
Was machen all die Bilder in meinem Kopf?
Letzte Woche habe ich mich hier gefragt, was nach der Lektüre eines Buchs die Figuren in unseren Köpfen machen. Von Old Shatterhand bis Stiller, von Heidi bis Anna Karenina – es ist ein buntes Völklein, das sich in meinem Kopf tummelt. Wir sollten deshalb vorsichtig sein, was wir lesen: Die Figuren nisten sich in unseren Köpfen ein und leben da weiter. Natürlich gilt das nicht nur für die Heldinnen und Helden der Geschichten, die wir uns zu eigen machen. Ganz besonders gilt das für die Bilder, die wir betrachten. Bilder sind Seelennahrung. Platon spricht im Politeia von der Notwendigkeit, die Seele vor schädlichen «Speisen» zu bewahren. Literarische Bilder konstruieren wir selbst. Es sind innere Bilder, die vieldeutig und persönlich sind. Das Unvorstellbare bleibt dabei genau das: nicht vorstellbar.
Anders die Bilder, denen wir in der Welt begegnen: Sie konfrontieren uns mit Szenen, Ansichten und Visionen, die mit uns oft nichts zu tun haben. Das ist manchmal lehrreich, oft nichtssagend und zuweilen belastend. Denn es können Bilder sein, die wir uns nicht vorstellen können. Mit all diesen Bildern, die wir aufnehmen, füttern wir direkt unser Bewusstsein. Und nicht nur das: Für C. G. Jung sind Bilder die Sprache des Unbewussten. Sie formen Archetypen und kollektive Vorstellungen.
Bilder, die wir sehen, «verstoffwechseln» wir also psychisch. Manche stärken und bereichern uns. Andere liegen uns schwer auf der Seele, ja vergiften uns. Ich denke vor allem an Bilder, die Gewalt zeigen, aber auch Werbung und Propaganda. Ich vermute, wie unser Magen-Darm-Trakt muss auch unsere Seele das, was wir aufnehmen, verdauen. Das braucht Zeit, Distanz, Kapazität zur Verarbeitung – und manchmal auch eine Pause: Bilderfasten.
Ich stelle mir die Welt von Platon und Sokrates vor, die Zeit der Griechen, Römer und Karthager vor fast zweieinhalbtausend Jahren. Sicher waren Städte schon damals laut und intensiv, voller Menschen, Lärm und Gerüche (um es milde auszudrücken). Die Tempel, deren Ruinen aus Marmor oder Kalkstein wir heute ehrfürchtig bestaunen, waren bunt bemalt. Ich stelle mir vor, wie der Rauch der Opferfeuer die Anlagen durchzog. Musiker und Tänzer sorgten für Unterhaltung. Strassenhändler boten lautstark Datteln, Nüsse und getrocknete Weinbeeren feil. Auch die Welt vor zwei Jahrtausenden konnte bunt und laut sein.

Die Bilderwelt von damals war aber geradezu idyllisch, weil sie unmittelbar war. Heute leben wir vor allem in einer vermittelten Welt und sind einem steten Bilderstrom ausgesetzt, der uns heute über unsere Mobiltelefone, Computer, Tablets und Fernseher erreicht. Wir leben in der Welt der Millionen Kanäle und haben das, was Neil Postman und Marshall McLuhan als Dystopie beschrieben haben, längst weit hinter uns gelassen. Wir sind ununterbrochen von Bildern umgeben. Sie werden uns eingeflösst von unseren Bildschirmen, ohne Unterlass fast Tag und Nacht.
All die Bilder wirken stärker und schneller als Texte. Die Psychologie bezeichnet das als «picture superiority effect». Für unser Bewusstsein werden die Bilder zu geistigem Junkfood: schnell konsumierbar, aber gehaltlos und, vielleicht, schädlich. Neil Postman warnte noch ironisch davor, dass wir uns dereinst zu Tode amüsieren. Die Realität hat sein Zerrbild längst überholt. Denn zu den vielen Fotos gesellt sich jetzt eine Lawine von KI-Bildern: Die Farben überdreht, die Mimik zu Grimassen verzerrt überrollen sie unser Bewusstsein. Und vermutlich prägen sie dabei unser Denken, ganz sicher unsere Seele.

