Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz

Publiziert am 17. Oktober 2025 von Matthias Zehnder

«Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.» So beginnt «Die Verwandlung» von Franz Kafka. Wenn wir die Erzählung lesen, folgen unsere Augen den Buchstaben. Zeichen für Zeichen, Wort für Wort, Zeile für Zeile. Und dann passiert es: das Wunder des Lesens. Zwar folgen unsere Augen weiter den Buchstaben, den Worten, den Zeilen, aber wir sehen sie nicht mehr. Die Zeichen verschwinden, wir tauchen ein in eine andere Welt: Obwohl wir warm und geborgen in unserem Lehnstuhl sitzen, liegen wir plötzlich auch auf einem panzerartig harten Rücken und sehen, wenn wir den Kopf ein wenig heben, unseren gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Seite viele im Vergleich zum monströsen Körper kläglich dünne Beine hilflos vor unseren Augen flimmern. Wir erschrecken und fragen uns mit Gregor Samsa: «Was ist mit mir geschehen?» Nichts, das ist ja das Wunder: Wir folgen mit den Augen harmlosen Buchstaben und verwandeln uns in einen Käfer oder einen Ritter, in Old Shatterhand oder Stiller, in Heidi oder Molly Bloom, Frodo oder Harry Potter, Anna Karenina oder Pippi Langstrumpf. Wie ist das möglich, dass wir durch das blosse Entziffern von Buchstaben uns verwandeln, geistig in eine andere Welt eintauchen und komplett vergessen, dass wir lesen? Und was bedeutet das im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz? Heisst das, dass auch die KI uns mir nichts, dir nichts mit ein paar Buchstaben in einen Käfer verwandeln kann?

Am Anfang ist das Lesen eine Plage: Es ist anstrengend, einzelne Buchstaben zu einem Wort zusammenzusetzen und die Wörter zu einem Satz. Und dann auch noch zu verstehen, was der Satz bedeutet. Mit der Übung kommt das Vergnügen: Mit der Zeit entziffert das Gehirn keine Buchstaben mehr, sondern ganze Buchstabengruppen. Es erkennt also ganze Wörter: In einer Viertelssekunde liest das Gehirn auf diese Weise bis zu zehn Buchstaben. Dabei ist offenbar das Gesamtbild eines Wortes entscheidend. Wir lassen uns deshalb von Schreibfehlern oft nicht irritieren, ja wir blenden sie richtiggehend aus.

 

Wirklich spannend daran ist aber, dass es bei geübten Leserinnen und Lesern zu einem Schritt kommt, den die Kognitionswissenschaft «narrative transportation» oder «Immersion» nennt. Es kommt also wörtlich zu einem Eintauchen in die erzählte Welt. Möglich ist das, weil bei geübten Lesern die Dekodierung von Buchstaben und Wörtern so stark automatisiert ist, dass sie keine Aufmerksamkeit mehr erfordert. Dadurch wird das Arbeitsgedächtnis frei für höhere Prozesse, also für dieses Eintauchen in die dargestellte Welt.

Lesen stimuliert das Gehirn

MRI-Untersuchungen haben gezeigt, dass beim Lesen ähnliche Hirnareale aktiv werden wie bei tatsächlichen Erfahrungen. Lesen wir über Bewegungen, aktiviert sich der motorische Kortex; bei Gerüchen die olfaktorischen Bereiche. Das Gehirn simuliert sich also neuronal die Welt, über die es liest. Neurologen sagen: Das Gehirn konstruiert kontinuierlich ein mentales Modell der beschriebenen Situation samt Raum, Zeit, Charakteren und Kausalzusammenhängen. Anders gesagt: Wenn wir über eine Situation lesen, beschäftigt sich das Gehirn nicht mehr mit dem Lesen, sondern mit der Situation. Wir tauchen ein.

Ganz besonders gilt das für Erzählungen, also für Geschichten mit Figuren. Bei diesem narrativen Lesen aktivieren sich auch Hirnregionen für soziale Kognition. Wir lesen quasi die Gedanken der Charaktere, wir fühlen uns ein, wir empfinden mit ihnen. Die Psychologin Melanie Green hat gezeigt, dass dieses Eintauchen und Mitfühlen umso stärker ist, je weniger wir über den Text als Text nachdenken. Je mehr wir also das Medium Text und die Tätigkeit des Lesens vergessen können, desto stärker wird die Vorstellung. Lesen wird so zur kontrollierten Halluzination. Geübte Leser brauchen für einen Trip nur ein paar Buchstaben.

Auf Hatatitla durch die Steppe

Es ist faszinierend: Wir folgen mit den Augen Buchstaben, Wörtern und Zeilen und schon galoppieren wir auf Hatatitla durch die Steppe, fliegen mit dem Hippogreif Seidenschnabel zur Rettung von Sirius Black zum Astronomieturm von Hogwarts oder verabschieden uns von Wronski und besteigen in Moskau den Zug. Lesen ist, als würde man durch den Text hindurchsehen und plötzlich öffnet sich der Raum mit allen Figuren.

