Buchtipp
Letzter Tipp: Einfach nicht altern?
Brains & Balance
Selbstoptimierung ist die Losung der Stunde. Oder, wie es Rachel Barr sagt: «Man erzählt uns, Perfektion sei der Schlüssel zu einem glücklichen Leben.» Das Narrativ habe sich «so tief in unsere kollektive Psyche eingegraben, dass wir es meist gar nicht mehr hinterfragen.» Wir gehen davon aus, dass wir uns halt nicht genug anstrengen, wenn es uns nicht gut geht. Das Gehirn sei «brillant, aber nicht unfehlbar» und «nicht für die moderne Welt geschaffen». Wenn ihm zu viel abverlangt wird, etwa um mit dem gnadenlosen Produktivitätsdruck Schritt zu halten, wehrt es sich. Die moderne Gesellschaft suggeriere, dass der Wert und das Glück eines Menschen von seiner Produktivität abhängen. Das «manische Streben nach Produktivität und Perfektion» führe jedoch dazu, dass wir uns von einem sinnerfüllten Leben entfernen. Unser Gehirn werde oft «als eine Maschine beschrieben, die wir feintunen können wie einen Motor oder eine Software. Aber in Wirklichkeit ist das Gehirn ein lebendiges, atmendes Wesen; es ist ein eigener Charakter.» Die Menschen seien soziale Wesen, auf Zugehörigkeit und Sinn ausgerichtet. «Wir sehnen uns danach, von anderen gesehen, gehört und wertgeschätzt zu werden. Wir brauchen die Überzeugung, dass unser Leben einen Sinn hat», schreibt sie. In ihrem Buch vermittelt sie eine neue Perspektive. «Ich kann dir nicht helfen, deinen Weg zum ewigen Glück zu ebnen», schreibt sie. «Aber ich kann dir Möglichkeiten aufzeigen, gut für dein Gehirn zu sorgen, damit es im Gegenzug vielleicht besser für dich sorgt.» Das Gehirn könne auf diesem Weg der stärkste Verbündete sein, «aber auch dein furchtbarster Gegner.»
Das menschliche Gehirn, sagt Rachel Barr, sei evolutionär darauf programmiert, negative Erfahrungen stärker wahrzunehmen und im Gedächtnis zu behalten. Als Strategie dagegen empfiehlt sie «Delight»: Die Suche nach kleinen Glückserfahrungen im Alltag.
Es geht Rachel Barr in ihrem Buch nicht darum, ein brandneues Ich zu erschaffen, sondern darum, «ein ganz klein wenig mehr zu dir selbst zu finden. That’s where the real magic happens: wenn wir uns in unserer Haut ein bisschen wohler fühlen, etwas mehr im Einklang mit unseren eigenen Bedürfnissen leben, ein wenig mehr Frieden finden.» Sie bietet keine Anleitung für ein perfektes Leben und weder eine Patentlösung für alle Probleme noch eine definitive Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. «Was ich hier vermitteln will», schreibt Rachel Barr, «ist eine neue Perspektive. Ich möchte dich dazu einladen, das anzunehmen, worauf der menschliche Geist von Natur aus ausgerichtet ist. Ich kann dir nicht helfen, deinen Weg zum ewigen Glück zu ebnen. Aber ich kann dir Möglichkeiten aufzeigen, gut für dein Gehirn zu sorgen, damit es im Gegenzug vielleicht besser für dich sorgt.»
Sie ist überzeugt, dass Neurowissenschaft und Psychologie «den Weg zu Gesundheit und Glück weisen» können. «Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine präzise, GPS-gestützte Navigation, sondern eher um die faszinierend verwirrende Schatzkarte eines Piraten.» Das Ziel sei vielleicht klar, den Weg dahin zu finden, bleibe aber ein Abenteuer.
Es b beginnt damit, herauszufinden, wer dieses Selbst ist, das uns aus dem Spiegel entgegenblickt. «Wir neigen dazu, unser Selbstgefühl einfach als gegeben anzunehmen, weil es uns als so fundamentaler Bestandteil unseres bewussten Erlebens erscheint», schreibt Rachel Barr. In Wirklichkeit müsse das Gehirn hart arbeiten, um es dauernd aufrechtzuerhalten. «Seit du auf der Welt bist, ist dein Gehirn laufend damit beschäftigt, eine Flut von Sinneseindrücken, Emotionen und Erinnerungen zu verarbeiten, um diese Illusion zu erzeugen.» Die Frage «Wer bin ich?» begleite uns ein Leben lang. Die existenzielle Fallhöhe entstehe daraus, dass die eigentliche Frage lautet: «Wer bin ich für andere Menschen?» Rachel Barr schreibt: «Unsere Suche nach individueller Identität ist in Wirklichkeit zu einem Grossteil ein Trick der Evolution, um uns zu helfen, uns nahtlos in die Gesellschaft einzufügen.»
Das Selbstbewusstsein sei deshalb «naturgemäss instabil» und ständigen Schwankungen unterworfen, «je nach unserer aktuellen Stimmung, unserem sozialen Standing und einer Vielzahl anderer Faktoren, die wir nicht beeinflussen können. Selbstbewusstsein kann uns zwar aufbauen, aber weil kein Verlass darauf ist, brauchen wir daneben etwas anderes, Stabileres, das nicht von Tag zu Tag schwankt.» Die Lösung sieht Rachel Barr im Selbstmitgefühl: «Im Gegensatz zur instabilen Natur des Selbstbewusstseins, das je nach Erfolg oder Scheitern schwankt, bietet Selbstmitgefühl eine stabile Zuflucht. Es ist somit essenziell dafür, in der heutigen Welt eine starke Identität aufzubauen. Studien haben immer wieder belegt, dass Selbstmitgefühl mit größerer emotionaler Resilienz und einem beständigeren Empfinden des eigenen Wertes assoziiert ist.» Selbstmitgefühl sei eine Art «emotionaler Anker»: «Während das Selbstwertgefühl bei jeder hochgezogenen Augenbraue und jedem anerkennenden Nicken schwankt wie eine beschwipste Tante, bleibt das Selbstmitgefühl unerschütterlich und beständig.» «Erkenne dich selbst» sei deshalb nicht nur eine Aufforderung zur Innenschau, sondern «auch ein Ruf nach einem mitfühlenderen Verständnis unserer Stellung in der Welt. Wir sollen erkennen, dass wir alle unfertig sind, work in progress, und jeder von uns vor sich hin stümpert, so gut er eben kann.»
Rachel Barr: Brains & Balance. Was das Gehirn braucht, damit es der Seele gut geht. Rowohlt, 336 Seiten, 26.50 Franken; ISBN 978-3-499-01627-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783499016271
Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/
Basel, 30.10.2025, Matthias Zehnder
PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter. Dann erhalten Sie jede Woche:
- den neuen Sachbuchtipp
- den aktuellen Buchtipp
- den Hinweis auf den Wochenkommentar
- das aktuelle Fragebogeninterview
Nur dank Ihrer Unterstützung ist der Buchtipp möglich. Herzlichen Dank dafür!