Andreas Von Gunten: «Ich verabscheue Boulevard-Journalismus zutiefst.»

Publiziert am 28. Mai 2025 von Matthias Zehnder

Das 335. Fragebogeninterview, heute mit Andreas Von Gunten, Internet-Unternehmer, SP-Politiker und Co-Präsident von dnip.ch. Er sagt, für ihn sei das Internet «bis heute das grösste Geschenk. Es gibt nichts mehr, was ich nicht erkunden kann, wenn es mich interessiert.» Es gebe Quellen der Inspiration und jeden Augenblick etwas zu lernen: «Wie fantastisch ist das denn?» Dagegen verabscheut er auch und gerade im Internet jenen Journalismus, der nur auf Aufmerksamkeit aus ist: Das sei «die zersetzende und zerstörende Kraft in unserer Gesellschaft», es sei «der ultimative Ausdruck eines Kapitalismus ohne Moral, von Geld ohne Geist». Er sagt deshalb: «Solange sowohl die klassischen Verlagskonzerne als auch die grossen Plattform-Anbieter ihr Geld damit verdienen, dass sie die Aufmerksamkeit der Rezipient:innen verkaufen, so lange wird es auf diesen Kanälen News geben, die nicht aufgrund ihres Wahrheitsgehalts oder ihrer Relevanz publiziert und verbreitet werden, sondern aufgrund ihrer Monetarisierbarkeit.» Ein Problem sieht er im Einfluss der Verleger auf die Politik: «In der Medienpolitik herrscht seit Jahren Stillstand, weil wir uns von den Verlagskonzernen, die alles daran setzen, dass alles beim Alten bleibt, auf der Nase herumtanzen lassen.» Er findet deshalb: «Wenn die Verleger durch die Digitalisierung obsolet werden, ist das für den Journalismus definitiv eine Befreiung.» Er setzt deshalb darauf, dass mehr Menschen selber schreiben, podcasten oder Videos publizieren: «Je mehr Menschen das tun, desto vielfältiger wird die Gedankenwelt der Menschheit digital abgebildet.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Mein Morgen beginnt mit den Nachrichten von SRF. Je nachdem, wenn ich nach der vollen Stunde aufwache, höre ich mir die letzte Ausgabe an und wenn ich kurz vor der vollen Stunde aufwache, warte ich dösend auf die nächsten Nachrichten. Danach gibt es einen ersten Kaffee und ich lese die abonnierten E-Paper-Ausgaben der NZZ, des «Tages-Anzeigers» und der «Aargauer Zeitung» sowie den Feed des «Republik»-Magazins. Seit ich nicht mehr im Gemeinderat in Kölliken bin, lasse ich das Zofinger Tagblatt wieder weg. Danach einen Blick auf die Websites der «New York Times», den «Spiegel Online», «The Information», «The Atlantic» und «Politico». Vor ein paar Monaten habe ich, ausgelöst durch die Diskussion um die zunehmende News-Deprivation, ein Experiment gestartet, um herauszufinden, ob mir wirklich etwas fehlt, wenn ich auf diese News verzichte. Ich hatte noch keine Zeit darüber zu berichten, aber ich kann hier schon mal verkünden, dass ich mittlerweile wieder zurück bin und meinen News-Konsum wieder auf das alte Niveau eingestellt habe.

Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?

