
Wie naiv sind Sie – und wie naiv ist die KI?
«In der ersten Halbzeit spielten wir naiv.» Das sagte kürzlich der Trainer des FC Luzern. Seine Defensive wurde vom frischen Angriff des Gegners «richtiggehend vorgeführt». Ähnlich erging es diese Woche dem Schweizerischen Bundesrat: Er wurde von Donald Trump vorgeführt. Der Bundesrat verhandelte mit ihm wie mit einem seriösen Staatsmann. Das war naiv: Die Schweizer hätten wissen müssen, dass man den Mann im Weissen Haus ernst nehmen muss, aber nicht wörtlich. Naivität auf dem Fussballplatz oder im Bundeshaus ist gefährlich: Wer zu naiv ist, lässt sich leicht abzocken, weil er Erwartungen, Machtverhältnisse oder Hintergedanken nicht durchschaut. Der naive Tor ist deshalb eine beliebte Figur in Märchen: Er nimmt alles wörtlich und glaubt, was man ihm sagt. Genau so funktioniert auch die Künstliche Intelligenz: Sie kann nur alles wörtlich nehmen. KI hat keinen Zugang zu Gefühlen und Erwartungen, Machtverhältnissen oder Hintergedanken. Und doch: Naivität hat auch gute Seiten. «Es war eine Mischung aus Tatendrang und Naivität», sagte diese Woche Thierry Kneissler in der «Schweizer Familie» rückblickend über die Erfindung von Twint. Wie ihm geht es vielen Erfindern: Ohne Enthusiasmus und Naivität entsteht nie etwas Neues. Ist es also doch gut, manchmal naiv zu sein?
Hans hat sieben Jahre lang hart gearbeitet. Als Lohn dafür erhält er einen Klumpen Gold, so gross wie sein Kopf und macht sich damit auf den Heimweg. Der Goldklumpen drückt schwer auf seine Schultern. Als er einem Reiter begegnet, der frisch und fröhlich vorbeitrabt, seufzt Hans: «Ach, wie schön ist doch das Reiten!» Der Reiter hält an und ruft: «Ei, Hans, warum gehst du auch zu Fuss?» Hans erklärt, dass er einen Klumpen Gold schleppen müsse. «Weisst du was?», sagt da der Reiter, «lass uns doch tauschen: Ich gebe dir mein Pferd, und du gibst mir deinen Klumpen.» Sie haben die Geschichte sicher erkannt: Es ist «Hans im Glück», eines der Märchen der Gebrüder Grimm.
Hans ist der Prototyp des naiven Helden. Auf dem Heimweg von seinem Arbeitgeber tauscht er das Gold erst gegen ein Pferd, dann das Pferd gegen eine Kuh, die gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und die gegen einen Schleifstein. Und der plumpst ihm, als er trinken will, in einen Brunnen. Jeder normale Mensch hätte längst gemerkt, dass Hans schlechte Geschäfte macht und jetzt einen Totalverlust erlitten hat. Nicht so Hans: Als der Schleifstein in den Brunnen fällt, springt er auf vor Freude und dankt Gott mit Tränen in den Augen, dass er ihn von dem schweren Stein befreit habe. Es gebe keinen glücklicheren Menschen als ihn, ruft er aus. Das Märchen endet mit dem Satz: «Mit leichtem Herzen und frei von aller Last ging er weiter, bis er daheim bei seiner Mutter war.»
Rotkäppchen und des Kaisers Kleider
Hans wird von jedem Menschen, dem er begegnet, übervorteilt und übers Ohr gehauen. Und doch hat Hans am Ende das Wertvollste gewonnen, was ein Mensch sich vorstellen kann: Er ist «frei von aller Last». Das Märchen von Hans im Glück bringt die Zweideutigkeit der Naivität deshalb gut auf den Punkt.

In Märchen spielt Naivität eine grosse Rolle. Rotkäppchen ist naiv, glaubt dem bösen Wolf – und wird prompt gefressen. In «Des Kaisers neue Kleider» bringt die Naivität eines Kindes die Wahrheit ans Licht, weil die Erwachsene aus Angst oder Eigennutz nicht hinsehen wollen. Und das tapfere Schneiderlein hätte ohne eine gute Portion Naivität den Kampf gegen Riesen und Monster wohl gar nicht erst begonnen.
Diese Geschichten zeigen: Naivität hat zwei Seiten: Sie kann blind machen gegenüber der Realität – aber gerade diese Blindheit ist die Bedingung dafür, dass ein Mensch es wagt, sich in ein Abenteuer zu stürzen, für eine Erfindung zu kämpfen oder kreativ zu sein. Es gibt also eine negative und eine positive Dimension der Naivität.
Die positive Seite: Naivität als Unvoreingenommenheit
Positiv ist Naivität, wenn sie uns die Welt mit offenen Augen und ohne Vorurteile sehen lässt. Wenn wir Eindrücke nicht sofort in Schubladen stecken, sondern sie unmittelbar aufnehmen. Diese Form der Naivität ermöglicht ein offenes, ursprüngliches Verhältnis zur Wirklichkeit.