Antonello da Messina: Maria Annunziata, um 1475. Öl auf Holz. Galleria Regionale della Sicilia, Palermo.
Ich stelle mir vor, dass sich in meinem Kopf (oder in meinem Herzen) eine Galerie befindet: eine unendliche Galerie der Bilder, die ich aufgenommen habe. In meiner inneren Galerie hängen Meisterwerke wie «Annunziata» von Antonello da Messina, die mir besser gefällt als Mona Lisa, die Bilder, die Hodler von Valentine Godé-Darel malte, die Judith von Caravaggio, aber auch Bilder von Bergen und dem Meer, ein Steinbock im Engadin, Erinnerungen an die Kindheit, Blumen, die Sterne im Nachthimmel über Vals. Und dann hat es in meiner inneren Galerie viele, viele Nachrichtenbilder. Flugzeuge, die ins World Trade Center krachen, Elisabeth Kopp am Telefon, Unfälle, Trump, das Hubble-Teleskop, ein Anschlag in Norwegen.
Ich frage mich, was all die Bilder in meinem Kopf machen. Haben sich Elisabeth Kopp und Mona Lisa angefreundet? Schaut Maria Annunziata durchs Teleskop in die Unendlichkeit? Wer kümmert sich um die Bilder in meinem Kopf? Mir wird schlagartig klar: Wir selbst sind die Kuratoren unserer inneren Galerie. Wenn wir es nicht sind, bestimmen andere, Medienkonzerne, Unternehmen, Werber und vor allem Algorithmen, welche Bilder in unseren Köpfen hängen bleiben.
Michael Ende wusste um die Bedeutung der inneren Bilder. Sein Vater Edgar Ende war surrealistischer Kunstmaler. Er sass zuweilen stundenlang im dunklen Atelier und wartete darauf, dass vor seinem inneren Auge ein Bild erschien. Bevor es sich verflüchtigen konnte, zeichnete er es rasch in sein Notizbuch. Er hatte sich dafür einen speziellen Stift entwickelt, der mit einem kleinen Lämpchen ausgerüstet war.
Ich fürchte, wenn wir das heute machen würden, käme es nur zur Wiederholung einer Werbesendung. Unsere Köpfe sind zu Bilderhalden geworden: Meister Propper und der Marlboro Man, Kaffee mit George Clooney und Roger Federer, Fertigpizza und Autos, aber auch Drohnen und Demonstrationen, Krieg, Hunger, Elend – eine endlose Wiederholung all der Werbe- und Nachrichtenbilder. Ich glaube deshalb, dass wir uns mehr um unsere innere Galerie kümmern sollten.
Das ist gar nicht so einfach. In einer Welt voller Bilder und Medien ist es schwierig, Mass zu halten und schöne Bilder zu finden. Ich selbst brauche dafür Natur und Weite, Meer und Berge, also Landschaften, in denen das Auge ohne Ablenkung schweifen kann, aber auch Kunst und Kultur, Gemälde, Streetart, Skulpturen. Ein Gemälde wie die «Annunziata» von Antonello da Messina wirkt reinigend, belebend, klärend – wie ein Ingwershot und ein Espresso am Morgen. Man würde es ihr gar nicht zutrauen.

«Du bist, was Du isst», sagt man. Wir sind, was wir lesen und schauen. Wir sollten, wie es Michael Ende für Fantásien beschrieben hat, aufmerksam mit unseren inneren Welten umgehen. Nicht jedes Bild verdient einen Platz in der inneren Galerie. Manchmal braucht es eine Bilderdiät, vielleicht sogar ein Bildfasten: Zeiten ohne Bildschirm, dafür Zeit für einen Spaziergang, in der Natur oder im Museum. Damit neue Bilder für die innere Galerie entstehen können. Und manchmal ist es auch gut, einfach die Augen zu schliessen und wie Edgar Ende einen Spaziergang in der inneren Galerie zu unternehmen, um ein neues Bild zu entdecken.