Ich nutze alle diese Plattformen regelmässig. Bei YouTube schaue ich abends vor dem Einschlafen in der Regel noch ein paar Videos zu den neuesten Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz, aber auch interessante Videos zu Pop-Song-Analysen, Philosophie, internationaler Politik, usw. Hier überwiegend Videos von Menschen aus dem angelsächsischen Raum. Deutschsprachige Kanäle sind mir oft zu seicht. Natürlich gibt es Ausnahmen. TikTok für zwischendurch. Auch hier lerne ich bei ziemlich jedem Video jeweils sehr viel. Ich möchte insbesondere für YouTube und TikTok eine Lanze brechen. Diese Plattformen sind ein Segen. Sie erlauben es, jeder noch so kleinen Nischen-Community ihre Inhalte zu publizieren und sie ermöglichen unglaublich vielen Menschen Zugang zu Wissen, die sonst keine Chancen hätten. Das trifft auch für die anderen Social-Media-Plattformen zu. Sie bieten, wie das Internet insgesamt, vor allem emanzipatorisches Potenzial. Natürlich gibt es Probleme, aber die gibt es mit jedem Medium. Dass die Social Media so einen schlechten Ruf haben, liegt vor allem daran, dass die klassischen Medien fast nur negativ darüber berichten. Und das wiederum hat damit zu tun, dass sich sowohl die Verlage, wie auch teilweise die Journalist:innen bedroht fühlen. Das Internet und insbesondere alle Plattformen und Phänomene, die endlich das verwirklicht haben, was Bertolt Brecht sich in seiner Radiotheorie gewünscht hat: die Möglichkeit, als Medienkonsument:in auch zur Produzent:in zu werden. Das wurde von den klassischen Medien von Anfang an mit Argwohn begleitet. Das Internet und die Social Media sind um Welten besser als ihr Ruf und die meisten Menschen wissen das aus ihrer eigenen Erfahrung. Die zumeist negative Berichterstattung über das Internet und die Social-Media-Plattformen entspricht nicht den Erfahrungen, die die Menschen damit machen.

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Ich konsumiere viel mehr Medien als damals. Wir hatten in unserer WG ein gemeinsames Tages-Anzeiger-Abo. In meinem Elternhaus gab es gar keine Zeitung. Im Wohnblock, wo wir gewohnt haben, als ich noch bei den Eltern gewohnt habe, wurde entweder das «Vaterland», der «Blick» oder «Der Freischütz» gelesen. Ich bin also ziemlich News-depriviert aufgewachsen, wenn man so will. Trotzdem bin ich mit 19 Jahren politisch aktiv geworden, was damals eher selten war. Mein News-Konsum wurde eigentlich nur durch die Verfügbarkeit von Geld eingeschränkt. Ich konnte mir jedes Wochenende gut und gern jeweils den halben Kiosk zusammenkaufen. «Geo», die «Weltwoche», die «Zeit», die WOZ, «Du», «Merkur», den «Spiegel», die «Handelszeitung», «Tempo» (ja, sorry 🫣, Jugendsünde), «Focus», «Facts», »Cash», usw. den «Falter» aus Wien hatte ich sogar für ein paar Jahre abonniert. Es gab kaum etwas Schöneres, als den Sonntagmorgen mit dem Lesen dieser Medien zu verbringen.