Es ist die Naivität der Künstler, von der zum Beispiel Schiller spricht und die Jean-Jacques Rousseau idealisiert: Sie ermöglicht Kreativität, Neugier und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen.
Die negative Seite: Naivität als Nichtgewachsenheit
Dieselbe Offenheit kann aber auch gefährlich sein: Fehlen Erfahrung und Reflexion, wird Naivität zur Unreife. Dann fehlt der Blick für die Komplexität der Welt und ihre Gefahren.
Wer in diesem Sinne zu naiv ist, lässt sich manipulieren, weil er die Welt wörtlich nimmt und den doppelten Boden nicht sieht. Er ist naiv, weil er Erwartungen, Machtverhältnisse oder Hintergedanken nicht durchschaut.
Naivität und Wörtlichkeit
Naiv ist, wer die Welt zu wörtlich nimmt. In Bezug auf die Sprache heisst das: Naiv ist, wer Worte nicht als Zeichen für etwas anderes versteht, sondern Wort für Wort für die Sache selbst hält.
Interessant ist das, weil die Künstliche Intelligenz genau so arbeitet: Die KI kennt nur Zeichen, keine Bedeutungen. KI-Modelle wie GPT sind Wahrscheinlichkeitsmaschinen, die ausschliesslich auf der Zeichenebene der Sprache arbeiten. Sie schmecken Honig nicht, sehen Rot nicht als Farbe und fühlen keinen Schmerz – Kunststück: sie haben ja auch kein Herz. Für die KI ist alles nur Text. Sie kann die Welt also nur wörtlich nehmen, weil sie nichts anderes hat als Worte.

Kinder, Hans im Glück, Künstler – sie alle sind naiv im besten Sinne: sie sind gutgläubig. Aus dieser Gutgläubigkeit schöpfen sie den Mut, um kreativ zu sein, Neues zu wagen oder, als Kind, einfach in die Welt hinauszuziehen.
Die strukturelle Naivität der KI
Die Naivität der KI ist etwas ganz anders: Sie ist strukturell. Die Maschine kann nichts kennen ausser Oberfläche. Sie hat sich nicht die Welt angeeignet, sondern nur die Sprache – und zwar nur die Zeichenebene der Sprache. Diesen Teil der Welt beherrscht sie mit Statistik und superschnellen Prozessoren.
Die KI ist sensationell gut, wenn es um Plausibilität und Wahrscheinlichkeit geht. Aber sie ist blind für die Bedeutung der Sprache, für Kontext, Ironie und Absicht. Also für all das, was jenseits eines naiven Wortverständnisses in unseren Köpfen, Herzen und Bäuchen passiert, wenn wir miteinander reden.
Die KI ist also strukturell naiv.
Wir Menschen wiederum sind naiv, wenn wir sie behandeln, als wäre sie ein Mensch – oder als wäre sie nur ein harmloser Algorithmus. In Wahrheit ist sie etwas dazwischen: ein System, das wie ein Mensch spricht, ohne einer zu sein. Genau das macht den Umgang mit ihr so heikel.
Mit Herz und Verstand
Bei uns Menschen ist die Naivität mit dem Herzen verbunden: mit Gefühlen und Empathie, Leidenschaften und Gutgläubigkeit. Ohne einen Schuss davon würden wir vieles gar nicht wagen – ohne ein wenig Abgeklärtheit würden wir vieles nicht überstehen. Zu viel Naivität macht uns verletzlich, zu wenig macht uns zynisch.
Die Naivität der KI ist ganz anders gelagert: Ihre Naivität besteht aus einem Mangel an Herz. Die KI ist naiv, indem sie die Welt wörtlich nimmt, weil sie nicht über Gefühle und Empathie verfügt. Wer mit ihr arbeitet, muss das ausgleichen.
Darum: Nutzen Sie die KI mit Verstand – also nur dann, wenn Sie die Ergebnisse der KI selber beurteilen und damit verantworten können. Nutzen Sie die KI mit Herz – also so, dass Sie die KI mit Ihren Leidenschaften und Gefühlen steuern. Und nutzen Sie sie mit Augenmass – damit Ihnen selber die Fähigkeiten, die Sie an die KI auslagern, nicht abhanden kommen.
Seien Sie nicht naiv im Umgang mit KI – die KI ist schon naiv genug.
Basel, 08.08.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen:
Ariosa, Leonid Leiva (2025): Kommt nun bald die künstliche Superintelligenz? Diese Schwächen machen KI noch zu schaffen, in: Neue Zürcher Zeitung, 2025, https://www.nzz.ch/technologie/von-wegen-superintelligenz-ki-hat-noch-zu-viele-schwaechen-als-dass-sie-die-kluegsten-experten-ersetzen-koennte-ld.1872805 [11.07.2025].
