Fünf Lebensbilder an Stelle eines Wochenkommentars

Publiziert am 6. Oktober 2017 von Matthias Zehnder

Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht Herbstferien. Dafür gibt es aktuelle Lesetipps. Heute: fünf Biografien – also fünf höchst anregende Lebensbilder. Inspirierend sind sie alle, jedes auf seine Weise. Das erste Buch hat mich richtig begeistert – und das fünfte ist im wörtlichen Sinn umwerfend. Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese drei Kommentare der letzten Wochen, die immer noch aktuell sind:

Unsere digitale Masslosigkeit
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/unsere-digitale-masslosigkeit/

Wie die Medien zu Populismus führen
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/wie-die-medien-zu-populismus-fuehren/

Wie die Klimakrise (nicht) verschwinden wird
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/wie-die-klimakrise-nicht-verschwinden-wird/

Vergessen Sie nicht, bei der Lektüre ab und zu auf die Werbung zu klicken. Jeder Klick bringt mir ein paar Rappen. Das ist nicht viel, aber immerhin. Und wenn Sie ein Buch aus meiner eigenen Feder lesen möchten, empfehle ich Ihnen «Die Aufmerksamkeitsfalle. Wie die Medien zu Populismus führen.» Es ist, leider, seit dem Wahlerfolg der AfD in Deutschland besonders aktuell.

Die Bücher sind, wie immer, bei der Buchhandlung Bider&Tanner in Basel vorrätig. Unter jedem Lesetipp finden Sie den Link zum Online-Bestellbereich von Bider&Tanner, Sie können aber auch einfach in der Buchhandlung nach den Büchern fragen. Sie sind alle vorrätig.

Wenn Sie die Bücher lieber als Kindle-E-Book von Amazon lesen möchten, finden Sie einen entsprechenden Bestelllink ebenfalls unter dem Tipp.

Aber jetzt zu den fünf Lektüretipps.

Die erste Biografie handelt von einem der wichtigsten Denker der Neuzeit, dessen Name in aller Munde ist, den aber kaum jemand wirklich kennt:

Marx. Der Unvollendete

Marx Der Unvollendete von Juergen Neffe

Er war ein Seher, er hat als erster erkannt, dass sich Kapital nicht als fassbarer Gegenstand, sondern nur in seiner Bewegung begreifen lässt, als Fetisch, dem Leben innezuwohnen scheint, als, wie er selber schrieb, «beseeltes Ungeheuer»: Karl Marx ist wieder aktuell. Viele junge Menschen sehen in ihm nicht mehr den geistigen Übervater der sozialistischen Staaten, sondern den Vordenker und ersten Kritiker des Kapitalismus. Marx war ein revolutionärer Theoretiker – wurde aber immer auch als Theoretiker der Revolution verstanden. Anlässlich des 200 Geburtstags von Karl Marx hat sich Jürgen Neffe aufgemacht, die Spuren des intellektuellen Querkopfs zu erkunden. In einem kongenialen Panorama präsentiert er Leben und Werk des Unermüdlichen. Er schildert packend, wie Marx weder Krankheit und Armut, noch Ehekrisen und Familientragödien davon abhalten, an seinem Werk zu arbeiten. Er analysiert den Kapitalismus als entfesseltes System und sagt die globalisierte Welt der Gegenwart bis hin zur Finanzkrise voraus. Spannend an dem Buch ist, wie Neffe Leben und Werk verwebt und die Theorien von Marx gut verständlich erklärt. Lesen!

Jürgen Neffe: Marx. Der Unvollendete. C. Bertelsmann Verlag, 656 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-570-10273-2

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Die zweite Biografie berichtet von einem Menschen, dessen Lebensgeschichte sich wie ein Gegenentwurf zum Leben von Karl Marx liest:

