Und führe uns nicht in digitale Versuchung

Publiziert am 29. August 2025 von Matthias Zehnder

Letzte Woche habe ich das Glück des Zufalls beschworen: Serendipity – das Finden von etwas, das man nicht gesucht hat. Alexander Fleming entdeckte so das Penicillin, weil eine Petrischale offen stehen blieb und Schimmel seine Bakterien tötete – ein glücklicher Zufall. Das dunkle Gegenstück zur Serendipity ist die Versuchung: eine Begegnung, die uns vom Weg abbringen will. Die Versuchung zieht oder lockt, meist wider besseres Wissen, in eine andere Richtung. Oft steckt in der Versuchung der Gegensatz zwischen Verstand und Gefühlen oder Trieben. Das Glück des Zufalls können wir nur nutzen, wenn wir der Serendipity offen und neugierig begegnen. Bei der Versuchung ist es gerade umgekehrt: Wir bestehen die Versuchung nur, wenn wir stark und stur auf unserem Weg bleiben. Serendipity testet unsere Flexibilität, Versuchung unsere Selbstkontrolle. Das Problem dabei: In der digitalen Welt ist die Versuchung millionenfacher Alltag. Soziale Netze leben davon – auf Kosten unserer Aufmerksamkeit und unserer Freiheit. Was tun?

Bei Eva ging es nur um einen Apfel. Aber der hatte es in sich. Gott hatte Adam und Eva im Garten Eden verboten, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen. Doch da näherte sich Eva mit schmeichelnden Worten die Schlange. Sie stellt Gottes Gebot in Frage und sät Zweifel: «Sollte Gott wirklich verboten haben, von allen Bäumen zu essen?» Dann preist die Schlange die verbotene Frucht: Wer davon koste, werde nicht sterben, sondern erkennen, was gut und böse ist – und selbst göttlich werden. So schildert der grosse, englische Dichter John Milton 1667 in «Paradise Lost» die biblische Versuchung.

 

Das Wort «Versuchung» kommt aus diesem religiös-moralischen Kontext. Eine Versuchung ist eine Prüfungssituation: Etwas zieht oder lockt in eine andere Richtung, meist gegen besseres Wissen. Es versucht, mich zu verführen, mich von meinem Pfad abzubringen. Eine Versuchung ist also die Prüfung der Standhaftigkeit.

Damit ist die Versuchung das düstere Gegenstück zur Serendipity, die das Glück des Zufalls feiert. Serendipity belohnt Offenheit für das Ungeplante. Versuchung dagegen nutzt genau diese Offenheit, um uns ab- oder umzulenken.

Plötzlich war Eva an allem schuld

Die brave Eva in der Bibel hatte gegen die clevere Schlange keine Chance und Adam war ihr auch keine Hilfe. Bei genauer Betrachtung wirft die Geschichte viele Fragen auf: Was hat die Schlange im Paradies überhaupt verloren? Adam und Eva konnten Gut und Böse noch gar nicht unterscheiden – aber weshalb konnten sie sich durch den Biss in die Frucht schuldig machen? Und warum führt Gott seine Geschöpfe überhaupt in Versuchung?

Die Bibel, das sei am Rande bemerkt, gibt darauf keine Antworten. Erst viel später wurde Evas Griff zum Apfel zur «Ursünde» und im Mittelalter zur «Erbsünde» ausgeweitet, die von Generation zu Generation übertragen wird. Plötzlich war Eva an allem schuld – und das nur, weil sie der Versuchung durch die Schlange erlegen ist.

Im zentralen Gebet der Christen, im Vaterunser, bitten die Gläubigen: «… und führe uns nicht in Versuchung.» Noch so eine seltsame Stelle: Die Gläubigen bitten Gott, sie nicht «in Versuchung» zu führen. Also steckt doch Gott hinter den Prüfungen? Reformator Calvin widerspricht: Gott sei nicht der Urheber der Versuchung, lasse aber Prüfungen zu.

Mit dem Gebet bitten die Gläubigen also Gott darum, sie nicht fallen zu lassen, wenn die Prüfung kommt. Papst Franziskus schlug deshalb eine andere Formulierung vor: «Lass uns nicht in Versuchung geraten».

