke des Bewegtbilds. Es ist zwar noch vorhanden, wird aber immer mehr nun noch zum Untertitel degradiert.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Der grosse Vorteil gegenüber früher ist für mich, dass ich heute nach dem «Landboten» gleich auch eine «New York Times» oder andere internationale Titel lesen kann. Ich bin seit Jahren ein grosser Fan des «Economist», der für mich ein Beispiel ist, wie ein Medium auch in zunehmend polarisierten Zeiten auf Kurs bleiben kann, indem es unaufgeregt guten Journalismus bietet.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Da habe ich gar keine Probleme damit, Bücher wegzulegen, wenn sie mich nicht packen. Das Leben ist zu kurz dafür.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Das geschieht glücklicherweise regelmässig auch noch in Gesprächen im Alltag. Zum Beispiel in unserem Quartierladen, in dem ich mich seit zwei Jahren stark engagiere. Dieses Umfeld ist sozusagen mein natürlicher Algorithmus, der mich rausbringt aus der Medienbubble.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Gedruckte Zeitungen wird es noch lange geben. Sie werden irgendwann vielleicht sowas, wie das Vinyl der News. Wie lange es sie allerdings noch täglich gibt und braucht, wage ich nicht zu prognostizieren. Ich höre auch Vinyl und Spotify parallel …
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Fake News sind wohl eine der grössten Herausforderungen für uns als Gesellschaft. Zwar sind sie so alt, wie die Menschheit, doch nie zuvor war es so einfach, falsche Aussagen in so grosser Geschwindigkeit und Masse zu verbreiten, ohne Hilfe der Medien. Damit hat sich die Verantwortung für uns Medienschaffenden ungemein erhöht: Die Sorgfaltspflicht bei unserer Arbeit gilt wohl so stark wie selten zuvor. Ob die «Medien» – und damit meine ich die Medienhäuser – diesen Ernst der Lage erkannt haben, bin ich mir nicht so sicher. Denn eigentlich könnte dieser Umstand eine Chance sein für die Absender «echter» News. Leider dominiert bei mir aber der Eindruck, dass dies nicht wirklich gelingt.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Fernsehen konsumiere ich kaum mehr linear. Ich nutze meist Apps dazu. Beim Radio beschränkt es sich auf mein bereits erwähntes Morgenritual. Die meisten anderen Inhalte höre ich als Podcast.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Ja, genau: Ich höre regelmässig das «Echo der Zeit» oder «News Plus» von SRF als Podcast. Viele weitere SRF-Formate, wie zum Beispiel «Sykora Gysler» oder ab und zu auch gerne True Crime Formate. Als Winterthurer blieb mir zum Beispiel die Serie «Himmelblau – Leben am Limit» von Patrizia Banzer und Sabine Meyer in sehr guter Erinnerung. Ein internationaler Hintergrund-Podcast, den ich regelmässig höre, ist die «Ezra Klein Show» der New York Times. Nebst den besten Analysen des Weltgeschehens, bietet sie auch immer wieder tolle Bücher- und Lesetipps.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Das bedeutet, dass wir sehenden Auges immer tiefer in eine Situation laufen, in der sich ein wachsender Teil unserer Bevölkerung nicht mehr dafür interessiert möchte, was um sie herum geschieht. Die Polarisierung wächst und damit auch die Gefahr, dass ein wachsender Teil abhängt und sich nicht mehr gehört fühlt. Ich habe selbst zwei Kinder, meine Tochter ist soeben erwachsen geworden und gehört wohl zu diesen News-Deprivierten. Obwohl sie kaum noch Nachrichten konsumiert, interessiert sie sich aber für gesellschaftliche Fragen und hat somit noch nicht abgehängt. Ich denke, wir müssen die Ursachen genau ergründen und den Austausch mit dieser wichtigen Generation weiter suchen und pflegen, sie einbinden und uns überlegen, welche Rollen Medien in ihrem Leben spielen sollen.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Ja, ein Teil des Journalismus lässt sich tatsächlich gut automatisieren, aber eben nur ein Teil. In einer idealen Welt würde damit mehr Platz frei für den Teil, in dem Menschen wichtig sind und in dem die erzählende Person eine Rolle einnimmt, sei es als Rechercheurin, Erzählerin oder manchmal auch als Absender einer Haltung.