Buchtipp

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Am Ende
Das ist das beste Buch über Kreativität, das mir bis anhin in die Hände gekommen ist. Schon die Form ist kreativ: Jean-Remy von Matt hat Wissenswertes und Anekdoten aus seinem kreativen Leben (oder seinem Leben als Kreativem) in einzelnen Kapiteln aufgeschrieben. Die Texte hat er einer persönlich ausgewählten Jury vorgelegt. Die hat die Kapitel auf einer 10er-Skala bewertet. Kapitel, die unter einer 5,0 landeten, flogen aus dem Buch. Die übriggebliebenen 77 Kapitel finden sich nach dem Ranking in absteigender Reihenfolge im Buch. Anders gesagt: Das Buch wird beim Lesen immer schlechter. Sagt Jean-Remy von Matt.
Sein Buch versteht er als sein «autobiographisches Schlusswort». Als Werber hat er alles erreicht. Er ist 1952 in der Schweiz geboren und hat das Internat im Kloster Einsiedeln besucht. Er erlebte es als Gefängnis. 1991 gründete er zusammen mit Holger Jung die Agentur Jung von Matt. Die Agentur hat sich mit Kampagnen für Edeka, Mercedes-Benz oder Sixt (Angela Merkel im Cabrio) und mit Slogans wie «Bild Dir Deine Meinung», «Wer hat’s erfunden?» oder «Drei, zwei, eins, meins» ins kollektive Gedächtnis geschrieben. Er sagt: Der grösste Feind der Kreativität sei nicht die Ideenlosigkeit, sondern die Mutlosigkeit. Und Bedenken: «Man nennt sie Bedenkenträger, aber in Wirklichkeit sind sie Sargträger – die Sargträger der Innovation. Und die Todfeinde aller Ideen», schreibt er. «Bedenken kommen in Vernunft verpackt daher und wirken erwachsen. Begeisterung dagegen wirkt immer kindlich und macht sich in der rationalen Welt der Wirtschaft verdächtig.» Die «geringsten Überlebenschancen» hätten Ideen in einem «angstgetriebenen Umfeld»: «Täglich sterben sie dort qualvolle Tode. Mal werden sie von Bedenken erstickt, mal werden sie in Diskussionen zu Grabe getragen oder einfach abgeschossen. Sie werden totgetestet oder geraten in einen Hinterhalt von Killerargumenten.»

Vor der künstlichen Intelligenz warnt er: «Unsere Fähigkeit, aus dem Nichts etwas Neues zu schaffen, schrumpft auch deshalb, weil unser Ideen-Instinkt durch künstliche Kreativität sein tägliches Training verliert. Ähnlich haben wir vor zehntausend Jahren durch Sesshaftwerden, Ackerbau und Viehzucht unseren Jagd-Instinkt verloren.» Es sei zwar möglich, dass das, was er sage, nur das «Pfeifen im Walde» sei, aber: «KI ist schneller, günstiger und fleissiger als kreative Menschen. Aber wer sich nur aus den Daten der Vergangenheit ernährt, dem fehlt, was innovative Ideen wirklich ausmacht: der Blick nach vorne. Vorstellungskraft. Fantasie.»
Kreativität, das sei «ein Rohstoff, so kostbar wie verderblich, den man überall gewinnen kann. Das Schiesspulver des Kommunikationszeitalters, die Quelle aller Innovation, der Hebel allen Wachstums. Eine unsichtbare Kraft, die in so vielen Lebensbereichen Wirkung zeigt.» Sein Herzensthema: das gefährliche Leben einer Idee. «Überall wird Kreativität gefordert. Überall heisst es: Wir brauchen mehr Menschen mit Ideen. Tatsächlich brauchen wir etwas anderes: mehr Menschen, die Kreativen vertrauen.» Er sei in seiner Laufbahn Tausende Ideen begegnet, die im Nichts endeten, obwohl sie gut oder sogar sehr gut waren: «Sie endeten im Nichts, weil niemand Glauben, Geld und Geduld in sie investierte. Weil sie in langen Diskussionen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurden oder an Marktforschung zerschellten.» Das Problem auf den Chefetagen ist das Paradoxon jedes Werbers: «Nur was merkwürdig ist, ist auch merkfähig.»
Betreutes Ideenfinden sei durchaus möglich – aber nur bis zur Note ausreichend. Der Bereich darüber bleibe «für die meisten verschlossen. Ihn erreichen nur Menschen, die – sehr vereinfacht formuliert – ihr Gefühl über ihre Vernunft legen können.» Was Kindern leichter gelinge als Erwachsenen, denen «Erziehung, Ausbildung und Beruf – letztlich der Ernst des Lebens – die Freiheit der Fantasie geraubt» habe.
Als Werber griff er oft tief in die Ideenkiste. Gelogen habe er dabei nie: «Früher hiess es oft, dass Werbung lügt, woraus folgt, dass vor allem Werbetexter lügen. Ich behaupte, in meinem Beruf nie gelogen zu haben: Wir geschenkverpacken Fakten. Und wenn dabei etwas stört, kommt ein Schleifchen dran.»

Das Buch wimmelt von Sätzen, die man sich am liebsten ausschneiden und über den Arbeitstisch hängen würde. Etwa: «Werbetexter wären am liebsten Dichter und Denker, in Wahrheit sind sie aber Verdichter und Ausdenker.» Oder: «Es gibt zwei Dinge, die beim Schaffen eines kreativen Werks wichtiger als alles andere sind: den Anfang finden. Und das Ende finden.» Sein Rat: «Beginnt dumm! Es gibt keinen intelligenteren Rat für Ideenschaffende.» Seine Warnung: «Versucht ein kreativer Mensch zu funktionieren, hört er oft auf zu faszinieren.» Seine Feststellung: «Kreativität betritt den Geist am liebsten, wenn er gerade mal keinen Besuch hat und sich entspannt zurücklehnen kann.» Sein Motto: «Wir wollten keine Agentur, in der Zahlen begeistern, sondern eine, in der Begeisterung zählt.» Und zum Schluss ein Satz zum Zeitgeist: «Modern und kreativ sind nicht nur zweierlei, sondern geradezu diametral: modern ist, was sich dem Zeitgeist angepasst hat. Kreativ ist, was sich nichts anpassen will, einen eigenen Weg geht und Charakter zeigt.»
Jean-Remy von Matt: Am Ende. Erlebnisse und Erkenntnisse aus meinem kreativen Leben. Ein Plädoyer für Kreativität vom Gründer der bekanntesten Kreativagentur Deutschlands: Jung von Matt. Econ, 240 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-430-21209-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783430212090
Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/
Basel, 04.08.2025, Matthias Zehnder
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