Die Menschen waren schon immer schwach

Warum beginne ich hier bei Adam und Eva? Weil diese uralten biblischen Texte zeigen, dass wir Menschen schwach sind und es schon immer waren: Wir sind nicht stark genug, jeder Versuchung aus eigener Kraft zu widerstehen. Schon die Bibel zeichnet uns nicht als Helden, sondern als verführbare Menschen, die im Moment der Versuchung in Gefahr geraten.

Dabei war die biblische Welt auch ausserhalb des Paradieses noch heil: Heute leben wir vor allem digital in des Teufels Küche. Ob Facebook, YouTube oder Instagram – online lauern Legionen von Schlangen und sie bieten uns, Adam wie Eva, Äpfel im Sekundentakt an. Algorithmen sorgen dafür, dass die digitalen Versuchungen dabei präzise unsere Schwachstellen adressieren.

Die Digitale Versuchung

Das grosse Problem in der digitalen Welt ist das süsse Gift der lockenden Häppchen: Plattformen wie TikTok, YouTube und Facebook wissen erschreckend genau, womit sie uns drankriegen. Ausgefeilte Algorithmen servieren uns unablässig verführerische Inhalte – perfekt zugeschnitten auf unsere Schwachstellen.

Das ist das Gegenteil von Serendipity: Die Algorithmen beseitigen jeden Zufall und sowieso den glücklichen. Es gibt keine Überraschungen mehr, nur noch berechnete Verführung und die Versuchung durch Clickbaits. Dem hält keine Eva lange stand und Adam sowieso nicht.

Jetzt sagen sie vielleicht: Na und? Deswegen werden wir ja wohl nicht aus dem Paradies geworfen. Sie haben vielleicht nicht bemerkt, dass wir schon lange nicht mehr im Paradies stehen, sondern in der Hölle: der zuckersüssen Clickbait-Hölle von digitalen Medien, die uns das Wertvollste stehlen – unsere Zeit und unsere Freiheit.

Algorithmische Versuchung

Die digitale Welt ist auf Aufmerksamkeit gebaut. Algorithmen sortieren Inhalte nicht nach Relevanz oder Wahrheit, sondern nach dem, was die Menschen am stärksten anlockt. Das ist die Logik der Versuchung: «Klick mich! Noch eine Benachrichtigung! Nur noch ein Video!»

Was in der analogen Welt zur glücklichen Entdeckung, dem zufälligen Glück der Serendipity führt, wird in sozialen Medien zur Falle: Autoplay, personalisierte Kaufangebote, endlose Feeds. Unsere Offenheit wird zur Schwäche. Statt Horizonte zu öffnen und neue Ideen anzuregen, führt sie uns in den Sumpf der digitalen Echokammern.

Psychologie der Schwäche

Die digitale Versuchung setzt da an, wo der Mensch am schwächsten ist: beim Lustprinzip. Jedes Like, jede Push-Nachricht aktiviert unser Belohnungssystem und führt zu kleinen Dopamin-Kicks, wie beim Glücksspiel.

Serendipity ist ein unverhofftes Geschenk. Die digitale Versuchung dagegen gezielte Manipulation in die Sucht. Um die kleine Belohnung, den Dopamin-Kick, zu erlangen, bezahlen wir mit Aufmerksamkeit, mit unseren Daten und mitunter mit unserer digitalen Selbstbestimmung.»

Freiheit auf dem Prüfstand

Serendipity belohnt Neugier. Die digitale Verführung prüft Selbstkontrolle. Widerstehen wir den Algorithmen – oder lassen wir uns treiben? Kierkegaard hätte gesagt: Hier zeigt sich, ob wir uns selbst besitzen – oder besessen sind. Die grosse Frage ist also: Wie gewinnen wir unsere Freiheit wieder?

Immer mehr Schulen setzen auf rigide Regeln: Handyverbot auf dem Schulgelände, kein Smartphone während Unterrichtszeiten. Das ist wirksam, erinnert aber an den Zwangsentzug von Süchtigen: Wer mit Alkohol nicht umgehen kann, kann nur ohne leben. Ist das unser aller Perspektive?

