
Andrea Masüger: «Die Zeitung wird zum Aktualitäts-Buch der Zukunft werden.»
Das 355. Fragebogeninterview, heute mit Andrea Masüger, Präsident Verlegerverband Schweizer Medien VSM und Delegierter des Verwaltungsrates von Somedia. Er sagt, er halte es für ein Märchen, dass das Medienangebot früher besser und tiefgründiger gewesen sei: «Man blättere mal eine Tageszeitung von 1980 durch. Da war viel Agenturstoff drin, viel reine Berichterstattung, wenig Recherchen.» Das sei heute anders: «Der Journalismus ist fundierter, bunter, angriffiger geworden. Daran hat auch der Strukturwandel in den Medien nichts geändert.» Trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten vieler Medienhäuser und entsprechenden Sparmassnahmen sei «der Journalismus in der Schweiz so vielfältig, wie kaum zuvor; dies ist auch auf viele neue Online-Formate zurückzuführen.» Andrea Masüger ist überzeugt: «Gedruckte Tageszeitungen wird es noch so lange geben, wie die Boomer leben», also die Menschen, die zwischen 1946 und 1964 geboren sind. Die Boomer seien «heute ja die grössten Nutzer dieser Mediengattung». Er glaube aber, dass «die gedruckte Zeitung als Medium weiterleben wird, zum Beispiel in Form von Wochenend- oder Sonntagsausgaben, welche die schnellen News der Woche vertiefen. Die Zeitung wird zum Aktualitäts-Buch der Zukunft werden.» Er nennt dafür aber zwei wichtige Voraussetzungen: Eine sinnvolle Medienförderung, wie sie «gottlob vom Parlament soeben für sieben Jahre verlängert» wurde, und eine «Durchsetzung des Urheberrechts gegenüber Techplattformen und KI-Firmen.» Es könne nicht sein, dass die KI-Firmen «sich nicht einmal um Paywalls und gesperrte Inhalte» scheren. Das führe «zum Zusammenbruch eines nutzer- und werbefinanzierten Mediensystems und schliesslich zur Austrocknung der Informationsgesellschaft.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Ich frühstücke nur in den Ferien. Aber morgens lese ich ein paar Tageszeitungen, gedruckt und als E-Paper.
Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?
Ich meide Social Media, wo ich kann und bin eigentlich nur auf WhatsApp anzutreffen. Ich verstehe nicht, wie die Leute so viel Zeit verschwenden können, um auf allen möglichen Plattformen herumzuturnen. Ich will mir das nicht zumuten, zumal der Erkenntnisgewinn ja auch nicht allzu hoch sein dürfte. Sicher gibt es aber auch auf diesen Plattformen gute Inhalte zu finden.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
Lustigerweise nicht entscheidend. Ich bin vor fast 50 Jahren in den Journalismus eingestiegen. Da war ich von früh bis spät mit (analogen) Medien umgeben, Zeitungen, Radio, Fernsehen. Das Ganze war durchstrukturiert: Zeitungen am Morgen, Radio mittags und abends, Fernsehen abends. Der Dauerberieselung durch die «neuen Medien» versuche ich auch heute noch auszuweichen (siehe oben), weil ich lieber strukturierte und kuratierte Newsinhalte konsumiere. Das ist glücklicherweise auch heute noch möglich.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Man neigt ja dazu, die Vergangenheit zu verklären. So wird oft behauptet, das Medienangebot sei früher besser und tiefgründiger gewesen. Ich halte das für ein Märchen. Man blättere mal eine Tageszeitung von 1980 durch. Da war viel Agenturstoff drin, viel reine Berichterstattung, wenig Recherchen. Das ist heute anders: Der Journalismus ist fundierter, bunter, angriffiger geworden. Daran hat auch der Strukturwandel in den Medien nichts geändert. Trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten vieler Medienhäuser und entsprechenden Sparmassnahmen ist der Journalismus in der Schweiz so vielfältig, wie kaum zuvor; dies ist auch auf viele neue Online-Formate zurückzuführen. In diesem Sinne: Früher war es anders, aber sicher nicht besser.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Sicher. Mehr denn je. Wir leben zwar gegenwärtig in einem audiovisuellen Zeitalter, man jammert über die abnehmende Lesefähigkeit der Jungen und über die Verdummung, die gewisse Inhalte auf Social Media befördern. Das sind sicherlich ernstzunehmende Gefahren, welche der Hype um KI noch verstärken kann. Aber ich glaube, dass es irgendwann eine Art Backlash geben wird. Das geschriebene Wort wird wieder wichtiger werden, weil es ein zentrales Element unserer Kultur ist.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Man sollte Zeitungen lesen, gedruckt oder zumindest als E-Paper. Es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse, dass Texte in dieser Darreichungsform vom Hirn besser aufgenommen und verarbeitet werden als das stete Info-Rinnsal auf Handys und Tablets. Und dann sollte man natürlich Bücher lesen. Wenn ich mich heute in Buchhandlungen umschaue, habe ich keine Angst, dass man dies einmal verlernen wird.