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Rassismus im Rückspiegel
Die Schweiz sei nicht bereit für eine «dunkelhäutige» Moderatorin, «schon gar nicht zu dieser Tageszeit». Diesen Bescheid erhielt Angélique Beldner, ausgebildete Typografin und Schauspielerin, 2003 vom Schweizer Fernsehen. Sie hatte sich als Moderatorin für die Spätausgabe der «Tagesschau» beworben und war ihrer Hautfarbe wegen abgelehnt worden – «als würde die Sendung an Seriosität und Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie von einer Person of Color moderiert wird», erinnert sich Beldner. Das verrückte ist: «Ich hatte dafür grösstes Verständnis. Eigentlich hatte ich es nicht anders erwartet. Es war symptomatisch, nicht für die Institution Schweizer Fernsehen, sondern für diese Zeit.» Angélique Beldner beschreibt die Episode in ihrem Buch. Sie erzählt darin, wie sie in der Schweiz Rassismus im Alltag erlebt hat – und erlebt.
Angélique Beldner ist die Tochter einer weissen Schweizer Mutter mit Wurzeln im Berner Oberland und eines schwarzen Vaters, einem «Westafrikaner aus Bénin, damals noch Dahomey, der sich einige Jahre zuvor in Paris niedergelassen hatte und später französischer Staatsbürger wurde», wie sie schreibt. «Eine junge Frau, die in der Schweiz Mitte der 1970er-Jahre unverheiratet schwanger wurde, hatte ein schweres Los, und ich glaube, dass dieser Umstand der Familie meiner Mutter ebenfalls missfiel. Aber ich bin davon überzeugt, dass es ihr so immer noch lieber war, als wenn meine Mutter diesen Schwarzen, französischsprachigen ‹Ausländer› geehelicht hätte. Man ging davon aus, dass es ohne ihn für sie und für mich leichter wäre als mit ihm.»

Ihre Familie habe alles dafür getan, dass sie durch ihre «Hautfarbe» möglichst keine Benachteiligungen erfahren habe. «Sie tat es, indem sie mich so weiss wie möglich zu machen versuchte und meine ‹Hautfarbe› nie thematisierte. Ich war für sie weiss wie eine Lilie.» Sie habe schon als Kind gemerkt, dass das nicht stimmte. «Doch ich merkte auch, dass Weisssein sehr erstrebenswert war. Und so gab ich mir Mühe, so weiss zu sein wie nur irgendwie möglich.»
Sie wuchs auf, wie alle anderen Kinder: mit Pippi Langstrumpf, Jim Knopf und Globi. «Als Kind war ich dankbar. Dankbar dafür, hier sein zu dürfen und nicht dort sein zu müssen, wo diese ‹Einfältigen› herkamen. Ich war dankbar dafür, dass man mich hier annahm und akzeptierte, obwohl ich doch ganz offensichtlich von einem ‹Volk› abstamme, das eher zu den Dienern gehört als zu den Bedienten, eher zu den Bastrock Tragenden als zu den Wohlgenährten, zu den Rückständigen eher als zu den Fortschrittlichen.» Es war ihr nicht bewusst, «wie wichtig es gewesen wäre, in Büchern auch meine Geschichte, meine Lebensrealität abgebildet zu sehen, um mich selbst zu entdecken. Repräsentiert zu sein oder nicht macht viel mit der Selbst- und der Fremdwahrnehmung.» Die wenigen Schwarzen, die sie in Büchern abgebildet sah, «zeigten mir im besten Fall ein stark vereinfachtes Bild von Schwarzen Menschen. Im schlechteren Fall zeigten sie mir offenen Rassismus. Auf jeden Fall aber zeigten sie mir, wie Weisse Schwarze sahen.»
Als sie zehn Jahre alt war, sah sie «eine wunderschöne Schwarze Frau in einer deutschen Fernsehsendung»: Shari Belafonte und war Gast in der Sendung «Wetten, dass …?». «Ihr Haar trug sie ganz kurz, wie ich. Doch bei ihr wirkte es so, als hätte sie es mit Absicht so kurz geschnitten. Nicht wie bei mir, wo man es aus purer Verzweiflung getan hatte. Ich hätte gerne von ihr gewusst, wie sie zu ihren grossen Rollen gekommen war. Welche Erfahrungen sie nun machte als weltbekannte Schwarze Schauspielerin. Und welche Zukunftspläne sie hatte.» Doch der Moderator interessierte sich für Banaleres: «Wissen Sie, woher der Name Shari kommt?», fragte er. Und dann erkundigte er sich nach ihrem berühmten Vater Harry Belafonte und nach ihrem Mann. Von Shari war nicht die Rede. All die Fragen, die Angélique Beldner gerne Shari gestellt hätte, wurden nicht gestellt. «Doch das war mir egal. Denn nun wusste ich: Wenn ich mal gross bin, werde ich Schauspielerin.»