Ich fürchte: ja. Wie die Bibel uns schon lehrt: Das Fleisch ist schwach und der Geist nicht besser. In der digitalen Welt gibt es keinen Gott, den wir anflehen können, er möge uns nicht in Versuchung führen. Wir müssen selber schauen, dass wir nicht in Versuchung geraten. Das geht nur, wenn wir uns selber wie Süchtige behandeln.

Das Ziel: der Deep Dive

Das Vorbild der Schulen ist deshalb gar nicht so schlecht: Sie sorgen mit klaren Regeln und indem sie das Handy vorübergehend wegschliessen für Freiheit. Nein, das ist nicht paradox: Es ist die Freiheit des Alkoholikers in der Entzugsklinik. Nur wenn wir wenigstens vorübergehend frei sind von den digitalen Suchtmitteln, gewinnen wir die Freiheit wieder für das Glück des Zufalls, die eigene Phantasie oder eine unverhoffte Begegnung. Was heisst das konkret?

Ziel muss es sein, den «Deep Dive» wieder zu ermöglichen. Das tiefe Eintauchen in ein Buch oder ein Stück Musik, in die eigenen Gedanken beim Wandern oder auch nur in den eigenen Garten. Das ist nur möglich, wenn Sie sich Pausen gönnen von den digitalen Versuchungen, wenn Sie sich also vorübergehend trocken legen.

Drei konkrete Tipps:

  1. Gönnen Sie sich handyfreie Zeiten. Legen Sie das Teil in eine Schublade, wie das die Schüler machen müssen. Oder schalten Sie um auf Flugmodus, wenn Sie sich konzentrieren möchten.
  2. Gönnen Sie sich ungestörte Zeiten zum Eintauchen in die Arbeit, ins Lesen, Spazieren oder was immer Sie gerne tun. Ich hab dann immer Angst, dass ich die Zeit komplett aus den Augen verliere und stelle mir einen Timer – eines der wenigen Dinge, die Siri tatsächlich auf Zuruf fehlerlos erledigt.
  3. Lesen Sie mal wieder ein Buch auf Papier. Lassen Sie sich auf eine Geschichte oder ein gedanklich spannendes Sachbuch ein. Ich biete Ihnen deshalb jede Woche Buchtipps, je ein Roman und ein Sachbuch. Übrigens: Meinen Kommentar könnten Sie sich auf meiner Homepage immer auch als gestaltetes PDF herunterladen und ausdrucken. Damit Sie den Text in Ruhe lesen können, ohne Blingbling.

«Und führe uns nicht in digitale Versuchung» – diese Bitte können wir uns nur selbst erfüllen.

Basel, 29.08.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

Bild: Reflexion eines Bildschirms auf dem Brillenglas eines Mädchens. . (KEYSTONE/Gaetan Bally)

Crawford, Matthew B. (2016): Die Wiedergewinnung des Wirklichen: eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung, übers. v. Stephan Gebauer, Berlin 2016.

Frenkel, Sheera; Kang, Cecilia (2021): Inside Facebook: die hässliche Wahrheit, übers. v. Henning Dedekind, Marlene Fleißig, Frank Lachmann, Hans-Peter Remmler, Deutsche Erstausgabe, Frankfurt am Main 2021.

Galloway, Scott (2020): The Four: die geheime DNA von Amazon, Apple, Facebook und Google, übers. v. Egbert Neumüller, Deutsche Taschenbuchausgabe, Kulmbach 2020.

Huber, Ludwig (2021): Das rationale Tier: eine kognitionsbiologische Spurensuche, Erste Auflage, Berlin 2021.

Jäncke, Lutz (2021): Von der Steinzeit ins Internet: der analoge Mensch in der digitalen Welt, 1. Auflage, Bern 2021.

Melzer, Heike (2024): Versteckte Köder: Die Macht der Belohnungsreize und wie wir uns davon befreien, 1. Auflage, München 2024 Hanser eLibrary.

Schaik, Carel van; Michel, Kai (2016): Das Tagebuch der Menschheit: was die Bibel über unsere Evolution verrät, 4. Aufl, Reinbek bei Hamburg 2016.