Als dann das Internet plötzlich verfügbar wurde, war und ist das bis heute für mich das grösste Geschenk. Es gibt nichts mehr, was ich nicht erkunden kann, wenn es mich interessiert. Es gibt jede Sekunde tausend Quellen der Inspiration. Es gibt jeden Augenblick etwas zu lernen, es gibt mit jeder Quelle die Möglichkeit, sich mit anderen Menschen zu verbinden. Wie fantastisch ist das denn? Ich kann nicht verstehen, dass man dieses unendliche Glück nicht sehen kann. Als Jugendlicher habe ich auch ein CB-Funkgerät betrieben, da konnte man auch mit wildfremden Menschen in Kontakt treten. Das Internet ist für mich also CB-Funk, Kiosk und Brechtsches Radio auf Steroiden. Es ist einfach unfassbar grossartig.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Ich habe den Eindruck, dass die Qualität in den sogenannten «Qualitätsmedien» schlechter geworden ist. Die Boulevardisierung hat sich in fast allen Medien eingeschlichen. Ich bin mit dem Buch von Günter Wallraff «Der Aufmacher: Der Mann, der bei Bild Hans Esser war» aufgewachsen. Oder mit der «Verlorenen Ehre der Katharina Blum» von Heinrich Böll. Ich verabscheue Boulevard-Journalismus zutiefst und habe diese Haltung auch nie revidieren können. Bis heute finde ich, dass diese Form von Journalismus es nicht verdient hat, gefördert oder gar geadelt zu werden. Sie ist das eigentliche Problem, sie ist die zersetzende und zerstörende Kraft in unserer Gesellschaft. Sie ist der ultimative Ausdruck eines Kapitalismus ohne Moral, von Geld ohne Geist. Was die Verbreitung dieser Form des Journalismus betrifft, ist es schlechter geworden. Dafür gibt es heute aber auch viel mehr qualitativ hochwertigen Journalismus und lehrreiche, inspirierende, interessante Inhalte als früher, einfach nicht mehr nur in den klassischen Medientiteln. Es gibt viel mehr Möglichkeiten für die Menschen, sich zu informieren und sich an den Debatten zu beteiligen als früher. Insgesamt halte ich die heutige Situation für besser. Die Vergangenheit wird sehr stark verherrlicht.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Das ist eine sehr interessante Frage, die mich seit fast zwanzig Jahren beschäftigt. Eigentlich mit dem Auftauchen von YouTube habe ich mich gefragt, ob eine Gesellschaft, die eine Infrastruktur errichtet, welche es ermöglicht, jederzeit über Video zu kommunizieren, die schriftliche Kommunikationsform noch benötigt. Ich persönlich hänge am geschriebenen Wort. Ich lasse mir lange Videos oft transkribieren und zusammenfassen, weil ich beim Skimmen eines Textes effizienter erfassen kann, ob ich mich mit einem Inhalt beschäftigen möchte oder nicht. Gleichzeitig bieten das Video und auch die Audio-Formate eine viel intensivere Bindung zu den Autor:innen und je nach Thema hilft es auch, einen komplexen Sachverhalt auf verschiedenen Kanälen zu rezipieren.