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Das Verhältnis zwischen Medien und Journalismus ist in einem grossen Umbruch. Publizist Roger de Weck schreibt in seinem Buch «Das Prinzip Trotzdem», dass wir den Journalismus vor den «Medien» retten sollten. In seiner Aussage schwingt ja genau diese Trennung der Hülle und der Disziplin mit. Ich glaube, dass der Journalismus auch in digitalen Zeiten und digitalen Verbreitungsformen eine Hülle brauchen wird, die es den Konsumierenden erleichtert, den Absender zu kennen. Ob die Rolle der Medien künftig mehr die Rolle eines journalistischen «Gütesiegels» sein kann, wäre zu diskutieren und vielleicht eine Chance für eine neue Koexistenz zwischen Medien und Journalismus.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Solange die Gelder, die früher als Gegenleistung für Werbung in unsere Zeitungen, Radios und Fernsehsender flossen, bei den Tech-Konzernen in den USA landen, sehe ich wenig andere Möglichkeiten, als eine Medienförderung neu zu denken. Vielleicht wäre aber gerade jetzt, wo über Zölle verhandelt wird, der Zeitpunkt da, auch einmal die Frage zu stellen, wie weit es denn legitim ist, dass Suchmaschinen aus den USA die Werbegelder von KMU’s schlucken, die früher unsere Lokalzeitungen mitfinanzierten. In Australien, wo Google, Meta und Co. schon länger politisch herausgefordert werden, müssen internationale Plattformen seit diesem Jahr eine Abgabe an lokale Medienhäuser entrichten, wenn sie deren Inhalte verbreiten. Vielleicht wäre ja nach der «Lex Netflix» auch bei uns die Diskussion um eine «Lex-Google» oder eine «Lex-TikTok» langsam fällig.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Lange Texte schreibe ich seit langem nicht mehr von Hand, da ich oft meine eigene Schrift nicht mehr lesen kann. Ich bin aber ein «Post-IT-Junkie» und schreibe Gerüste für Texte, Story-Boards oder Konzepte nach wie vor gern zuerst auf Zettelchen und da ist die Handschrift – auch als Krakel – das beste.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Don’t get me started … Dieses Fass mach’ ich jetzt nicht auch noch auf.
Wem glaubst Du?
Ich glaube niemandem in vollem Umfang, aber ich schenke gern Menschen Glauben, die mir authentisch und nachvollziehbar ihre Version eines Erlebnisses und einer Schlussfolgerung schildern. Wenn solche Schilderungen auch wissenschaftlich und historisch einigermassen Sinn ergeben, wächst selbstverständlich auch für mich die Glaubwürdigkeit.
Dein letztes Wort?
Ich habe über 15 Jahre in Ländern gelebt und über Länder berichtet, in denen Journalismus in seiner eigentlichen Form nicht mehr existierte. Davon sind wir zum Glück weit entfernt, umso mehr müssen wir Rahmenbedingungen schaffen, die es ermöglichen, dass die Medien die Rolle, die ihnen zusteht, auch wahrnehmen können und damit ihren gesellschaftlichen Mehrwert auch leisten.
Pascal Nufer
Pascal Nufer (50) arbeitet als freier Journalist und unterrichtet als Praxisdozent am Institut für angewandte Medienwissenschaft der ZHAW in Winterthur. Bei der SRG betreut er Projekte zur Förderung der Nachrichten- und Medienkompetenz an Schulen und öffentlichen Einrichtungen. Er lebte und arbeitete von 2004 – 2011in Bangkok als freier Asienkorrespondent für diverse Medien im deutschsprachigen Raum (unter anderem für SRF, NZZ, «Blick», WOZ und die «Deutsche Welle»). Von 2013 bis 2019 war er China- und Ostasienkorrespondent für das Schweizer Fernsehen in Schanghai. Pascal Nufer ist Vater zweier Kinder und lebt mit seiner Familie in Winterthur. In seiner Freizeit engagiert er sich für den Erhalt eines Quartierladens im Inneren Lind in Winterthur.
https://www.pascalnufer.ch/
Basel, 30.04.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: zvg
Seit Ende 2018 sind über 300 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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