
Sommergedanken: Westen – Wohin das Licht geht
Wenn am Abend im Westen die untergehende Sonne den Himmel entzündet und in allen Rottönen zum Leuchten bringt, entflammen auch unsere Herzen: Es gibt nichts Schöneres. Ich erinnere mich, wie ich als Teenager die ersten Ferien am Atlantik verbrachte und mit Liedern von Jean-Jacques Goldmann im Ohr zum ersten Mal die Sonne im Atlantik versinken sah. Nie war die Sehnsucht grösser als in diesem Moment: die Sehnsucht, der Sonne nachzureisen, nach Westen, wohin das Licht geht.
Ich hätte damals nicht sagen können, wohin es mich zog. Ich wusste nur: hinaus, aufs Meer, in die Weite. Wie Udo Lindenberg singt: «Hinterm Horizont geht’s weiter». Das ist es wohl, das uralte Sehnen nach Aufbruch und Freiheit, dem schon unsere Vorfahren folgten, über das Meer und hinter den Horizont, um jenseits davon die mythische «Neue Welt» zu finden.
Diese Sehnsucht nach Westen ist uralt. Schon um das Jahr 1000 segelten waagemutige Wikinger gen Westen – und trafen schliesslich auf Land. Wahrscheinlich war es Leif Eriksson, der mit seinen Leuten Neufundland erreichte. Fast fünfhundert Jahre später glaubte Christoph Columbus, den westlichen Seeweg nach Indien gefunden zu haben, als er in der Karibik an Land ging.
Seine «Entdeckung» von Amerika brachte die Phantasie der Europäer zum Glühen: der Westen wurde zum Inbegriff für die Suche nach dem Glück. Allerdings meist auf Kosten von anderen: die Kolonialisierung, Missionierung und Ausbeutung Amerikas hatte katastrophalen Folgen für die indigene Bevölkerung.
Als Teenager begegnete mir diese Welt des Westens in Büchern und Abenteuergeschichten über den «Wilden Westen». Sie vermengten sich mit dem kulturellen Export aus Amerika: Musik, Filme und Literatur begannen das alte Europa zu prägen – und natürlich auch meine Vorstellung vom Leben.
Damals war mir nicht bewusst, dass die Gründungsväter der USA versuchten, die Ideale der Aufklärung zu verwirklichen. Dieser «Westen» stand für Individualismus, Rationalität, Fortschritt – für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und liberale Werte. So wurde der Westen zum Projekt einer fortschrittlich-freiheitlichen Zukunft, das den Osten mit seinen Traditionen und engen Vorstellungen in der Vergangenheit versinken lassen wollte.
Doch schon damals war uns die Kehrseite dieses «Westens» bewusst: Coca Cola, Hollywood und die US Army galten als Symbole für Dekadenz, Überheblichkeit und einen unverhohlenen Machtanspruch. In den Kinos lief «Hair» von Miloš Forman – die Filmversion des Musicals über den Widerstand gegen den Vietnamkrieg. Die Ideale des Westens erschienen uns schon damals als ausgebrannt.

Damals war die Welt noch durch den Eisernen Vorhang geteilt in «den Osten» und «den Westen». Doch wir fühlten uns diesem Westen schon weniger zugehörig als unsere Eltern. Heute, Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer, gilt das erst recht: Zum sogenannten Westen zählen inzwischen auch Staaten mit autoritären Tendenzen und antiaufklärerischer Rhetorik. Und ich frage mich: Was bedeutet «Westen» heute überhaupt noch?
Der Westen steht für beides: für Abend und Abschied, für den Untergang der Sonne, für Schatten – und für Weite, Freiheit und das Jenseits hinter dem Horizont.
Wenn ich heute wieder am Meer stehe und der Sonne zusehe, wie sie «untergeht», packt mich manchmal noch immer dieses alte Sehnen nach Aufbruch und Freiheit. In der Symbolik von C. G. Jung wird der Westen zum Raum des Fühlens und des Loslassens – ein Tor des Rückzugs, der Ort der Integration des Unbewussten.
Vielleicht ist es das: Der Westen ist nicht das Ziel, sondern eine Chiffre – für das Loslassen, das Freimachen, für den Übergang. Die Sonne geht nicht unter im Westen. Die Erde dreht sich von ihr weg – und verwandelt mit einem farbenprächtigen Übergang den Tag zur Nacht.
Der Westen ist nicht das Ende, sondern der Übergang. Das Sehnen aber bleibt.
11.07.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen:
Jung, C. G. (1950). Psychologie und Alchemie. In: Gesammelte Werke, Band 12. Olten: Walter-Verlag.
Jung, C. G. (1954). Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten. In: Gesammelte Werke, Band 9/1. Olten: Walter-Verlag.
Ein Kommentar zu "Sommergedanken: Westen – Wohin das Licht geht"
Ob im Osten oder Westen,
ob im Norden oder Süden:
Mögen wir uns mögen.
Im Hier und Jetzt und so, wie wir sind.
Mögen wir von innen heilen und ganz werden.
Mit Lebenskraft von der Erde.
Mit der Liebe in unseren Herzen.
Mit dem Gold in unseren Seelen.