Warum Wahrheit eine Glaubenssache ist

Publiziert am 5. November 2021 von Matthias Zehnder

Letzte Woche habe ich an dieser Stelle erklärt, warum Medien nicht so ohne weiteres gegen Fake News helfen. Das grösste Problem habe ich dabei aber ausser Acht gelassen. Wenn wir uns mit Fake News und Desinformation beschäftigen, gehen wir davon aus, dass eine Information wahr oder falsch ist. Schwarz, oder weiss. Und dann sehen wir uns in der Realität mit ganz viel Grau konfrontiert und fragen uns, woher all das Grau gekommen ist. Die Antwort: Es hat mit der Natur der Wahrheit zu tun. Denn in Wahrheit ist die Sache mit der Wahrheit nicht so einfach. Dazu müssen wir zusammen kurz in die Philosophie eintauchen – ein kleiner Crashkurs zur Konstruktion von Wahrheit. Sind Sie bereit?

Medien können uns nicht vor Fake News schützen. Das habe ich letzte Woche an dieser Stelle erläutert. In den vergangenen Tagen habe ich gleich bei zwei Gelegenheiten über Fake News und Wahrheit diskutiert: einmal im Rahmen eines Vortrags darüber, wie (und vor allem warum) Falschinformationen in die Medien kommen und einmal nach einem Vortrag über Wahrheit und Toleranz. Es waren spannende Diskussionen – schön, ist es wieder möglich, sich direkt mit einem Publikum auszutauschen. Eines wurde dabei aber schnell klar: Das mit der Wahrheit ist nicht so einfach, wie wir das auf den ersten Blick meinen. Vielleicht sind deshalb die Auseinandersetzungen rund um Fake News so hart, weil vielen Menschen gar nicht bewusst ist, wie fragil Wahrheiten sind. Schauen wir uns das etwas genauer an.

Wahr ist eine Aussage dann, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Wahrheit ist also ein Ausdruck für ein ganz bestimmtes Verhältnis zwischen Aussagen und der Wirklichkeit: Wenn eine Aussage mit der Wirklichkeit übereinstimmt, dann ist sie wahr. Jetzt sagen Sie vielleicht: Das ist doch trivial – wenn etwas wahr ist, dann stimmt es und das meint dann halt, dass die Aussage mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Doch diese Definition löst unser Problem mit der Wahrheit nicht, es verschafft uns sogar ein noch grösseres Problem: die Frage nach der Wirklichkeit. Was ist diese Wirklichkeit, mit der eine Aussage übereinstimmen soll?

Offensichtlich gibt es eine Wirklichkeit, die unseren Erfahrungen zugänglich ist, eine messbare, objektivierbare Wirklichkeit. Etwa: Das ist ein Tisch. Er ist 90 Zentimeter hoch. Er besteht aus Eichenholz. Der Wahrheitsgehalt solcher Aussagen lässt sich rasch und einfach überprüfen, weil die Wirklichkeit, auf die sich diese Aussagen beziehen, jedermann zugänglich und messbar ist. 

Ebenso einsichtig ist, dass es Wirklichkeiten gibt, die nicht messbar sind, weil sie nicht zugänglich sind. Meine Gefühle zum Beispiel, meine Träume oder meine Erinnerungen. Aus logischer Sicht meinen wir mit dem, was wir in diesen Bereichen mit «Wahrheit» bezeichnen, nicht Wahrheit, sondern Überzeugung, Glaube oder Annahme. Gerade der Glaube zeichnet sich ja dadurch aus, dass ich ihn nicht wissen kann – entsprechend entzieht er sich jenen Prüfmethoden, die wir anlegen müssen, um eine Wahrheit feststellen zu können.

Der Wert des Goldes

Es gibt also eine Wirklichkeit, die ich überprüfen kann wie die Höhe eines Tischs und in der es entsprechend auch eine Wahrheit gibt. Und es gibt eine Wirklichkeit, die sich der Überprüfung entzieht, entsprechend kann ich in diesem Bereich nicht von Wahrheit sprechen. Das Problem ist nun, dass diese beiden Wirklichkeiten viel näher beieinanderliegen, als wir zunächst meinen. Nehmen wir zum Beispiel Gold. Es gibt die messbare Wirklichkeit von Gold: Gold ist ein Metall. Es ist das 79. Element im Periodensystem. Sein Schmelzpunkt liegt bei 1064,18 °C. Das können Sie einfach feststellen, Sie können es nachschlagen oder Sie können es ausprobieren. Egal, wann Sie das tun, das Resultat wird immer dasselbe sein. Es gibt aber noch eine weitere Wirklichkeit von Gold: Ein Gramm Gold ist 53 Franken wert.