Und wie können wir mehr Sorge tragen zu unserer inneren Galerie? Indem wir die Bilder, die wir anschauen, so sorgsam wählen wie unser Essen. Erinnern Sie sich an die Zeit, als die Kameras noch Fotoapparate waren, die mit einem Film arbeiteten? 36 Bilder hatten Platz auf einem Film. Damals überlegten wir uns genau, ob wir den Auslöser drücken sollten. Genau so sollten wir mit unseren Augen umgehen.
Sie sind der Kurator Ihres inneren Museums – achten Sie darauf, welche Bilder Sie hereinlassen. Seien Sie wählerisch – Ihr Kopf ist kostbarer als jeder Bildschirm.
03.10.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bleiben Sie auf dem Laufenden:
Hier den Wochenkommentar abonnieren.
- Hinweis auf den neuen Wochenkommentar
- Ein aktueller Sachbuchtipp
- Ein Roman-Tipp
- Das neue Fragebogeninterview
Nur dank Ihrer Unterstützung ist der Wochenkommentar möglich. Herzlichen Dank dafür!
Quellen:
2 Kommentare zu "Was machen all die Bilder in meinem Kopf?"
Wie wahr. Nach der Lektüre eines Buchs werden die Figuren in unseren Köpfen zu Bildern. Zu eigenen Bildern. Vom Lesen und Hören geht es in die Vorstellung.
Auch dem leider kürzlich verstorbene unvergessliche Peter Bichsel ging es so. Er kannte Paris wie seine Hosentasche, obwohl er noch nie dort war. Er hatte eigene, wunderschöne Bilder vom Monmartre-Quartier, vom Quartier Latin, von den Parks aus Büchern, Erzählungen, Romanen.
Deshalb zierte er sich auch so, als er von Dokumentar-Filmer Eric Bergkraut zu einer Reise nach Paris eingeladen wurde. Nur nach langem Zögern stieg er in den Zug und befuhr die alte Ligne 4 der SNCF über Mulhouse, Belfort, Chaumont, Vesoul, Troyes nach Paris. Nach der Ankunft im Gar de l’Est zog es ihn unweigerlich in das damalige Hotel, welches im Gare de l’Est domizilierte, gleich nach dem Hauptausgang links….
Er verliess kaum das Hotelzimmer, war nur auf dem Balkon (Rauchen) und dem Vorplatz des Hauptbahnhofes in einigen dortigen Bistros anzutreffen. Er ging nicht zum Eiffelturm, nicht zur Sacre Coer, auch besuchte er nicht die Tour de France, welche ein paar Strassen weiter beendet wurde. Er hatte Angst, seine Bilder, seine Ideale, seine Romantik von Paris würde zerstört. Erst nach langem bekehren von Bergkraut besuchte er zaghaft und zögerlich, voller Angst wohl, das von Rilke beschriebene Karussell im Jardin de Luxembourg.
Die Bilder im Kopf wollte er nicht verlieren.
Für mich als Weniggereister eine wunderbare Vorstellung und Ausrede…. Die Pyramiden in Agypten… Oh nein, ich will meine Illusion nicht zerstören…. Die Gassen von Rom… Oh nein, ich will meine Vorstellung nicht kaputtmachen (und die echten Römer pflichten bei ob deren dreckigen Zustände heute), der Wilde Westen… Oh nein, ich will nicht dass die Umgebung meiner Romanhelden von der Heftig-Wirklichkeit eingeholt werden….
Danke Peter Bichsel – dafür liebte und kannte er Solothurn – wie ich auch – wunderschöne Stadt.
Die fotografischen Bilder dagegen – man konnte ihnen und kann ihnen heute erst recht nicht mehr trauen. Was wird da manipuliert, die Verantwortlichen können es kaum mehr lassen, weil die technischen Möglichkeiten dafür jetzt gegeben sind…
Bei einem Beitrag über den Atomausstieg berichtete das deutsche öffentlich-rechtliche Zwangs-Gebühren-ZDF mit dem Hintergrundsbild im Studio, welches einen Kühlturm zeigte, aus dem grau-schwarzer Rauch aufstieg.
