Buchtipp

Letzter Tipp: Zeit der Oligarchen

Schreiben in finsteren Zeiten

Publiziert am 26. November 2025 von Matthias Zehnder

Als Hitler 1933 die Macht in Deutschland ergriff, wurde es finster im Land für Kulturschaffende. Der Kontrast war umso grösser, als die Weimarer Republik (1918–1933) sich durch avantgardistische Experimente und Werke von Weltrang auszeichnete. Helmuth Kiesel erinnert etwa an Thomas Manns «Zauberberg» (1924) und Alfred Döblins «Berlin Alexanderplatz» (1929) und an Bertolt Brechts Dramen wie «Die heilige Johanna der Schlachthöfe» und seine lyrische Hauspostille (1927). 1933 geriet die Literatur unter massiven politischen Druck. Die Wahrung literarischer Qualität wurde durch Zensur, Verfolgung und die Instrumentalisierung der Kunst als «Waffe» erschwert. Viele der wegweisenden Texte der Zeit entstanden deshalb ausserhalb des Landes, darunter etwa die «Joseph»-Romane von Thomas Mann und die Dramen von Brecht. Die Texte entstanden unter den materiell schwierigen, aber geistig freien Bedingungen des Exils. Etwas vergessen geht dabei, dass auch innerhalb Deutschlands beachtliche Literatur geschaffen wurde. Dies betrifft nicht nur die sogenannte «Innere Emigration» mit Autoren wie Ernst Wiechert und Gottfried Benn, sondern teilweise auch Autoren, die dem Nationalsozialismus nahestanden. In seinem Buch zeichnet Helmuth Kiesel die Geschichte der deutschen Literatur in dieser Zeit nach. Er beschäftigt sich dabei auch mit der Frage, wie mit moralisch und politisch kompromittierten Autoren umzugehen sei. Frühere Literaturgeschichten neigten dazu, NS-Autoren komplett auszublenden. Kiesel plädiert hingegen für eine differenzierte Betrachtung: Werke sollten nicht nur politisch-moralisch, sondern auch ästhetisch bewertet werden. Er analysiert deshalb auch von NS-Anhängern verfasste Texte als Teil der historischen Realität.

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Kiesel widmet sich in seinem Buch nicht der Literatur Deutschlands, sondern der «deutschsprachigen Literatur». Das gebietet nur schon die Exilliteratur. Darüber hinaus ermöglicht es auch die Inklusion von österreichischen, schweizerischen und jüdischen Autoren, deren Zugehörigkeit zu einer rein «deutschen» Nationalliteratur unter Hitler verneint worden ist. Dabei stellt er fest, dass schon vor der Machtergreifung 1933 die deutschsprachige Literatur eine Abkehr von der radikalen Avantgarde hin zu traditionelleren Formen vollzog. Zwar bekämpften die Nationalsozialisten die Moderne als «entartet», doch in der Praxis existierten modernistische Schreibweisen in einer «reflektierten Moderne» fort, im Exil etwa bei Brecht, aber auch bei Benn in Deutschland.

Die Krise der Demokratie und der Aufstieg des Totalitarismus zwangen Autoren zu einer Entscheidung. Das Buch beschreibt die fatale Faszination des Kollektivismus (Faschismus und Kommunismus) und den immensen Druck auf Schriftsteller, ihre Kunst in den Dienst politischer Kämpfe zu stellen. Die Literatur dieser Zeit wird so zum Seismograph einer Epoche, in der das Schreiben oft zum Akt des Widerstands, der Anklage oder der verblendeten Zustimmung wurde.

Eine Neuordnung der Literaturverhältnisse wie in Deutschland und nach dem Anschluss in Österreich gab es in der Schweiz nicht; allerdings wirkte sich Hitlers Machtergreifung auch auf die Schweiz aus. So verlangten nicht wenige Politiker, dass die Literatur Teil der Geistigen Landesverteidigung sein solle. Die Schweiz wollte gezielt eine Literatur fördern, die dem ‹bodenständigen› und ‹schollengebundenen› Charakter der Schweiz entsprach. Gegen die Grossstadtmoderne oder «Asphaltliteratur» wurde polemisiert, die Provinz und das ländliche Leben wurden verklärt, in Romanen und Bühnenstücken wurde vor allem das dörfliche Leben thematisiert.

Mit fast 1400 Seiten ist das Buch ein gewaltiger Wurf. Spannend ist dabei auch das Verhältnis der Schweizer Literatur zu Nazideutschand. Der Blick auf die Literatur in finsteren Zeiten lohnt sich aber gerade heute, weil viele der Texte, wie Helmuth Kiesel es schreibt, eine seismographische Qualität haben.

Helmuth Kiesel: Schreiben in finsteren Zeiten. Geschichte der deutschen Literatur Bd. 11. C.H. Beck, 1392 Seiten, 90.90 Franken; ISBN 978-3-406-71611-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406716119

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/

Basel, 26.11.2025, Matthias Zehnder

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