Peter Thiel

Peter Thiel von Thomas Rappold

Diesen Mann als schillernde Persönlichkeit zu beschreiben, ist eine Untertreibung. Peter Thiel war erfolgreich als Gründer von Paypal und früher Investor von Facebook. Heute ist er einer der einflussreichsten Financiers im Silicon Valley. Anders als viele Techies beschränkt sich Thiuel nicht auf die Technik: Er denkt und handelt politisch. Das höchste Gut ist aus seiner Sicht die persönliche Freiheit. Thiel glaubt nicht mehr daran, dass Freiheit und Demokratie kompatibel sind. Er sieht das Anwachsen des Wohlfartstaats und das Frauenwahlrecht (!) als Grund dafür, dass Kapitalismus und Demokratie zu einem Widerspruch geworden sind. Als Investor konzentriert sich Thiel auf drei Themen, die sich staatlichen Regeln weitgehend entziehen: das Internet, den Weltraum und die Besiedelung der Weltmeere. Seiner Meinung nach ist der Gründergeneration im Silicon Valley die Zukunft abhandengekommen. Es gibt keine grossen Würfe mehr, nur noch kleine, iterative Verbesserungen. Die besten Unternehmen haben sich laut Thiel einen eigenen markt erschaffen, den sie fast monopolistisch dominieren. Das gelang ihm selbst mit Paypal und mit Facebook. Er sagt deshalb, es brauche wieder Gründer, die alles wagen und die Zukunft erobern wollen. Er fördert deshalb junge Leute, die ein Unternehmen gründen, statt zu studieren und bezahlt ihnen fürs Nichtstudieren 100’000 Dollar. Das alles ginge als Marotten eines Internetmilliardärs durch – wenn Thiel nicht zum einflussreichen Tech- und Wirtschaftsberater von Donald Trump aufgestiegen wäre. Wir tun deshalb gut daran, uns mit den Gedanken des Peter Thiel zu beschäftigen – wer weiss, was er alles ins Ohr von Donald Trump flüstert.

Thomas Rappold: Peter Thiel. Facebook, PayPal, Palantir – Wie Peter Thiel die Welt revolutioniert. FinanzBuch Verlag, 336 Seiten, 28.50 Franken, ISBN 978-3-95972-051-9

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Die dritte Biografie handelt von einer Frau, einer Schweizerin, die ihrer Zeit so weit voraus war, dass ihr Leben und ihre Gedanken heute noch verstören:

Iris von Roten. Eine Frau kommt zu früh – noch immer?

Anne-Sophie Keller und Yvonne-Denise Köchli über Iris von Roten

Iris Meyer, verheiratet mit dem Walliser Nationalrat der Katholisch-Konservativen Peter Roten, war die erste, kämpferische Feministin der Schweiz. Mit ihrem Buch «Frauen im Laufgitter» hat sie 1958 den Schweizer Frauen ihre untertänige Rolle um die Ohren geschlagen. Anlässlich des 100. Geburtstags von Iris von Roten zeigt Anne-Sophie Keller anhand zahlreicher Beispiele, wo Iris von Rotens Forderungen noch immer nicht erfüllt sind. Sie beweist damit, wie aktuell Iris von Roten auch für heutige Frauen noch ist – und um wieviel sie ihrer eigenen Zeit voraus war. Yvonne-Denise Köchli hat ihre Biografie «Eine Frau kommt zu früh» von 1992 überarbeitet und aktualisiert. Klar: Seit 1971 dürfen die Frauen in der Schweiz abstimmen und wählen, seit 1981 (erst seit 1981!) sind Frauen in der Verfassung Männern gleichgestellt. Iris von Roten forderte mehr. Sie forderte eine Gleichstellung von Frauen mit Männern in allen Bereichen. Bis heute verdienen Frauen für gleiche Arbeit weniger, in den Führungsetagen der Firmen hat es immer noch viel weniger Frauen als Männer und n der Politik nimmt der Anteil der Frauen eher wieder ab. Sexismus bleibt Alltag, oft in subtilen Formen. Kurz: Iris von Roten zu lesen, lohnt sich noch immer.