Damit wollte man den Atomausstieg der D-Regierung bejubeln und die Grünen-Partei für die Wahlen pushen… Das Original-Foto, auf dem dem Kühlturm heller Wasserdampf entwich (nichts anders kommt aus Kühltürmen) wurde grau-schwarz eigefärbt so dass die Zuschauer meinen, es komme Dreck, Rauch und Umweltgift oben raus…
Das ZDF wurde gerügt (wieder einmal), doch das Drecks-Bild mit dem Dreck blieb irgendwie in den Köpfen haften, auch in meinem… so gehen Nachrichten beim ÖRR….
Auch ein Bild-Balken-Diagramm der deutschen öffentlich-rechtlichen Zwangs-Gebühren-Anstalt ARD wurde so verzerrt, dass die SPD mit damals 15% und die AfD mit damals 21% Wähleranteil gleich lange Balken hatten. So sollte suggeriert werden, die SPD sei nicht stärker als die AfD, aber wenigstens gleich stark. So sagten es die gefälschten Balken aus, auf die Zahl unten achtet ja eh niemand…
Aus jeder Pore trieft es, wie links (NDR-Fall J. Ruhs – alles was nicht auf Linie ist wird entfernt) der deutsche Zwangs-Gebühren-ÖRR ist, vom Bild-Diagramm bis zu ZDF-US-Korrespondent E.
Theveßen, der Falschaussagen über Amerika der D-Tagesschau und im ZDF-Talk (bei Markus Lanz) zum Besten gab, und sich jetzt dafür entschuldigen muss… Was ist aus den seriösen Medien geworden?
Das D. Trump vor dem Wahlkampf bildlich stets finster-dunkel hinterlegt wurde, hingegen Ponyhof-Biden farbig brillierte und Harris glitzerfunkelnd strahlte, daran haben sich alle gewöhnt und gehört auch zu den Gefährlichkeiten der heutigen Fotografien.
Als ich klein war, sah ich einen lachenden Totenkopf-Clown auf einem FCB-Sticker an einer Wohnungstüre… Ich konnte tagelang nicht mehr schlafen und sogar heute sehe ich das Ding noch bildlich vor mir. Früher ein Einzelfall, heute – arme Kinder – sprayen die FCB-Umkreise ihre Horror-Clowns in Blau-Rot in Basel-Stadt überall hin. Auf Tramwagen, Lärmschutzwände, Unterführungen, Sandsteinmauern, Lamellenstoren, Markisen und auf Plexiglasscheiben der Weihnachtskrippen im Park… Anmassender, übergriffiger, primitiver gar perverser unausweichlicher Visual-Terror allüberall in Basel-Stadt. Und keiner Tut was. Bildliche Darstellungen und Fotografien werden zu einer Plage mit all ihrer Manipulation…
Behalten wir die schönen Bilder im Kopf.
Hoffentlich haben alle schon blühende Wiesen, plätschernde Bächlein, Seen, Flüsse, Berge und Wälder gesehen – ich gönne es allen.
UND dieses Schöne bildlich speichern können – in der Seele, im Herzen, im Gemüt, dass wenn kein Licht einem mehr funkelt, sie abrufbar sind. Nutzbar sind, sich daran erinnern könnend. Auf das sie Helfen und Helle wiederbringen…. Allen!
Die fotografischen Bilder (und Filme) wandeln sich zur Gefahr und Plage und Manipulation der Massen… Die inneren eigenen Bilder sind (wie die Gedanken) frei und ur-mein…
Mit der allgegenwärtigen Befunkung und Digitalisierung sind es nicht nur Bilder, sondern auch elektromagnetische Spuren, die in unserem Gehirn hinterlegt werden. Im Zusammenhang mit meinen Recherchen für einen Beitrag zum Thema Wissenschaft, habe ich mich unter anderem auch mit dem Artikel «Die Gedanken sind frei … aber mit der globalen Digitalisierung ist es damit vorbei» von Prof. Dr. med. Karl Hecht auseinandergesetzt: https://freiburg.5g-frei.org/wp-content/uploads/Hecht-Karl-Gedanken_Frei_201021.pdf.