Serendipity oder das Glück des Zufalls

Publiziert am 22. August 2025 von Matthias Zehnder

Letzte Woche habe ich unseren Gartentisch neu gestrichen. Er hatte es nötig. Als Unterlage habe ich eine alte Ausgabe der «Zeit» verwendet. Beim Streichen ist mir ein Artikel über Reichsbürger aufgefallen – bald legte ich den Pinsel aus der Hand und begann zu lesen. Das ist Serendipity: das glückliche Finden von etwas, das man nicht gesucht hat. Dem Zufall verdanken wir Penicillin, Teflon und Post-it-Zettel. Wir sollten ihn also pflegen. Doch das Gegenteil geschieht: Algorithmen und künstliche Intelligenz filtern beim Surfen, beim Einkaufen, ja sogar bei der Partnersuche das Unerwartete heraus. Wir begegnen fast nur noch dem Erwartbaren und Nützlichen. Dabei verlieren wir nicht nur den Blick über den Rand, sondern auch Inspiration, Anregung – und Glück. Im doppelten Sinn.

Wissenschaft ist, wenn Menschen in einem Labor mit Schutzbrillen und komplizierten Apparaten gezielt nach einer Lösung suchen. Denken die meisten Menschen. In Wirklichkeit spielt oft der Zufall  die Hauptrolle. Alexander Fleming etwa kehrte 1928 aus den Ferien zurück und fand auf dem Labortisch eine Petrischale mit einer verschimmelten Bakterienkultur. Er hatte vor seiner Abreise die Schale auf dem Tisch vergessen. Jetzt stellte er staunend fest, dass ein kleiner, grüner Schimmelpilz die Bakterien zerstört hatte. Die Entdeckung von Penicillin, die vielleicht wichtigste medizinische Entwicklung des 20. Jahrhunderts, war also ein glücklicher Zufall – also Serendipty.

 

Penicillin war nicht die einzige Entdeckung, die wir dem Glück des Zufalls verdanken. 1895 bemerkte Wilhelm Conrad Röntgen, dass eine abgedeckte Platte in der Nähe eines Kathodenstrahlengeräts leuchtete. So stiess er auf unbekannte «X-Strahlen», die bis heute seinen Namen tragen.

Auch Erfindungen entstehen oft zufällig. 1968 entwickelte Spencer Silver bei 3M einen Kleber, der sich ständig wieder löste – ein Fehlversuch. Sein Kollege Art Fry suchte gleichzeitig nach Lesezeichen, die nicht ständig aus dem Gesangbuch fielen. Aus dieser zufälligen Begegnung entstanden die Post-it-Zettel.

Die drei Prinzen aus Serendip

Der Begriff «Serendipity» geht zurück auf das persische Märchen von den «Drei Prinzen von Serendip». Auf ihren Reisen stossen die Prinzen immer wieder auf glückliche Entdeckungen, die sie gar nicht gesucht haben. «Serendip» war übrigens eine alte persische Bezeichnung für Ceylon, das heutige Sri Lanka.

1754 griff Horace Walpole, Autor des ersten Horror-Romans und Sohn des ersten britischen Premierministers, das Märchen auf. In einem seiner rund 3000 Briefe prägte er das Wort «Serendipity» – als Bezeichnung für die Fähigkeit, zufällig glückliche Entdeckungen zu machen.

Später untersuchte der Soziologe Robert K. Merton das Phänomen genauer. In seinem Buch «The Travels and Adventures of Serendipity» beschreibt er Serendipity als Zusammenspiel von Zufall und Scharfsinn – und nennt drei Voraussetzungen dafür:

  1. eine vorbereitete Denkweise: Der Zufall begünstigt diejenigen, die geistig vorbereitet sind. Nur dann erkennen sie die Bedeutung unerwarteter Ereignisse und können sie nutzen.
  2. Offenheit für das Unerwartete: Gleichzeitig brauchen die Wissenschaftler Offenheit gegenüber neuen Ideen und unerwarteten Daten.
  3. Flexibilität: Vom Zufall profitieren nur Wissenschaftler, die flexibel bleiben und bereit sind, unerwartete Ergebnisse als Ausgangspunkte für neue Erkenntnisse betrachten.