Was soll man heute unbedingt lesen?

In der Schweiz die «Republik», die WoZ, die NZZ und für Tech-Themen das Online-Magazin dnip.ch (shameless Werbung 🤭). Am allerbesten ist es aber, zu lernen, wie man einen RSS-Reader benutzt und dort einzelnen Menschen zu folgen, die öffentlich schreiben. So wie Dir und vielen anderen, die laufend wertvolle Inhalte für alle zur Verfügung stellen. Und noch besser ist es, selbst zu schreiben oder zu podcasten, oder Videos zu publizieren. Je mehr Menschen das tun, desto vielfältiger wird die Gedankenwelt der Menschheit digital abgebildet.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich kann sie schlecht weglegen. Sie müssen nicht mal schlecht sein. Es gibt Momente, in denen ich ein Buch zu lesen beginne, und mit der Zeit schwindet das Interesse an diesem Thema, oder ein anderes Thema wird plötzlich wichtiger. Ich habe dann jeweils die grösste Mühe, das Buch wegzulegen. Ich schleppe es oft noch wochenlang mit mir herum, ohne auch nur noch eine Seite zu lesen. Irgendwann landet es dann auf dem Stapel der angefangenen Bücher, die wahrscheinlich nie zu Ende lesen werden. Ich habe dabei immer ein schlechtes Gewissen, weil ich denke, dass ich der Autorin oder dem Autor Unrecht tue. In Zukunft werde ich diese Bücher durch meinen persönlichen KI-Assistenten zusammenfassen lassen und mich im Dialog mit dem Buchinhalt auseinandersetzen, damit ich wenigstens den Inhalt einigermassen erfasst habe. Geht bereits heute mit NotebookLM einwandfrei. Ich mache mir keine Sorgen, dass ich aufhören würde, Bücher zu lesen. Ich werde einfach weniger ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich sie nicht zu Ende lesen mag.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Netz, auf allen möglichen Kanälen. Diese Serendipität ist es, was mich von Anfang an im Internet glücklich gemacht hat. Darum folge ich auf allen Social-Media-Plattformen immer viel zu vielen Leuten und darum finde ich das Angebot der Plattformen, dass der Algorithmus mir Inhalte vorschlägt, unabhängig davon, wem ich folge, eine spannende Sache. Ich liebe es, auf Dinge zu stossen, die ich nicht gesucht habe. Ja, ich finde das eigentlich das absolut Beste am Umstand, dass die Inhalte der Welt miteinander verlinkt sind.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich wage hier mal eine Prognose: maximal 25 Jahre. Das bedeutet nicht, dass es dann keinen Journalismus mehr gibt. Aber es ist nun mal so, dass es in einer digitalen Welt keine gedruckten Tageszeitungen mehr braucht.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Fake News wurden zuerst von den Medien verbreitet. Die gibt es schon viel länger als das Internet und auch heute ist es heuchlerisch, wenn sich die klassischen Medien als Hüter:innen der Wahrheit aufspielen. Solange sowohl die klassischen Verlagskonzerne als auch die grossen Plattform-Anbieter ihr Geld damit verdienen, dass sie die Aufmerksamkeit der Rezipient:innen verkaufen, so lange wird es auf diesen Kanälen News geben, die nicht aufgrund ihres Wahrheitsgehalts oder ihrer Relevanz publiziert und verbreitet werden, sondern aufgrund ihrer Monetarisierbarkeit. Das gilt für die meisten Tageszeitungen genauso wie für das Privatfernsehen oder eben die Social-Media-Plattformen. Das Problem heisst kapitalistische Verwertungslogik oder ganz konkret: Finanzierung durch Werbung. Solange wir das nicht abschaffen, solange wird es Fake-News-Verbreitung im grossen Stil geben. Und ja, jede Fake News ist auch eine Chance. Eine Chance für die Gesellschaft, im Lernprozess weiterzukommen, eine Chance, das kritische Denken zu stärken und eine Chance, der Fake News eine andere Sichtweise entgegenzuhalten. Ganz allgemein sehe ich die Sache viel weniger problematisch, als sie in der Öffentlichkeit in der Regel diskutiert wird. Wir dürfen den Menschen durchaus etwas mehr zutrauen. Die meisten sind sehr wohl in der Lage, eine Nachricht richtig einzuschätzen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Braucht es eigentlich nicht mehr. Das einzige, was fehlen wird, ist das Phänomen des «Strassenfegers» und das damit verbundene gemeinsame Medienerlebnis. Ich sehe kaum fern. Gelegentlich einen Münster-Tatort oder die SRF-Tagesschau. Dazu nutze ich seit Jahren Zattoo und muss mich dadurch nicht an den Fahrplan halten. Im Radio höre ich das «Rendez-Vous am Mittag» und das «Echo der Zeit», aber selten zur offiziellen Sendezeit. SRF-App sei Dank.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ja, ich höre Podcasts, vor allem unterwegs und zum Einschlafen. Meine Lieblingspodcasts wechseln dauernd. Ich habe Hunderte abonniert und lasse mich jeweils überraschen, was in meinem Feed als Nächstes erscheint. Zusammen mit Martin Steiger habe ich übrigens den Nischen-Podcast «Datenschutz Plaudereien» am Laufen (noch einmal shameless Werbung 🤭)