Jetzt sagen sie vielleicht: Wunderbar, auch das können wir überprüfen und es ist wahr: Ein Gramm Gold kostet 53 Franken. Das Problem ist nun aber, dass dieser Wert des Goldes absolut nichts mit den chemischen Eigenschaften von Gold zu tun hat. Zum Beispiel verändert er sich ständig: Gold kostet im Moment rund 53 Franken pro Gramm. Im Oktober 2004 waren es weniger als 15 Franken – im August 2020 kletterte der Preis auf 60 Franken. Was ist denn nun der Wert von Gold?

Der Wert ist eine Zuschreibung

Der Wert von Gold ist offensichtlich keine Eigenschaft des Metalls. Dieser Wert des Goldes ist eine Zuschreibung. Er kann sich deshalb ändern. Es ist auch vorstellbar, dass Gold in einem anderen Kontext völlig wertlos ist, etwa während einer Hungersnot. Dass als Zahlungsmittel zum Beispiel Zigaretten an seine Stelle treten, wie das nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland der Fall war. Der Wert des Goldes ist eine Zuschreibung.

Der österreichische Kommunikationswissenschaftler, Psychotherapeut und Philosoph Paul Watzlawick unterscheidet deshalb zwei Wirklichkeiten: eine Wirklichkeit erster Ordnung, die messbar und objektiv zugänglich ist wie die Höhe des Tischs oder der Schmelzpunkt von Gold, und eine Wirklichkeit zweiter Ordnung, die durch Zuschreibung von Sinn, Bedeutung oder Wert an die betreffende Wirklichkeit erster Ordnung konstruiert wird. Sinn, Bedeutung oder Wert einer Sache sind Teil dieser Wirklichkeit zweiter Ordnung.

Die Wirklichkeit als Konstruktion

Diese Wirklichkeit zweiter Ordnung wird vor allem durch Kommunikation gebildet: Wir verständigen uns über die Zuschreibung von Sinn, Bedeutung oder Wert an die betreffende Sache. Zum Beispiel an einer Edelmetallbörse. Diese Zuschreibung kann je nach Kontext oder Zeit variieren, wie das beim Gold der Fall ist. Auf dem Pausenplatz unter Kindern sind vielleicht Glasmurmeln oder ganz bestimmte Fussballkarten von höchstem Wert – ausserhalb des Pausenplatzes sind sie wertlos. Eben: Ihr Wert ist eine Zuschreibung – eine Konstruktion.

Wenn wir das so beschreiben, merken wir, dass wir zwar in einer messbaren und beschreibbaren Wirklichkeit erster Ordnung leben, aber vermutlich geradezu darunter leiden, dass in dieser einen Welt gleichzeitig sehr viele Wirklichkeiten zweiter Ordnung existieren, also sehr viele verschiedene Werte gleichzeitig miteinander konkurrieren, ja in Konflikt stehen, dass wir uns überhaupt nicht einig sind über Sinn und Bedeutung unserer Wirklichkeit – und entsprechend auch nicht über die damit verbundene Wahrheit.

Zuschreibung durch Kommunikation

Die Wahrheiten oder Wirklichkeiten zweiter Ordnung entstehen durch Zuschreibung und das heisst: durch Kommunikation. Im Unterschied dazu ist die Wirklichkeit erster Ordnung direkt erfahrbar. Ein Problem dabei ist, dass die Grenze zwischen diesen Wirklichkeiten nicht immer klar ist. Nehmen wir die aktuellen Diskussionen rund um Covid und das Corona-Virus. Für Ärzte, Virologen und Immunologen beschreiben die Fakten rund um das Corona-Virus selbstverständlich eine Wirklichkeit erster Ordnung: Die Fakten sind jederzeit im Labor überprüfbar, sie sind objektiv zugänglich. Die meisten Menschen haben aber keinen Zugang zu einem Labor. Für sie sind die Fakten rund um Corona nicht Teil einer unmittelbar erfahrbaren Welt, sondern Teil einer durch Kommunikation (zum Beispiel in den Medien) vermittelten Welt. Oder die Menschen, welche die Erde für flach halten: Sie argumentieren, dass es nicht messbar und erlebbar sei, dass unser Planet die Form einer Kugel hat.

