
Süden – Wo das Leben brennt
Im Sommer verwandelt sich die Sonne am Mittag in jenen Feuerball, der sie tatsächlich ist: Um 13 Uhr Sommerzeit steht sie genau im Süden. Es ist der Zenit ihrer täglichen Reise über das Firmament. Die Schatten sind kurz, die Luft flirrt vor Hitze, selbst die Mücken machen eine Pause. Der Süden – das ist die glühende Mitte des Tages, der Moment voller Kraft. Seit jeher steht er deshalb für Reife, Stärke und Fruchtbarkeit – aber auch für Erschöpfung.
Als ich ein kleiner Junge war, versprach der Süden Wärme, Genuss, Freiheit und Sinnlichkeit. Ich erinnere mich an eine Handlung für Früchte und Gemüse, die mit «Südfrüchte» angeschrieben war. Orangen und Zitronen, Ananas und Papaya – fast schon sündhaft süss. Das war der Süden, von dem schon Goethe schwärmte: das Land, wo die Zitronen blühen, wo sich das Temperament zu Leidenschaft, ja Hitze aufbäumt. Goethe und viele, die auf seinen Spuren reisten, suchten im Süden jene Sinnlichkeit, die sie im nüchternen Deutschland vermissten. Die Freiheit, die sie dort fanden, war wohl kaum Wirklichkeit, sondern ergab sich aus der Distanz zur Heimat und ihren Konventionen – zu einem Vaterland, dessen Männer noch Kragen trugen, die «Vatermörder» hiessen.
Sie entdeckten einen Süden, der den Augenblick zelebrierte und den Genuss feierte – ganz im Gegensatz zu den Ländern nördlich der Alpen, wo solche Sinnlichkeit seit der Reformation verpönt war.
Für C.G. Jung steht der Süden symbolisch für das Empfinden. Damit ist nicht Emotion gemeint, sondern etwas Sinnlich-Konkretes: eine körperliche Wahrnehmung der Welt. Der Süden entspricht dieser Präsenz im Moment – ohne Bewertung, ohne Interpretation. Archetypische Figuren dieses Südens sind der Liebhaber, der Künstler und der dionysische Mensch, der sich ganz dem Erleben hingibt. Dabei geht es Jung nicht um blosse Lust, sondern um Empfindung als Tor zur Wirklichkeit: Eine Empfindung sagt nicht, was etwas bedeutet – sondern dass es ist.
Empfindung ist unmittelbar. Sie fragt nicht nach Sinn oder Konvention. Kein Zufall also, dass Thomas Mann seinen Gustav von Aschenbach in Venedig der Faszination eines Knaben erliegen lässt. Und es ist bezeichnend, dass ihn die Hingabe an diese Empfindung zugrunde richtet.
Der mediterrane Süden steht dabei für Wärme und Lebenslust, Körperlichkeit und Sinnlichkeit. Doch das Bild des Südens bleibt nicht auf Italien oder Griechenland beschränkt: Koloniale Projektionen dehnen es aus – erst auf Afrika und die Tropen, schliesslich auf die Südsee. Paul Gauguin malt dort seine Polynesierinnen – und wir wissen heute, dass er sie nicht nur gemalt hat.
Damit wird der Süden zur Projektionsfläche – und ambivalent. Die Südsee etwa gerät zum Inbegriff von Exotik, von Sinnlichkeit und Laszivität. Es lockt das vermeintlich unzivilisierte Leben, das im Norden längst unter Rationalität und Disziplin begraben wurde. Im heissen Süden pulsiert es noch – als Lebensdrang, als Leidenschaft, die nicht selten im Chaos endet.
Inzwischen hat sich das Bild des Südens gewandelt. Der Klimawandel hat ihn zum buchstäblichen Brennpunkt gemacht – meteorologisch wie politisch. Immer mehr junge Menschen fliehen vor den Bränden in ihrer Heimat: vor klimatischen Extremen, vor politischer Instabilität, vor wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit. Ihre Hoffnung richtet sich nach Norden.
Doch Europa sieht in diesem Süden zunehmend eine Bedrohung – und schottet sich ab. Das ist nicht nur kurzsichtig, sondern auch tragisch. Denn kaum eine Region der Welt ist so jung, so dynamisch, so kreativ wie Afrika. Und Europa? Überaltert, erschöpft, reglementiert.
Überhaupt könnten wir von diesem Süden viel lernen – etwa, was Mässigung bedeutet. Das mag paradox klingen, wenn man an die alten Klischees vom überbordenden Süden denkt. Und doch haben die Menschen dort seit jeher verstanden, wie notwendig Pausen sind. Seit auch unsere Sommer so glühend heiss geworden sind, denke ich oft an die Siesta – jene stille Stunde, die in südlichen Ländern keine Schwäche, sondern Überlebensstrategie ist. Bei uns hingegen gilt sie immer noch als Zeichen von Faulheit. Ohne Pause aber wird das Leben zur Überforderung und führt zum Burnout.
Als ich ein kleiner Junge war, schienen mir Südfrüchte der Inbegriff von Sinnlichkeit. Später war es der Süden, ja die Südsee. Heute glaube ich: Wir müssen lernen, hier, bei uns mehr Süden zu leben. Jede Frucht kann zur Südfrucht werden, wenn wir sie wirklich schmecken und geniessen. Jeder Ort kann Südsee sein, wenn wir den Augenblick empfinden. So, wie es C.G. Jung verstand: nicht bewerten, nicht deuten – einfach da sein. Das geht sogar am Rhein.
18.07.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen:
Jung, C. G. (1995). Die Archetypen und das kollektive Unbewusste (13. Aufl.). Walter-Verlag. (Originalarbeit 1934)
Jung, C. G. (1995). Psychologische Typen (14. Aufl.). Walter-Verlag. (Originalarbeit 1921)
Ein Kommentar zu "Süden – Wo das Leben brennt"
Im Süden, wo es brennt, mögen:
Wo Wut mit Hass und Groll verkoppelt ist, Klarheit werden.
Wo Trauer mit Resignation verbunden ist, Liebe werden.
Wo Angst lähmt und Angst macht, Lebenskraft werden. Wo Illusionen sind, wahre Schönheit werden.
Wo Scham ist, Selbstreflexion und Heilung werden.
Mögen wir von ganzem Herzen im Frieden mit uns in der Welt leben, wie sie ist und sein wird.