Anne-Sophie Keller, Yvonne-Denise Köchli: Iris von Roten. Eine Frau kommt zu früh – noch immer? Xanthippe, 360 Seiten, 41.90 Franken; ISBN: 978-3-905795-55-4

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Die vierte Biografie dreht sich um einen Menschen, dessen Name kaum jemand kennt, dessen Werk und politisches Wirken aber grossen Einfluss auf Europa hatte:

Ralf Dahrendorf

Franziska Meifort über Ralf Dahrendorf

Nein, das ist kein Name, den man gemeinhin kennt. Den Soziologen Jürgen Habermas oder Studentenführer Rudi Dutschke, ja, die kennt man auch in der Schweiz. Aber Ralf Dahrendorf? Dabei gilt Dahrendorf als einer der wichtigsten Intellektuellen Deutschlands des 20. Jahrhunderts. Wer also war Ralf Dahrendorf? Schon die biografischen Stationen sind eindrücklich: Soziologieprofessor, Bildungsreformer, FDP-Politiker, EG-Kommissar, Direktor der London School of Economics, schliesslich Lord und Mitglied im britischen Oberhaus. Wichtiger noch: Dahrendorf ist in Deutschland der Begründer des modernen Liberalismus. Er begründete eine soziologische Konflikt- und Herrschaftstheorie, in der er Konflikte nicht als Störungen begriff, sondern als schöpferische Kräfte des sozialen Wandels. Er war einer der wenigen Professoren, die sich 1968 den Studenten in Diskussionen stellten. Legendär wurde sein Schlagabtausch mit Rudi Dutschke im Januar 1968. Dieses intellektuelle Kräftemessen bildet die Eröffnungsszene der klug recherchierten Biografie von Franziska Meifort. Sie erzählt nicht nur Dahrendorfs Leben, von der Geburt 1929 in Hamburg über die Gefangenschaft in Nazideutschland, die akademische Laufbahn und vor allem die politische Karriere in der FDP. Vor allem erklärt Meifort gut verständlich das Gedankengebäude des deutschen Soziologen, das politisch immer um den Liberalismus kreist. Nach der Lektüre wird man den Namen Ralf Dahrendorf so schnell nicht vergessen. Die treffendste Bezeichnung für ihn wäre wohl: ein grosser, europäischer Intellektueller.

Franziska Meifort: Ralf Dahrendorf. Eine Biographie. C.H. Beck, 477 Seiten, 49.50 Franken; ISBN 978-3-406-71397-2

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Die fünfte Biografie schliesslich dreht sich um eine Jahrhundertfigur im wörtlichen Sinn: Das Lebensbild umspannt genau 100 Jahre – und mindestens so viele Gedanken.

Lévi-Strauss

Emmanuelle Loyer über Lévi-Strauss

Dieses Buch ist ein Brocken. Nicht nur äusserlich: Ausserhalb des Fantasy-Regals finden sich Bücher mit über Tausend Seiten eher selten. Vor allem aber inhaltlich: Claude Lévi-Strauss gilt als Begründer des soziologischen Strukturalismus. Er war Wissenschaftler, Schriftsteller, Melancholiker, Ästhet – eine faszinierende Lebensgeschichte, die ein ganzes Jahrhundert umfasst. Und das wörtlich: Claude Lévi-Strauss ist 1908 geboren und im Alter von 100 Jahren 2009 gestorben. Nach dem Studium in Frankreich wurde er von 1934 bis 1937 als Gastprofessor für Soziologie an die Universität von São Paulo entsandt. Es folgte die legendäre Expedition ins Innerste Brasiliens und die Beschäftigung mit Ureinwohnern. Während des Kriegs lebte er in den USA und begründete hier den Strukturalismus. 1945 kehrte er nach Frankreich zurück und schreibt Bücher wie «Traurige Tropen» oder «Das wilde Denken». Die Historikerin Emmanuelle Loyer erzählt dieses Leben als Abenteuer – äusserlich, aber auch intellektuell. Es ist ein wunderbar langsam erzähltes Buch, das einen bei der Lektüre Zeit und Raum vergessen und ganz in die Welt von Claude Lévi-Strauss eintauchen lässt. Es sind Tausend Seiten für Hundert Jahre – und keine einzige zu viel.

Emmanuelle Loyer: Lévi-Strauss – Eine Biographie. Suhrkamp, 1088 Seiten, 78.90 Franken; ISBN 978-3-518-42770-5

https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783518427705

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Basel, 6. Oktber 2017, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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