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Der säkulare Gottesstaat
Regiert der Kapitalismus und damit das Geld die Welt? Nein, sagt Andreas Brenner und schreibt: «Die modernen Staaten orientieren sich immer weniger an dem, was den Kapitalismus gross gemacht hat: die instrumentelle Vernunft zum Zwecke der Interessensmaximierung.» Es geht nicht mehr rational zu unter den Kuppeln der Regierungen, sondern transzendental: Im Zentrum steht nicht die Vernunft und das Zählbare, sondern Ideen der christlich-mittelalterlichen Philosophie. Eine ganze Reihe moderner Staaten entwickelt sich zu dem, was Andreas Brenner «säkulare Gottesstaaten» nennt. Die moderne Gefährdung der Demokratie hat also nicht mit Geld, «dafür umso mehr mit Glauben und der Verteidigung eines quasi-religiösen Verständnisses von Wahrheit zu tun», schreibt Brenner. Er beobachtet «verblüffende Ähnlichkeiten» moderner Staaten mit dem sakralen Staat. Es erstaune deshalb nicht, dass auch der liberale Staat nach dem Heil strebe: «Er orientiert sich an der fernen Zukunft («Klima»), an unrealistischen Zielen («Zero-Emissionen»; «Zero-Virus») oder vagen Ambitionen («Gendergerechtigkeit»).» Demgegenüber werde naheliegenden und konkreten Aufgaben, deren Zielannäherung auch messbar wäre, eine nachrangige Bedeutung zugemessen. Wer sich als Politiker einfache realisierbare Ziele setze, gelte schnell als Technokrat. Dennoch gibt es Unterschiede zum Mittelalter: «Während der sakrale Gottesstaat sich auf etwas – Gott, seine Regeln und Erwartungen – bezieht, ist beim säkularen Gottesstaat nichts mehr übriggeblieben, auf dass er sich beziehen könnte.» Nichts – ausser Krisen: Deshalb rufen Politiker ständig Krisen aus, damit sie «ihre Kraft und Kreativität in der Abwendung von Unheil unter Beweis stellen können».
Seine Diagnose untermauert Brenner mit neun Beobachtungen, die sich an der mittelalterlichen Philosophie und damit an christlicher Theologie und der Philosophie des Aristoteles orientieren. Er beginnt mit der «Adoratio», also der «Anbetung» von Autoritäten und endet mit der «guten Erzählung», den vielen Narrativen. Dazwischen spricht er von «Civitate Dei», also dem säkularen Gottesstaat, vom «Gloria in Excelsis Deo», wie er die «Alles-wird-gut-Society» überschreibt, oder von «Unum Verum», der einen Wahrheit. Denn eigentlich ertragen unsere Gesellschaften Meinungsvielfalt schlecht.
Es sind spannende, oft übers Kreuz gedachte Gedanken. Ganz nebenbei erscheint das Mittelalter zuweilen ganz schön modern. Zum Beispiel die Sache mit der Autorität: Schon Thomas von Aquin schrieb, es gehe beim König um die «geistliche Führung», seine Aufgabe sei es, die Menschen «in den Hafen des ewigen Heils» zu führen. Nichts anders machen die Anführer der Gegenwart. Das versprochene Heil rangiert dabei von Klima-Heil bis zu «Make America Great Again». Vor diesem Hintergrund wird auch klar, schreibt Brenner, «dass gegen eine Herabsetzung der politischen Führung mit harter Hand vorgegangen werden muss: Politiker lächerlich zu machen, kann nicht hingenommen werden und dies nicht zum Schutze der Politiker, sondern um des Amtes willen.» Die (mittelalterliche) Logik dahinter: Wird das Amt in seiner Ernsthaftigkeit herabgewertet, dann kann das Volk vom Amt kein Heil (oder keine Heilung) mehr erwarten. Deshalb ist die Ahndung von Majestätsbeleidigung wieder hoch im Kurs, ganz egal, ob die Majestäten nun Trump oder Habeck heissen.

Andreas Brenner kritisiert in seinem Buch unter anderem die Narrative des säkularen Gottesstaates: So, wie die Erzählungen am Anfang der Religionen standen, machen die Erzählungen in Form von Narrativen den modernen säkularen Gottesstaates aus. Auf den ersten Blick ist das überraschend. Unsere Republiken sind alle Kinder der Aufklärung und das aufgeklärte Denken wollte ja das Denken gerade aus der Umklammerung der religiösen Narrative befreien. Allerdings war auch die Aufklärung von einem mächtigen Narrativ begleitet: Sie brachte Licht ins dunkle Mittelalter. Und bei diesem Lichte besehen ist auch Andreas Brenners These vom modernen Staat als säkularem Gottesstaat – ein Narrativ. Eine spannende Erzählung, die es uns ermöglicht, eine ganze Reihe von Eigenheiten der modernen Welt in einem neuen Licht zu sehen. Vielleicht steckt dahinter gar kein Wandel. Denn die Menschen, das wissen wir spätestens seit Kästner, sind, bei Lichte betrachtet, «noch immer die alten Affen».
Andreas Brenner: Der säkulare Gottesstaat. Königshausen & Neumann, 124 Seiten, 23.90 Franken; ISBN 978-3-8260-9440-8
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783826094408
Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/
Basel, 11.08.2025, Matthias Zehnder
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