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Backstage
Bereits dreiunddreissig Mal hat Donna Leon ihren Commissario Brunetti in Venedig schon auf die Piste geschickt – jetzt gewährt sie uns zum ersten Mal einen Blick hinter die Kulissen: «Backstage» versammelt 33 kurze, persönliche Texte über das Lesen und Schreiben, das Leben in Venedig und ihre grosse Liebe zur Barockoper. Besonders aufschlussreich sind die Einblicke, die sie in ihr Lesen und Schreiben gibt. «Grosse Erwartungen» von Charles Dickens nennt sie ihre «erste literarische Liebesbeziehung». Als sie fünfzehn war, habe sie das Buch zum ersten Mal gelesen und es habe sie nie mehr losgelassen. Sie verrät, dass Ruth Rendells Inspektor Wexford der Krimiheld sei, der sie am meisten begeistere: «Er besitzt Intelligenz und Fingerspitzengefühl, Eigenschaften, über die zweifellos auch seine Schöpferin verfügt.» Zudem denkt er über die Welt nach, kennt seinen Platz in ihr und seine Stärken: «Er ist ein Denker, ein Mann, der auf die Welt mit dem Verstand reagiert, nicht mit dem Bauch. Er ist verheiratet, liebt seine Frau und seine Kinder und hat mein Herz endgültig dadurch erobert, dass er zum Einschlafen nicht Schäfchen zählt, sondern sich die Namen der Häuser in den Romanen von Jane Austen vergegenwärtigt.» Ähnlich wichtig für Donna Leon war Ross Macdonald, der «seinen Detektiv Lew Archer so meisterhaft ermitteln liess». Besonders angetan hat es Donna Leon, wie Ross Macdonald die Ursachen seiner Fälle tief in der Vergangenheit ansiedelt.
Unter ihren literarischen Vorbildern finden sich auch unerwartete Schriftsteller, etwa Patrick O’Brian, der Autor der Romanserie «Master and Commander» rund um Kapitän Jack Aubrey und den Schiffsarzt Dr. Stephen Maturin. «Ich mag Patrick O’Brian nicht nur: Ich vergöttere ihn», schreibt Donna Leon. In seinen Büchern gebe es «keine Pappkameraden nach Art von Horatio Hornblower oder Scarlet Pimpernel, keine Figuren mit der emotionalen und geistigen Tiefe von Micky Maus. Sondern: Männer mit ausgeprägten Eigenschaften, Männer, deren verwickelte und bisweilen schmerzlich komplizierte Natur den Leser aus den Buchseiten geradezu anspringt und ihm das lebhafte Gefühl vermittelt, dass sie uns ähneln.»
Interessant ist, was sie über die Erzählperspektive schreibt. Es gehe dabei nicht in erster Linie um das Geschlecht des Erzählers: «Das Geschlecht lässt sich leicht ändern – der Bildungsgrad nicht», schreibt Donna Leon. «Wir alle haben eine Vorstellung davon, wie Männer denken, denn Männer regieren die Welt, und in der Literatur wimmelt es von männlichen Figuren. Wir wissen auch, wie Frauen denken, denn in der Literatur wimmelt es von weiblichen Figuren, deren Innerstes uns offenbart wird. Aber wie denkt die Putzfrau und wie der Physikprofessor?»

Ihre wichtigste Regel: «Show, don’t tell!» – zeigen, nicht reden! «Du sollst keine langwierigen Erklärungen abgeben – so das oberste Gebot in Schreibwerkstätten. Was geschieht, soll sich aus der Handlung erschliessen», schreibt Donna Leon. «Sag dem Leser nicht, was für ein Mensch eine bestimmte Romanfigur ist: Zeige das Innenleben lieber durch aufschlussreiche Gesten oder Worte.»
Für Krimis gelte eine weitere Regel: «Der Plot soll sich wie ein Pfeil auf sein Ziel zubewegen.» Natürlich könne der Pfeil mit List und Tücke ein wenig von seiner Bahn abgelenkt werden und kleine Umwege beschreiben, doch «das Ziel darf nie aus dem Blick geraten, stets muss es um die zugrunde liegenden Motive gehen, um den Täter, um die Aufklärung des Verbrechens».
Auch in einem anderen Punkt ist Ross Macdonald ein Vorbild für Donna Leon: «Heutzutage kommt kaum ein Kriminalroman ohne drastische Sex-und Gewaltszenen und seitenlange Beschreibungen von Obduktionen aus», schreibt sie. Umso erfrischender sei es, einen «Autor wieder zu lesen, der wie die alten Griechen keine Gewalt auf die Bühne bringt, dessen Interesse nicht der Gewalt als solcher gilt, sondern der Frage, wie es dazu gekommen ist und wie sie das Leben all derer zerstören konnte, die mit ihr in Berührung kamen.» Die Sätze beschreiben nicht nur ihr Vorbild, sondern auch ihr eigenes Anliegen.
Auch sprachlich verweist sie immer wieder auf Ross Macdonald, bei dem sie «auf jeder Seite» seiner Bücher «unnachahmliche Formulierungen und verblüffende Bilder» finde. Da sind junge Polizisten «in sommerlich heller Kleidung, aber mit winterlich finsteren Gesichtern», oder Macdonald schreibt: «In ihren Augen blitzte Interesse auf sowie jenes Überlegenheitsgefühl, das Lügner denen gegenüber empfinden, die sie belügen.» Wunderbar auch die Formulierung: «Sie hatte schwarz gefärbte Haare mit einem grünlichen Schimmer wie gewisse Enten.» Oder: «Auf seinem Schädel klebten ein paar trockene weiße Haarsträhnen, als kämpften Wildblumen auf einem kahlen Felsen ums Überleben.» Donna Leon schreibt dazu: «Man könnte in Versuchung geraten, Macdonald solche Wendungen zu stehlen; leider jedoch gehört diese Prosa so eindeutig ihm, dass Lew Archer den Diebstahl im Handumdrehen aufklären würde.»

Und Donna Leon selbst? Sie schreibt über sich mit leiser Ironie und jener abgeklärten Distanz zum eigenen Leben, über die nur eine über Achtzigjährige verfügt. Sie erzählt über ihre Kindheit, ihr Studium und ihre Zeit im Iran: Da hat sie als junge Englisch-Lehrerin die Revolution erlebt. Sie berichtet von den Schreibseminaren, die sie seit vielen Jahren in Ernen im Wallis hält. Von den sattgrünen Hängen, auf denen das Gras so kräftig aussieht, «als ob es binnen zehn Minuten wieder nachwachsen könnte», und konstatiert trocken: «Als Enkelin eines deutschen Milchbauern bin ich besonders anfällig für die Schönheit und Anmut von Kühen».
Geradezu rührend ist ihre Hommage an Guido Brunetti. Zum dreissigsten Roman hat sie ihm einen Brief geschrieben: «Über dreißig Jahre sind nun vergangen, und wir sind immer noch unzertrennlich;, schreibt Donna Leon. «Es freut mich, dass Du in all den Jahren so viele interessante Leute getroffen hast, auch wenn sich der eine oder andere leider als Verbrecher und Lügner entpuppt hat. Ich hoffe aber, dass in der Erinnerung die guten Momente überwiegen.» Das tun sie. Bei mir ganz bestimmt. Und bei Ihnen?
Donna Leon: Backstage. Diogenes, 256 Seiten, 34.00 Franken; ISBN 978-3-257-07327-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257073270
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