Die Beispiele zeigen, dass in der komplexen und komplizierten Welt, in der wir heute leben, wohl nur ein ganz kleiner Teil der Wirklichkeit erster Ordnung direkt erfahrbar und objektivierbar ist. Von der Ansteckbarkeit eines Virus über die Funktionsweise eines Elektroautos bis zu den Umlaufbahnen von Planeten ist uns auch ein grosser Teil der Wirklichkeit erster Ordnung nur durch Vermittlung von Fachleuten und das heisst durch Kommunikation verfügbar. Damit unterscheidet sich dieser Teil der Welt aber nicht mehr von der Wirklichkeit zweiter Ordnung, der Zuschreibung durch Kommunikation.

Verständigungsprobleme mit der Sprache

Und es wird noch schwieriger. Denn zur Verständigung über die Wirklichkeit benötigen wir die Sprache (oder: eine Sprache). Damit betreten wir das nächste Feld der Unsicherheit. Nehmen wir einen Baum. Wenn wir vor einem Baum stehen und sagen: «Das ist ein Baum», dann ist der Satz wahr. Voraussetzung für die Wahrheit dieses Satzes ist nicht nur, dass da tatsächlich ein Baum steht, sondern dass Sie und ich dasselbe mit «Baum» meinen. Denn das Wort «Baum» meint nicht notwendigerweise Baum. Wir haben uns lediglich darauf geeinigt, dass das Geräusch «Baum» und die Buchstaben «B» «A» «U» «M» diese bestimmte Bedeutung haben. Das Wort «Baum» ist also selbst eine Zuschreibung und damit eine Wirklichkeit zweiter Ordnung. 

Die Unsicherheit, die in der Sprache steckt, wird uns bewusst, wenn wir einen Text von einer Sprache in eine andere übersetzen. Etwas, was Computer noch immer schlecht zustande bringen, weil sie sich nur auf der Ebene der Zeichen bewegen können und keinen Zugriff auf die Ebene der Bedeutung haben. Im Grunde stecken dieselben Probleme in jeder Kommunikation: Wir können nie sicher sein, dass unser Gegenüber dasselbe unter den Wörtern versteht wie wir. Den Baum können wir immerhin gemeinsam ansehen, ihn riechen, betasten, fotografieren und uns darüber verständigen. Bei einem Virus oder bei den Gesetzen der Kosmologie geht das nicht – entsprechend grösser sind da die Missverständnisse. Und wenn ich von einem Traum, meinen Wünschen und Überzeugungen rede, geht es schon gar nicht.

Sprache verunsichert die Wirklichkeit

Bei Viren oder entfernten Galaxien sind immerhin Instrumente denkbar, mit deren Hilfe diese Wirklichkeiten objektivierbar werden. Bei Träumen, Wünschen und Gefühlen ist das definitiv nicht möglich. Auch wenn meine Gefühle für mich zweifelsohne Teil meiner Wirklichkeit sind, ist es schwierig, sich über diese Gefühle zu verständigen, weil jeder Mensch in seiner eigenen Gefühlswirklichkeit steckt. Es ist deshalb wohl sinnvoll, neben der Wirklichkeit erster Ordnung und der Wirklichkeit zweiter Ordnung auch eine Wirklichkeit dritter Ordnung zu unterscheiden – die Wirklichkeit des subjektiven Erlebens. Eine Wirklichkeit, die nur mir allein zugänglich ist.

In Bezug auf die Wahrheit heisst das: In der messbaren Wirklichkeit erster Ordnung kann ich Wahrheit feststellen – mit dem erwähnten Problem, dass diese Feststellung selbst notwendigerweise in einer Wirklichkeit zweiter Ordnung erfolgen muss. Die Wirklichkeit zweiter Ordnung entsteht durch Zuschreibungen, also durch Kommunikation. Entsprechend kann ich Wahrheit hier nicht feststellen, ich kann mich nur durch Kommunikation über Wahrheit verständigen. Die Wirklichkeit dritter Ordnung ist die Wirklichkeit des subjektiven Erlebens, also der Gefühle, der Gedanken, des Glaubens. In dieser Wirklichkeit gibt es notwendigerweise keine Wahrheit, die über das Subjekt hinausgeht (es sei denn, wir glauben daran, aber das ist ein anderes Thema).