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Ich sehe das nicht so problematisch. Ich erinnere mich an meine Zeit in meinen Teenie- und 20er-Jahren. Da haben auch die meisten meiner Kolleg:innen keine Zeitung gelesen. In diesem Alter sind andere Aspekte des Lebens wichtig. Ich behaupte, dass heute mehr Menschen in dieser Alterskategorie relevante Themen mitbekommen und dazu informiert sind als vor dem Internet-Zeitalter. Es mag sein, dass sie nun direkt von Jacqueline Badran und von Andreas Glarner informiert werden und nicht mehr via Zeitung, aber ich bin nicht sicher, ob das wirklich ein Problem ist. Ich glaube, dass das Zeitalter der grossen Medienverlage an ein Ende kommt und ich weine dem keine Träne nach. Das bedeutet nicht, dass der Journalismus an ein Ende kommt, im Gegenteil. Journalismus von Menschen hat eine grosse und wichtige Zukunft vor sich. Aber Journalist:innen der Zukunft werden nicht mehr von Verlagen abhängig sein, sondern werden die direkte Verbindung zu ihren Rezipient:innen, zu ihren Dialogpartner:innen pflegen können.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Journalismus im Sinne von «Journaling»: Zusammenfassen, was passiert, darüber berichten, was andere sagen, ein Journal für die Geschichte und die Öffentlichkeit schreiben – diese Form wird definitiv automatisiert. Aber für die Einordnung des Geschehenen, für die Frage, wie andere Menschen diesen Sachverhalt sehen, überhaupt für das Stellen der richtigen Fragen an ein Geschehnis, dafür wird es weiterhin Menschen brauchen. Weil wir Menschen die Sichtweise anderer Menschen benötigen, um die Welt zu erfassen.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Für mich ganz klar, zur Befreiung des Journalismus. Allerdings dauert es länger als nötig, weil wir glauben, dass wir den Journalismus stärken, wenn wir die Verlage fördern. Was aus meiner Sicht falsch ist. Journalist:innen und Verleger:innen sind nicht Freund:innen, sie sitzen nicht im selben Boot. Die Machtverhältnisse sind klar. Und die Fragen, die sich die Verlage im Zusammenhang mit KI stellen, zeigen ganz klar, dass sie jederzeit bereit sind, die Journalist:innen über Bord zu werfen, wenn sie sie nicht mehr benötigen. Es gab und gibt immer zwei Arten von Verleger:innen: die politischen und die profitgetriebenen. Beide instrumentalisieren den Journalismus für ihre Zwecke. Das Gerede von der Wichtigkeit für die Demokratie und von der vierten Gewalt als Ursprung der verlegerischen Tätigkeit ist heuchlerisch und entspricht selten der Realität. Wenn die Verleger durch die Digitalisierung obsolet werden, ist das für den Journalismus definitiv eine Befreiung.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja, ich würde sie aber Journalismus- oder Demokratieförderung nennen. Was es braucht, ist qualitativ hochwertiger und vielfältiger Journalismus, der allen Menschen zur Verfügung steht. Ein solches System wäre sehr einfach einzurichten. Anstelle der aktuellen Medienabgabe würden derzeit 0.4 Prozent Mehrwertsteuer denselben Betrag von ca. 1.3 Mia CHF einbringen. Die Hälfte davon würde die SRG bekommen. Sie betreibt damit aber keine Sender für lineare Programme mehr, sondern produziert mit diesem Geld Inhalte für die politische Debatte und für die Berichterstattung über Kultur, Sport und Wissenschaft, die in den anderen Medien vernachlässigt werden. Dazu stellt sie eine Plattform zur Verfügung, auf der alle Menschen ihre Inhalte veröffentlichen können, wenn sie möchten. Alle Inhalte, die sie erstellt und die auf dieser Plattform publiziert werden, werden unter einer Creative-Commons-Lizenz allen verfügbar gemacht. Ohne Log-in oder Paywall, ohne Restriktionen. Mit diesen 750 Mio. jährlich lassen sich ungefähr 4200 Vollzeitstellen finanzieren. Damit sollte echt viel nützlicher Inhalt publiziert werden können. Die zweiten 750 Mio. werden in Form von virtuellen Gutscheinen den Mediennutzenden verfügbar gemacht. Diese können auf der Medienplattform der SRG an die Inhaltsanbieter verteilt werden. Dadurch können auch freischaffende Journalistinnen von der Demokratieförderung profitieren.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Nein. Ich habe noch nie gerne von Hand geschrieben. Meine Handschrift war schon immer ein Problem. Die Tastatur war für mich eine Befreiung.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Donald Trump ist schlecht für die Gesellschaft. Die Medien verdienen leider zu gut an ihm.

