Corinna Virchow: «Die Digitalisierung journalistischer Inhalte steckt noch in den Kinderschuhen.»

Publiziert am 10. September 2025 von Matthias Zehnder

Das 350. Fragebogeninterview, heute mit Corinna Virchow, Gründerin des Wissensmagazins «Avenue». Sie beginnt den Tag mit SRF Meter – als Informationsgrundlage für die Tagesgestaltung mit vier Kindern. Für gedruckte Tageszeitungen sieht sie eine gute Chance, «vorausgesetzt, sie beginnen, junge Menschen ernst zu nehmen, auch wenn es sich zunächst nicht bezahlt macht.» Zeitungen aus Papier findet sie wunderbar: «Zeitungen duften, rascheln, können super aussehen, sind vintage und nicht allzu teuer – perfekt also für ein junges Publikum.» Sie findet den Begriff «News-Deprivierte» problematisch, weil er einen «Zustand der Entbehrung» bei Jugendlichen suggeriere. «Doch wenn junge Menschen keine News im herkömmlichen Sinne nutzen, sollte nicht vorschnell geschlussfolgert werden, dass es ihnen an Informationen fehlt.» Sie hätten vielleicht schlicht andere Wissensbedürfnisse als ihre Grosseltern. «Womöglich kolportieren ‹News› Ereignisse, die für Versicherungen, Börsen, Unternehmen, allenfalls für die Politik relevant sind. Doch 19-Jährige können nur ihre Auswirkungen erdulden und kaum etwas beeinflussen.» Die Digitalisierung journalistischer Inhalte stecke noch in den Kinderschuhen. «So wie der Buchdruck sich zunächst an der Handschrift orientierte, bevor er seine eigenen Formate erzeugte, muss sich der digitalisierte Journalismus vom gedruckten Blatt lösen und zu eigenen Formen finden.» Eine grosse Chance sei «Scrollytelling»: Das erlaube «bewegte Bilder im Tempo der Betrachter:in.» Sie selbst tüftelt am nachfragebasierten Wissenschafts-Journalismus.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

SRF Meteo. Frühstück mit vier Kindern ist Tages-Briefing: Wir müssen wissen, wer wann wieder und mit wie vielen Freund:innen heimkommt. Und, ob Strumpfhosen-Wetter ist.

Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?

Ich nutze insbesondere LinkedIn.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Ich bin von der Zeitung auf die Zeitschrift gekommen.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Früher war einfach anders.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Worte aufzuschreiben, scheint mir nach wie vor das beste Mittel, ihnen Zukunft zu verleihen.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Vielleicht von E.T.A. Hoffmann «Der Sandmann». Unerwartet aktuell in Hinblick auf das Verhältnis Mensch-Künstliche Intelligenz.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Falls ich ein Buch nicht weglegen kann, obwohl es schlecht ist, lese ich das Ende.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Insbesondere im Austausch mit meinem Mann und partner in crime Mario Kaiser.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich sehe eine gute Chance für Tageszeitungen – vorausgesetzt, sie beginnen, junge Menschen ernst zu nehmen, auch wenn es sich zunächst nicht bezahlt macht. Zeitungen duften, rascheln, können super aussehen, sind vintage und nicht allzu teuer – perfekt also für ein junges Publikum.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Fake news sind eine raison d’être für den Qualitätsjournalismus.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Es findet ausserhalb meiner Lebenszeit statt.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Leider nein. Wenn ich arbeite, dann im Stillen, wenn nicht, dann haben andere das Geräuschmonopol.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Der Begriff «News-Deprivierte» suggeriert, dass Menschen, die keine durch klassische Medien aufbereiteten News konsumieren, sich in einem Zustand der Entbehrung befinden. Doch wenn junge Menschen keine News im herkömmlichen Sinne nutzen, sollte nicht vorschnell geschlussfolgert werden, dass es ihnen an Informationen fehlt. Offensichtlich vertrauen sie anderen Quellen und haben andere Wissensbedürfnisse als ihre Grosseltern. Womöglich kolportieren «News» insbesondere Ereignisse, die für Versicherungen, Börsen, Unternehmen, allenfalls für die Politik relevant sind. Doch 19-Jährige können nur ihre Auswirkungen erdulden und kaum etwas beeinflussen. Ich denke, es ist an der Zeit, nachzufragen, womit sich die nachrückende Generation zu beschäftigen gedenkt – und hier nachzuliefern.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

LLMs sind Sprachmodelle. Sie haben keinen Zugang zur Welt, kennen kein Aussen, können nicht bezeugen, was nicht schon digitalisiert ist. Was sollte der Mehrwert sein von glatten, statistisch wahrscheinlichen Wortfolgen, die sich Leser:innen mithilfe von LLMs zu jedem beliebigen Thema auch selbst zusammenstellen lassen könnten? Journalismus lässt sich abschaffen. Automatisieren lässt er sich nicht.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch. Doch ich denke, die Digitalisierung journalistischer Inhalte steckt noch in den Kinderschuhen. So wie der Buchdruck sich zunächst an der Handschrift orientierte, bevor er seine eigenen Formate erzeugte, muss sich der digitalisierte Journalismus vom gedruckten Blatt lösen und zu eigenen Formen finden. Eine grosse Chance besteht darin, dass digitale Formate die Nutzer:in journalistischer Inhalte als Akteur:in ernstnehmen können. Scrollytelling erlaubt bewegte Bilder im Tempo der Betrachter:in. Wir selbst tüfteln am nachfragebasierten Wissenschafts-Journalismus.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja, eine ernsthafte, neugierige, explorative, an jungen Menschen interessierte Medienförderung. Mit genug Atem.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Nicht so schön, aber jeden Tag.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Schlecht. Die Pressefreiheit wird durch die Regierung Trump aktiv beschnitten. Und die Kakophonie der falschen, provokanten, dummen Äusserungen – und auch die Empörung darüber – übertönen jede sorgfältige Auseinandersetzung mit einem Thema.

Wem glaubst Du?

Am liebsten glaube ich Menschen, die zweifeln.

Dein letztes Wort?

Habt Mut!


Corinna Virchow
Corinna Virchow ist Germanistin und hat über den männlichen Blick auf Frauenfiguren im Artusroman doktoriert. Mit Mario Kaiser hat sie die populärwissenschaftliche Zeitschrift «Avenue Magazin für Wissenskultur» und die Wissensplattform «savoir public» gegründet. https://avenue.jetzt/


Basel, 10.09.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Bild: privat

Seit Ende 2018 sind über 330 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

Wenn Sie kein Fragebogeninterview verpassen möchten,  abonnieren Sie meinen Newsletter.

  • Das neue Fragebogeninterview
  • Hinweis auf den Wochenkommentar
  • Ein aktueller Sachbuchtipp
  • Ein Roman-Tipp

Nur dank Ihrer Unterstützung ist das Fragebogeninterview möglich. Herzlichen Dank dafür!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.