Wahrheit als Glaubensache

Wir sind von Falschinformation ausgegangen und beim Glauben gelandet und das ist kein Zufall. Wenn Menschen das für wahr halten, was sie glauben, dann sind das keine religiösen Fanatiker, sondern es ist der Normalfall: Wahrheit ist in vielen Bereichen eine Glaubenssache, weil es eine Frage der Zuschreibung ist. Gold ist nur insofern 53 Franken pro Gramm wert, als wir diese Zuschreibung annehmen (oder, etwas plumper formuliert: als wir daran glauben). Das Problem ist, dass wir in einer globalisierten und digitalisierten Gesellschaft leben, also in einer Gesellschaft, in der Zeit und Raum weitgehend bedeutungslos geworden sind. Und das bedeutet, dass es ständig zu Konflikten zwischen ganz unterschiedlichen Zuschreibenden kommt. 

Deshalb wäre Kommunikation so wichtig. Kommunikation zur Verständigung. Zur Verständigung darüber, was wahr ist, vor allem aber zur Verständigung über die unterschiedlichen Perspektiven auf die Wirklichkeit. Wir müssen uns nicht einig werden, aber wir müssen lernen, mit unserer Uneinigkeit umzugehen. Und das ist, mit Verlaub, keine Frage der Lautstärke. 

Und was bedeutet das für Fake News? Es erklärt, warum Falschnachrichten auf so fruchtbaren Boden fallen können: Sie verstehen jetzt, warum im Grunde alle Nachrichten Glaubenssache sind, jenseits davon, ob sie wahr oder falsch sind. 

Basel, 5. November 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jede Woche ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar und einen Buchtipp. Einfach hier klicken. Und wenn Sie den Wochenkommentar unterstützen möchten, finden Sie hier ein Formular, über das Sie spenden können. 

PPS: Wenn Sie den Wochenkommentar nur hören möchten, gibt es jetzt hier eine Audioversion (noch im Experimentalstadium). Hier der Link auf die Apple-Podcast Seite oder direkt auf die Episode:


Quellen

Bild: © KEYSTONE/Florian Brill

Foerster, Heinz von (2007): Wie wir uns erfinden. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag. [; 5.11.2021].

Gold.de (2021): Goldpreis In Schweizer Franken (CHF). In: Gold.de. [https://www.gold.de/kurse/goldpreis/schweizer-franken/; 5.11.2021].

Watzlawick, Paul (1976): Wie wirklich ist die Wirklichkeit? München: Piper.

Watzlawick, Paul (1981): Die Erfundene Wirklichkeit. München: Piper.

Zehnder, Matthias (2021): Warum uns Medien nicht vor Fake News schützen. In: MatthiasZehnder.ch. [https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/warum-uns-medien-nicht-vor-fake-news-schuetzen/; 5.11.2021].

4 Kommentare zu "Warum Wahrheit eine Glaubenssache ist"

  1. Es heisst oben:
    „Kommunikation zur Verständigung“.
    Vom piepsenden Kühlschrank über vibrierende Handy über das beim Abschliessen blinkend-hupende Auto über das pfeifende E-Trotti über die fiepsenden Apple Air-Tag; gut durchdrungen von 24/7 WLAN zuhause, gegart von Bluetooth und gut gegrillt vom 5G Mobilfunk und kross geröstet von SBB/BLT-Funk-Repeater auf Reisen kann der Mensch so keine anständige Kommunikation mehr führen.
    Vom Treppenhaustratsch bis zum Medienjournalist. Vom Kleinen bis zum Grossen. Vom Kindergarten bis zur Weltpolitik.

  2. Vielen Dank, dass ich auf diesem Weg den Vortrag vom ÖRGL (Ökumenischen Religionsgespräch, 3. Nov., Therwil) noch einmal nachlesen konnte ;-). Ich finde Ihre Gedanken auch in der Corona-Debatte wichtig und wertvoll und bin gespannt auf das nächste Thema.

  3. Entscheidend ist, dass man die vorhandenen Fakten möglichst objektiviert darstellt, alle Seiten präsentiert und davon getrennt die eigene Sicht dargelegt, damit der «Konsument» sich selber eine Meinung bilden kann. Nur dies ist professioneller und „ausgegorener“ Journalismus, der glaubwürdig bleibt.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.