Wem glaubst Du?

Ich denke nicht, dass man einfach jemandem glauben soll. Aber ich halte es für sinnvoll, grundsätzlich wohlwollend und offen auf jeden Menschen und seine Äusserungen zuzugehen und dann im gemeinsamen Dialog der Wahrheit ein Stückchen näherzukommen. Das Problem der heutigen Zeit ist, dass wir vergessen zu haben scheinen, dass die Meinungsfreiheit in der politischen Debatte immer die Verpflichtung mit sich bringt, seine Meinung zu begründen und diese Begründung der Debatte auszusetzen. Meinung ohne Begründung ist nichts wert. Ich würde darum sagen, ich glaube am ehesten den Menschen, die bereit sind, ihre Haltung, ihre Meinung, ihren Glauben zu hinterfragen und im Dialog zu begründen. Diesen Dialog zu ermöglichen, sehe ich übrigens als die ehrenhafteste Aufgabe des Journalismus.

Dein letztes Wort?

Ich wünsche mir eine radikale und ehrliche Debatte über die Zukunft des Journalismus im Zeitalter der Digitalität. Es sollte nicht darum gehen, bestehende Strukturen, um jeden Preis aufrechtzuerhalten, sondern um die Frage, was eine demokratische Gesellschaft im digitalen Zeitalter benötigt, um die politische Debatte führen zu können. Ich bin zum Beispiel überzeugt, dass wir ein öffentliches Foundation-Modell der generativen KI brauchen, auf das alle ohne Einschränkung zugreifen können. Alle in der Schweiz publizierten Inhalte sollten für das Training für dieses Modell zwingend verfügbar sein. Wir würden als Gesellschaft enorm profitieren, wenn wir eine solche Infrastruktur aufbauen würden. Wir sollten ganz grundsätzlich öffentliche Infrastrukturen bereitstellen und den Rest den Menschen überlassen. Wir sollten uns aus der Angststarre befreien und endlich damit beginnen, die Zukunft des Journalismus und der Demokratie zu gestalten. In der Medienpolitik herrscht seit Jahren Stillstand, weil wir uns von den Verlagskonzernen, die alles daran setzen, dass alles beim alten bleibt, auf der Nase herumtanzen lassen. Dabei sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass der Drang, Veränderungen zu verhindern, in der DNA der Schweizer Medienbranche liegt. Jedes neue Medium hat die Verleger auf die Barrikaden gebracht, und die Besonderheiten des politischen Systems in der Schweiz haben immer dazu geführt, dass die Verlage die Entwicklung behindert oder verzögert haben. Gewonnen hat immer ihr Kapital, verloren hat immer die Gesellschaft. Vielleicht sollten wir es dieses Mal anders machen. In diesem Licht sind auch die derzeitigen Debatten zum Leistungsschutzrecht oder zur Einschränkung der Trainingsmöglichkeiten für KI-Systeme zu sehen. Es sind Entwicklungsverhinderungsdebatten, rückwärtsgewandt, fantasielos und schädlich für die Gesellschaft, weil sie uns Menschen die emanzipatorischen Potenziale vorenthalten, um ein paar nutzniessenden Kapitalgesellschaften das Leben zu verlängern.


Andreas Von Gunten
Andreas Von Gunten, M.A. Philosophy (Open), ist Internet-Unternehmer der ersten Stunde, SP-Politiker und Mitgründer von Datenschutzpartner AG sowie Co-Präsident von dnip.ch und Autor von «Intellectual Property is Common Property». An der HWZ leitet er den Studiengang CAS Future Tech. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen derzeit in den Bereichen Generative AI, Future Technologies und Digital Literacy. Seit mehr als zehn Jahren unterrichtet er zu diesen und weiteren Themen an der Hochschule für Wirtschaft in Zürich und an anderen Bildungseinrichtungen, seit Kurzem auch am MAZ. Seine kritische, aber optimistische Haltung inspiriert und eröffnet neue Perspektiven auf die digitale Zukunft. Als links-libertärer Humanist und Citoyen beteiligt er sich aus Überzeugung an verschiedenen politischen Debatten, insbesondere zur Medien- und Digitalpolitik. https://andreasvongunten.com


Basel, 28.05.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Bild: HWZ

Seit Ende 2018 sind über 300 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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2 Kommentare zu "Andreas Von Gunten: «Ich verabscheue Boulevard-Journalismus zutiefst.»"

  1. Danke für die differenziert engagierten Antworten mit diversen ganz konkreten Ansätzen, die auch im Bereich der Medien raus aus der Falle einer 0815-Politik führen könn(t)en, die mit viel Gejammer alles langweilig und systemkonform beim Alten lassen will.

  2. A. Von Gunten schreibt:
    „Als dann das Internet plötzlich verfügbar wurde, war und ist das bis heute für mich das grösste Geschenk. Es gibt nichts mehr, was ich nicht erkunden kann, wenn es mich interessiert. Es gibt jede Sekunde tausend Quellen der Inspiration. Es gibt jeden Augenblick etwas zu lernen, es gibt mit jeder Quelle die Möglichkeit….“
    „Schöne neue Welt“ und scheusslich zugleich.
    Immer alles immer wissen können. Jede Frage bekommt sofort eine Antwort. Reisen – man kennt im Voraus die Speisekarte in Wyoming…. Entdecken…. alles schon zuvor gegoogelt. „Nach dem Weg fragen“ – heute lässt keiner mehr die Scheibe runter und fragt. Kommt mit den Einheimischen in Kontakt. Und erfährt wo wirklich die beste Beiz steht, von den Dorfbewohner empfohlen… Heute lotst einem das Navi ins Bachbett. „Entschuldigung, wieviel Zeit ist es?“ – heute fragt keiner mehr. Alle haben die Atomuhrzeit im Sack. Doch wieviel interessante Begegnungen entstanden dadurch. Und wieviel Beziehungen und Hochzeitsglück? Heute redet niemand mehr. Wer reden will, muss dafür bezahlen. Alle starren ins Narrenkastel und wissen alles. Früher wusste man nur die Hälfte. Für das heute alle alles wissen, sieht aber unsere Welt cheibe be….scheiden aus…

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