Bedrischka-Bös, Barbara; Stiefenhofer, Martin; Grimm, Wilhelm (2012): Meine wunderbare Märchenwelt: die schönsten Märchen der Brüder Grimm, hrsg. v. Jacob Grimm, 1. Aufl, Freiburg Basel, Wien 2012 Die schönsten Märchen der Brüder Grimm.
Killian, Nicolas; Tremlett, Rose; Lenzen, Timo (2025): ChatGPT: Was die Deutschen ChatGPT fragen, in: Die Zeit, 2025, https://www.zeit.de/digital/internet/2025-04/chatgpt-ki-europa-deutschland-anfragen-beziehung [16.05.2025].
Metz, Cade (2025): Why We’re Unlikely to Get Artificial General Intelligence Anytime Soon, in: The New York Times, 2025, https://www.nytimes.com/2025/05/16/technology/what-is-agi.html [18.05.2025].
online, heise (2025): AI Slop: Die Schattenseite der KI-Revolution, 2025, https://www.heise.de/news/AI-Slop-Die-Schattenseite-der-KI-Revolution-10459480.html [25.06.2025].
Andersen, Hans Christian; Svend, Otto S. (Hgg.): Die schönsten Märchen, 5. Aufl, Oldenburg 2010.
Urteil Bundesverwaltungsgericht: KI-Systeme können nicht erfinden, 2025, https://www.srf.ch/news/schweiz/kein-patent-auf-ki-erfindung-bundesverwaltungsgericht-ki-systeme-koennen-nicht-erfinden [04.07.2025].
Your Brain on ChatGPT: Accumulation of Cognitive Debt when Using an AI Assistant for Essay Writing Task, https://www.brainonllm.com/ [02.08.2025].
3 Kommentare zu "Wie naiv sind Sie – und wie naiv ist die KI?"
In Schlaraffenländern wie der Schweiz leben viele im Überfluss und nennen es Wohlstand. Er geht zum Teil auf Kosten von anderen auf dieser Erde und unserer aller Mitwelt. Es ist ein Wohlstand, der eher auf Schlauheit denn auf Weisheit basiert. So wie die KI.
„Die KI ist sensationell gut, wenn es um Plausibilität und Wahrscheinlichkeit geht. Aber sie ist blind für die Bedeutung der Sprache, für Kontext, Ironie und Absicht. Also für all das, was jenseits eines naiven Wortverständnisses in unseren Köpfen, Herzen und Bäuchen passiert, wenn wir miteinander reden.“
Für Herz und Bauch stimme ich dem zu, für Kopf nicht. Wenn ich mich beim Lesen eines Textes an einer Ironie ergötze – mit Herz und Bauch – bleibt die KI außen vor. Aber – nennen wir es den intellektuellen Genuß – kann ich dialogisch durchaus teilen.
Quod est demonstrandum!
https://chatgpt.com/share/68970ac3-66c4-8006-bd47-6128abe796bb
Naiv – ist man das, wenn man zum Gespräch zwischen den beiden Grossmächten und deren Staatsmänner D. Trump und V. Putin in Alaska am 15. August glaubt. Wenn man an das Gute dabei denkt. Wenn man Hoffnung schöpft. Wenn zwei Menschen reden und dabei mit Gottes Hilfe Frieden raus kommt. Das Sterben aufhört. Das Leiden der Menschen, Tiere, der Luft, Wasser, der gesamten Natur. Wenn man dankt, dass das Gesrpräch stattfindet und geführt wird. Begegnen anstatt Krieg. Sprechen anstatt stumm und abwehrend…
Naiv – NEIN – sonst können wir auf dieser Welt einpacken. Solche Worte veröffentlichte ich in der BaZ, inkl. Tagi…. 29 Daumen hoch – und über 139 Daumen nach unten…. In diversen Blogs und Online-Kommentaren werden solche Zeilen gelöscht….
Es passt nicht – da Trump sowie Putin finster-böse…. Die Ideologie ist wichtiger als der Funke des Lichtes, der Liebe, des Hellen für unsere Mutter Erde – welches noch immer über das Böse gewann…
Naiv?
Das war ich, als ich an einem Sonntag einem Spezialarzt anrief vor Jahren. Nein – da geht doch keiner ran ans Telefon spotteten alle…. Doch der Arzt nahm direkt ab – und rettete damals mein Leben….
Naiv?
Schaden und Leid, welche mir die linke Politik des Kantons Basel-Stadt zufügte – klagte ich vielen. Ideologisch entschieden, finanziell fast zerstört – und ein Hilfeschein nahm mich mir an – und befreite mich mit Hilf und Gab aus meinem Würgegriff….
Das kannst Du vergessen – „Märli“ gibt es nicht – oh doch – Glauben an das Gute – ohne das geht es nicht – Glauben versetzt Berge. Gedanken steuern die Realität… Doch mit der BaZ-Tagi-Leserschaft wird das wohl nichts… Doch es gibt sie noch, die Naiven welche wissen das Gutes immer obsiegt….
Glauben wir an Putin (!), an Trump (!), oder anders gesagt an den
F R I E D E N….
(Danke für das Veröffentlichen.)