Schaik, Carel van; Michel, Kai (2022): Die Wahrheit über Eva: die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern, Hamburg 2022 rororo 00054.

Schaik, Carel van; Michel, Kai  (2023): Mensch sein: von der Evolution für die Zukunft lernen, Hamburg 2023.

Wolf, Maryanne (2019): Schnelles Lesen, langsames Lesen: Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen, München 2019.

Zehnder, Matthias (2019): Die Digitale Kränkung: über die Ersetzbarkeit des Menschen, Zürich 2019 NZZ Libro.

 

5 Kommentare zu "Und führe uns nicht in digitale Versuchung"

  1. Freie Zeit bewusst mit analogen Aktivitäten füllen, klare Grenzen setzen und regelmässig Selbstreflexion üben – das senkt Suchtdruck spürbar und stärkt die Selbstkontrolle.

    Wieder einmal ein hervorstechender Kommentar, Herr Zehnder – prägnant formuliert. DANKE

  2. Auch wenn ich ihrer wöchentlichen Versuchungen erliege, werde ich diese nicht mit dem Apfel und Eva gleichsetzen, s. ihre 3 Tipps zum Relativieren.
    Ihr tief gehender Artikel ist mein „Vater unser“ für‘s
    Wochenende!
    Ruedi

  3. Was wohl Bertolt Brecht zur Digitalisierung meinen und schreiben würde? Dem Vernehmen nach soll derzeit am Theater Basel die Brecht-Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ grandios zelebriert werden. Ob es wohl das Establishment checkt, dass es aktuell konkret und real um den „Aufstieg und Fall der sogenannten westlichen Zivilisation“ geht? – Viele Stücke von Bertolt Brecht habe ich im letzten Jahrhundert mehrmals gelesen und mir etliche auch live als Schauspiel zu Gemüte geführt. Einen seiner Merksätze habe ich soeben in einen Beitrag für DAS BLATT aufgenommen: «Die Erfindungen für Menschen werden unterdrückt, die Erfindungen gegen sie gefördert.» Eine der vielen Wahrheiten, die nach wie vor kaum handlungsorientiert wirksam beachtet werden. Was mich nicht mehr wütend und nur noch traurig macht.

  4. Ein geeignetes Mittel um nicht in die digitale Versuchung geführt zu werden ist mein „Natel-easy“-Abo. Am Kiosk beziehe ich für 10 Fr. eine Pre-Pay-Card. Den Code darauf tippe ich in mein Handy ein und kann – ganz ohne Abo, Rechnungen, Registrierung – für diese 10 Fr. telefonieren. Ein SMS kostet 20 Rp, ein Telefongespräch bis zu einer Stunde 20 Rp, die zweite Stunde 40 Rp….
    Und ins Internet geh ich über WLAN welches uns überall zuverlässig verstrahlt oder für 2 Fr. Abzug pro Tag einen Tag ins Netz….
    So überlegt man sich doppelt, ob man jeden Kram googeln soll, fragt vielleicht mal Mitmenschen nach dem Weg und bekommt gleich noch die besten Beizentipps vor Ort mit… Und im Walde soll und hat es nie WLAN gegeben, dort gehört es nicht hin, sonst muss man ja nicht in Wald…
    Zudem: Brauche ich das Narrenkastl mal 1 oder 2 Wochen nicht, fallen keine Leerlauf-Kosten (z.B. Abo-Kosten) an…
    Ist es denn so schwer. Oder muss man erst 80 Jahre und so weise sein, um dies zu realisieren. Denn so ist etwa das Durschnittsalter meiner Mitgspänli, welche am Kiosk Prepaid-Karten kaufen…. Wie lange bieten wohl die Grosskommunikationskonzerne noch dieses Sinnvoll-Schlupfloch an?….
    Und wenns mich dann doch mal nach You-Tube und Podcast gelüstet, kann ich bequem vom Sofa zuhause z.B. jenen schauen, welcher bierernste Fakten und traurig stimmende Gesellschaft- und Medienthemen grandios humorvoll durchmühlt…. Denn wie bei allem gilt auch im Netz: Qualität vor Quantität… https://www.youtube.com/watch?v=CSzWey0lQuI&t=155s

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