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Ich kann sie weglegen. Wenn ich Mühe habe oder zu ungeduldig bin, einem Inhalt zu folgen, mache ich das. Aber das muss dann ja kein schlechtes Buch sein, ich bin vielleicht nur zu dumm dafür.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Aus der Zeitung. Das ist ja das Geniale an diesem Konzept: Man wird mit einem umfassenden Menu an Informationen konfrontiert, die man nicht kennt und nicht erwartet. In der Social-Media-Bubble erfahre ich aber immerzu das Gleiche in verschiedenen Variationen.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Gedruckte Tageszeitungen wird es noch so lange geben, wie die Boomer leben, das sind heute ja die grössten Nutzer dieser Mediengattung. Ich glaube, dass die gedruckte Zeitung als Medium weiterleben wird, zum Beispiel in Form von Wochenend- oder Sonntagsausgaben, welche die schnellen News der Woche vertiefen. Die Zeitung wird zum Aktualitäts-Buch der Zukunft werden.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Beides. Sie sind eine Gafahr, weil sie das Vertrauen in den Journalismus unterhöhlen: Nach einer Umfrage von gfs-Zürich vom Juli erwarten 95% der Befragten eine Zunahme von Fake News in den nächsten Jahren und 80% sehen die Gefahr, dass damit Wahlen und politische Entscheidungen negativ beeinflusst werden. Und hier liegt die Chance: Seriöser Journalismus kann Desinformation aufdecken und ein Gegengewicht bieten. Journalistinnen und Journalisten waren in der Schweiz noch nie so gut ausgebildet, wie heute. Das ist ein gewaltiges Potenzial gegen Fake News.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Damit halte ich es nicht mehr. Ich sehe und höre meist zeitversetzt.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Nein, höre ich nicht. Ich lese lieber.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Das ist beängstigend. Man muss die Jungen zurückholen. Da sind Ideen gefragt. Kritiker des fög meinen, das sei eine zu pessimistische Sicht, weil die Jungen sich einfach über andere Wege ins Bild setzen würden deshalb auch gut informiert seien. Ich zweifle aber daran, dass diese Art von Informiertheit die Qualität jener erreicht, die guter Journalismus bietet.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Nein. Automatische Textherstellung ist nur sinnvoll, wenn es um die Verarbeitung von Daten geht, zum Beispiel Sportresultate oder Wetterdaten. Ferner ist sie geeignet, um Texte zusammenzufassen oder Interviews zu transkribieren. Kreativer Journalismus kann nicht an KI ausgelagert werden. Das würde die Leserschaft auch nicht akzeptieren, was ebenfalls Umfragen zeigen.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Sie führt dann zum Tod der Medien, wenn KI-Bots weiterhin Inhalte unserer Schweizer Medienhäuser skrupellos absaugen und daraus eigene Informationsangebote basteln, welche die traditionellen Medien konkurrenzieren. Zu Ende gedacht führt diese heutige Praxis, die sich nicht einmal um Paywalls und gesperrte Inhalte schert, zum Zusammenbruch eines nutzer- und werbefinanzierten Mediensystems und schliesslich zur Austrocknung der Informationsgesellschaft.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Ja. Diese wurde gottlob vom Parlament soeben für sieben Jahre verlängert. Daneben braucht es eine Durchsetzung des Urheberrechts gegenüber Techplattformen und KI-Firmen. Diese müssen die Hersteller von originären Medieninhalten entschädigen. Auch hier ist das Parlament bisher auf einem guten Weg.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Ja. Ich mache fast alle meine Notizen von Hand, mit einem schönen Kugelschreiber von Cartier.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Fürs (amerikanische) Mediensystem ist er sicher schlecht, für die Erkenntnis, dass es unabhängigen und guten Journalismus mehr denn je braucht, ist er gut.
Wem glaubst Du?
Leuten, denen ich vertraue und meiner inneren Stimme.
Dein letztes Wort?
Das spare ich mir auf fürs Totenbett.
Andrea Masüger
Andrea Masüger ist Publizist, Verwaltungsrat von Somedia und Präsident des Verlegerverbandes Schweizer Medien (VSM). Nach einer Fotografenlehre in Chur trat er 1977 als Praktikant in die Redaktion der «Bündner Zeitung» ein. Von 1979 bis 1987 war er für die «Bündner Zeitung» als Bundeshausredaktor in Bern tätig. Ab 1987 war er stellvertretender Chefredaktor, ab 1992 Chefredaktor der «Bündner Zeitung». 1997 übernahm er die Chefredaktion der «Südostschweiz» und wurde später CEO von Somedia. Er war langjähriges Mitglied der Eidgenössischen Medienkommission EMEK sowie Vizepräsident der Schweizer Journalistenschule MAZ. Seit Herbst 2021 präsidiert er den Verlegerverband VSM.
Basel, 15.10.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: Olivia Aebli-Item/Südostschweiz
Seit Ende 2018 sind über 330 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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