Der Zufall im Alltag

Serendipity wirkt nicht nur im Labor. Als Soziologe hat sich Robert K. Merton mit Serendipity im Alltag beschäftigt. Er sagt: Zufällige Begegnungen können neue Beziehungen, Ideen oder Projekte anstossen – besonders dann, wenn unterschiedliche Disziplinen und Menschen aufeinandertreffen. Entscheidend ist, vorbereitet zu sein und die Bedeutung solcher Zufälle zu erkennen. Erst das Zusammenspiel von Zufall, Fähigkeiten und Offenheit macht Entdeckungen möglich.

Das Problem ist nur: Wir sind daran, dieses Glück des Zufalls aus unserem Leben zu vertreiben. Algorithmen filtern Nachrichten, Werbung und sogar Partnerangebote. Wir bewegen uns zunehmend in Umgebungen, die perfekt auf uns zugeschnitten sind – und kaum mehr überraschen.

Medien im Schlüssellochmodus

Besonders sichtbar ist das in den Medien. Auf Facebook, YouTube oder LinkedIn lebt jeder in seiner eigenen Nachrichtenwelt. Selbst grosse Medienhäuser liefern online zunehmend personalisierte Inhalte. Zwei Drittel der Onlinenutzung erfolgen zudem über das Handy – man sieht also stets nur einen kleinen Ausschnitt. Ich nenne das den «Schlüssellochmodus».

Eine gedruckte Zeitung ist das Gegenteil: Sie schlagen eine Doppelseite auf, sehen viele Texte und Bilder – und bleiben oft bei einem Artikel hängen, den Sie gar nicht gesucht haben. So wie mir das beim Anmalen des Gartentischs passiert ist. Obwohl ich dieselbe Zeit auch auf dem Handy, dem iPad und am Bildschirm lese, entdecke ich ich in der gedruckten Ausgabe immer wieder neue Texte. Offenbar eignet sich Papier besser für das Glück des Zufalls – für die Serendipity.

In vielen Fällen gibt es diese analoge Version aber gar nicht mehr. Wie können wir dem Glück des Zufalls im Alltag trotzdem auf die Sprünge helfen? Ich gebe Ihnen fünf konkrete Tipps.

1) Wikipedia

Als Bub liebte ich mein Lexikon. Ich nannte es «Weltenbuch», weil es für mich damals die ganze Welt enthielt. Ich schlug das Buch manchmal auf eine zufälligen Seite auf und tauchte ein. Das geht heute auch digital: In Wikipedia finden Sie im Menü die Option «Zufälliger Artikel» – Ihr Tor zur Serendipity.

2) Bibliotheken

Für Umberto Eco waren Bibliotheken ideale Orte der Serendipity: Beim Stöbern stösst man auf Bücher, die man gar nicht gesucht hat. Google dagegen, sagte er, töte die Serendipity, weil man dort nur finde, was man sucht.

3) Slow Hunch

Steven Johnson bezeichnet in seinem Buch «Where Good Ideas Come From» Serendipity als eine der sieben Quellen von Innovation. Ein Schlüssel dafür ist «Slow Hunch»: das langsame Ausbrüten von Ideen. Wer halbgare Gedanken mit sich herumträgt, erkennt eher, wenn sie mit Zufallsfunden kollidieren.

4) Effizienz meiden

Schon Horace Walpole schrieb, dass man den «unerwarteten Zusammenhang» sehen können muss. Serendipity verlangt, sich manchmal mit wacher Aufmerksamkeit treiben zu lassen und auch Nebensächlichkeiten ernst zu nehmen. Modern formuliert: Die Effizienz ist der Tod der Serendipity.

5) Wissende Offenheit

Robert K. Merton sprach von einem «prepared mind»: Nur wer Wissen und Erfahrung aufbaut, bemerkt den glücklichen Zufall. Aber ebenso wichtig sind Neugier und Offenheit, um ihn auch zu nutzen.