Es ist eindrücklich, wenn Angélique Beldner erzählt, wie sie als Kind «Schwarzer Peter» spielte und wie sie sich dabei fühlte, dass verloren hat, wer die Karte mit der Karikatur eines schwarzen Mannes zieht. Wie ein kleines Mädchen sie fragt, ob sie ihre Freundin sein wolle, ihre Mutter habe ihr gesagt, sie solle jeden Tag etwas Gutes tun – Freundschaft als karitative Tat. Es sind diese kleinen Geschichten, die unter die Haut gehen.
Ab den 1900er-Jahren setzt langsam, langsam eine Veränderung ein. 1990 startete am Eurovision Song Contest die erste Person of Color für Frankreich: Joëlle Ursull mit dem Song «White and Black Blues», den Serge Gainsbourg für sie getextet hatte. Naomi Campbell schaffte es als schwarzes Model auf das Cover der «Vogue» und wurde «offensichtlich von einer breiten Masse als schön empfunden», schreibt Angélique Beldner, «das beeindruckte mich sehr.» In der Schweiz fassten immer noch regelmässig Menschen Angélique Beldner in die Haare. «Manchmal fragten sie mich, ob sie dürfen, manchmal nicht. Ich versuche mich daran zu erinnern, wann ich das erste Mal zu jemandem sagte, dass ich das nicht möchte. Auf der Suche nach einer blassen Erinnerung merke ich, dass ich mich irgendwann für eine Art Vermeidungsstrategie entschieden hatte, indem ich die Haare nur selten offen trug. Denn je weniger man von meinen Haaren sah, desto weniger wurde ich darauf angesprochen.»
Die Schweiz sei ein Land mit einer langen Migrationsgeschichte, aber «bestimmt keines mit einer prägenden Schwarzen Migrationsgeschichte». Wer heute über People of Color spreche, beginne meistens mit «den Fluchtbewegungen der 1980er- oder sogar erst 1990er-Jahre an. Doch die Schwarze Schweizer Geschichte erzählt sich nicht allein durch Fluchtbewegungen. Und sie beginnt auch nicht erst in den 1980er-Jahren.» Es habe lange zuvor Menschen afrikanischen Ursprungs gegeben, die in die Schweiz kamen, um hier zu studieren oder zu arbeiten. «Es gibt aber auch die unrühmliche Geschichte, die von Völkerschauen erzählt, die bis in die 1960er-Jahre hinein noch stattfanden. Es gab Schweizer Staatsangehörige, die in einem afrikanischen Land arbeiteten und dann ihre Bediensteten von dort mit in die Schweiz brachten. Sie liessen sie hier weiter für sich arbeiten, manche verliebten sich auch, gründeten eine Familie. Und schliesslich ist die Schwarze Schweizer Geschichte auch diejenige von Menschen, die immer schon hier waren. Es sind Menschen wie ich», schreibt Angélique Beldner. Aber natürlich wird sie immer mal wieder gefragt, woher sie denn komme und wenn sie dann «Bern» antwortet, wird nachgefragt: «Ich meine: woher kommst Du ursprünglich?»

2015 bewarb sich Angélique Beldner noch einmal beim Schweizer Fernsehen – und wurde angenommen. «Neues Gesicht für die ‹Tagesschau›», titelte der «Blick»: «Sie ist die erste schwarze Moderatorin beim SRF-News-Flaggschiff». Die Schlagzeile habe sie in Panik versetzt. «Die Erste zu sein bedeutete, dass es keine Erfahrungswerte dazu gab, wie die Menschen in der Schweiz auf mich reagieren würden», erzählt sie. Warum war ihre Bewerbung 2015 erfolgreich? Rückblickend sehe sie in den 2000er-Jahren eine grosse Vielfalt in der Schweiz. Aber die Vielfalt hatte Grenzen: «Sie endete vor dem Konservatorium und dem Ballettsaal, vor dem Eishockeyfeld, dem Lehrer:innenzimmer, vor der Anwaltskanzlei, dem Büro der Geschäftsleitung und auch vor den Medienhäusern.» Die Schweiz sei zwar diverser geworden, aber nicht in allen Lebensbereichen. Sie seien es bis heute nicht.
Am Ende ihres Buches schreibt sie: «Wir sind nicht mehr da, wo wir einmal waren. Wir haben schon vieles erreicht.» Das gehe nur mit leisen und manchmal auch lauten Kämpfer:innen. Sie wolle stolz sein auf das, was die Schweiz erreicht habe. «Lasst uns diesen Weg weitergehen, denn er ist noch lang. Wir können die Welt nicht allein verändern. Doch wir können Teil der Veränderung sein.»
Angélique Beldner: Rassismus im Rückspiegel. Limmat Verlag, 192 Seiten, 32.00 Franken; ISBN 978-3-03926-094-2
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783039260942
Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/
Basel, 25.08.2025, Matthias Zehnder
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