Stecken Sie also ab und zu das Handy in die Schublade und lassen Sie den Zufall in Ihr Leben. Auf Englisch gibt es zwei Wörter für Glück: «Luck» und «Happiness». Auf Deutsch gibt es für beides nur ein Wort – was für ein Glück!

Basel, 22.08.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

Bild: Gartentisch mit der gedruckten Ausgabe der «Zeit» als Unterlage: das Glück des zufälligen Entdeckens beim Malen.. (mz)

Johnson, Steven (2010): Where good ideas come from: the natural history of innovation, New York 2010.

Merton, Robert King; Barber, Elinor G. (2004): The travels and adventures of serendipity: a study in sociological semantics and the sociology of science, Princeton (N.J.) 2004.

Schilling, Erik (2021): Umberto Eco-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2021.

Eco, Umberto u. a. (Hgg.): Die unendliche Liste: … dient als Grundlage für die Veranstaltungsreihe „Vertigine della Lista“, organisiert vom Museé du Louvre im November 2009 unter der Leitung von Umberto Eco, München 2009.

Wie Alexander Fleming durch eine Schlamperei das Penicillin entdeckte, in: geo.de, 2020, https://www.geo.de/wissen/weltgeschichte/antibiotika-wie-alexander-fleming-durch-eine-schlamperei-das-30176284.html [21.08.2025].

20 Jahre Viagra: Wie es zur Erfolgsgeschichte kam | Kurier, https://kurier.at/wissen/gesundheit/20-jahre-viagra-wie-es-zur-erfolgsgeschichte-kam/400011666 [22.08.2025].

Zur Geschichte der Post-it-Notes, in: Post-it Brand – Produkte, Ideen, Angebote, https://post-it.3mschweiz.ch/3M/de_CH/post-it-notes/contact-us/about-us/ [22.08.2025].

 

2 Kommentare zu "Serendipity oder das Glück des Zufalls"

  1. Der Beitrag spricht mir aus dem Herzen, habe ich doch vor einem Jahr eine Kolumne unter demselben Titel im Birsfelder Anzeiger veröffentlicht:
    Serendipität, diese Wortschöpfung bürgert sich langsam auch in der deutschen Sprache ein. Im Angelsächsischen und speziell unter Wissenschaftler ist der Begriff schon seit längerem bekannt. Geprägt wurde er vom englischen Schriftsteller Horace Walpole 1754, der ihn aus dem Titel des Märchens „Die drei Prinzen von Serendip“ abgeleitet hat, dessen Helden durch Beobachtungen kombiniert mit Scharfsinn eine Art Hellsichtigkeit entwickelten. Heute versteht man unter Serendipität die Gabe, wertvolle Dinge zu finden, nach denen man nicht gesucht hat.
    Beispiele wie durch einen glücklichen Zufall gepaart mit Aufmerksamkeit und Klugheit grosse Erfindungen oder Entdeckungen gemacht wurden, gibt es zuhauf, das bekannteste ist vielleicht die Entdeckung des Penicillins. Der Biologe Alexander Fleming liess 1928 eine Bakterienkultur offen in seinem Labor liegen und fuhr in den Urlaub. Nach der Rückkehr bemerkte er, dass sich auf der unverschlossenen Petrischale ein Schimmelpilz gebildet und die Bakterien vernichtet hatte. Die meisten Forscher hätten das Präparat weggeworfen, er aber experimentierte weiter, bis 1943 Penicillin als Medikament eingeführt werden konnte.
    Weitere Beispiele von Serendipität sind der Klettverschluss, das Teflon, die Erfindung der Nylonstrümpfe oder auch die Entdeckung Amerikas. All diese Fortschritte waren nicht das eigentliche Ziel der Forschung gewesen, sie wurden gefunden durch einen wachen, vorbereiteten Geist. Auch beim Stöbern in einer Zeitung kann der geneigte Leser neue, überraschende Einsichten gewinnen.
    Ich sehe Leute über ihre Smartphones gebeugt den Weg suchen. Bestimmt finden sie das angestrebte Ziel, die Schönheiten am Wegrand entdecken sie wohl nicht. Keine Chance für Serendipität.

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