Dieser Effekt erinnert mich an die magischen 3D-Bilder, die Autostereogramme. Sie erinnern sich vielleicht an die Bücher mit den Bildern, die unter dem Titel «Das magische Auge» in den 1990er-Jahren erschienen sind. Auf den ersten Blick sind Autostereogramme farbige Bilder mit verwirrenden Linien. Wenn man ein solches Bild richtig anschaut, also durch die Oberfläche hindurch einen Punkt hinter dem Bild fokussiert, dann öffnet es sich plötzlich zu einem dreidimensionalen Raum.

Der magische Moment

Es ist ein magischer Moment, wenn ein gedrucktes Bild plötzlich räumlich wird. Genau so verwandelt sich beim Lesen die «Fläche» des Textes in einen geistigen Raum. Voraussetzung dafür ist aber, dass der vorgestellte Raum funktioniert. Für das 3D-Bild heisst das: Es kommt weniger auf das zweidimensionale Bild an, als darauf, dass das darin versteckte dreidimensionale Bild aufgeht. Für den Text heisst es: Nicht die Buchstaben und die Wortwahl an der Textoberfläche sind entscheidend, sondern der Raum, den der Text mir eröffnet. Dieser geistige Raum muss «funktionieren». Er muss, damit ich mitgehe und mich die Vorstellung packt, konsistent sein. Ich muss die dargestellte Welt, die Figuren, ihre Gefühle emotional plausibel erleben.

Entscheidend für das Leseerlebnis, diese gezielte Halluzination, die nur durch ein paar Buchstaben ausgelöst wird, ist also die dargestellte Welt. Aus Sicht der Kommunikation ist das die Bedeutung des Textes. In der Philosophie bezeichnet man es als Intentionalität und meint damit die Fähigkeit des Menschen zu Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gefühlen, also zu Bewusstsein. Edmund Husserl sagt in seiner Phänomenologie, dass Bewusstsein niemals «leer» ist, sondern immer auf etwas gerichtet ist: «Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas». Das ist das grundlegende Merkmal der intentionalen Erfahrung durch Wahrnehmung, Denken oder Fühlen.

Teilhabe an einem Bewusstsein

Wenn wir einen Text lesen und in diesen Text eintauchen, dann funktioniert das, weil wir diesem Text eine Intention unterstellen. Lesen ist deshalb eine intentionale Handlung: Die Leserin, der Leser tritt absichtlich in eine Sinnbeziehung mit einem fremden Bewusstsein. Wir können länger darüber diskutieren, ob dieses fremde Bewusstsein die Autorin, der Autor ist, also der Mensch, der den Text geschrieben hat, oder ob es der Erzähler ist, also die Stimme, die im Text zum Ausdruck kommt.

Für unsere Zwecke spielt das aber keine grosse Rolle. Wichtig ist: Als Leser tauche ich intentional ein in die Welt, die mir der Autor (oder der Erzähler) eröffnet. Ich nehme an seinem Bewusstsein teil. Ohne diese Ausrichtung und Teilhabe an diesem Sinn gäbe es kein Leseerlebnis. Lesen ist also nur möglich, weil der Text Ausdruck einer Intention ist, einer Bedeutung, die jemand gemeint hat.

Und was, wenn eine KI den Text generiert hat?

Bis vor kurzem gab es keine Texte, die nicht von einem Menschen stammten. In Anlehnung an die Werbekampagne der FAZ könnte man sagen: Wir wussten, dass hinter einem Text immer ein kluger Kopf stand. Das ist nicht mehr so: Im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz sind immer mehr Texte das Resultat von Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Diese Texte sind zwar sprachlich perfekt, die Zeichenebene stimmt. Aber sie enthalten keine Intention, weil dahinter keine Autorin, kein Autor, kein Erzähler steckt. KI-Texte sind intentional leer. Sie imitieren Bedeutung nur.

KI-generierte Texte funktionieren an der Textoberfläche. Aber der magische Raum, den sie eröffnen, ist nicht konsistent, weil die KI nicht in der Lage ist, eine konsistente, geistige Welt zu erfinden. Das lässt sich nicht an Wörtern und Sätzen auf der Textoberfläche zeigen. Als Leserin, als Leser spüren Sie es, weil KI-Texte keine einheitliche Intention haben. Es ist, wie wenn Sie eines dieser 3D-Bilder anschauen würden und feststellen würden, dass das Bild in der dreidimensionalen Welt, die sich öffnet, auch wenn sie es richtig anschauen, nicht richtig funktioniert. KI-Texte sind also zweidimensionale Texte.

Begegnung zweier Menschen

Das Wunder des Lesens stellt sich ein, wenn sich über das Lesen zwei Menschen begegnen: Durch das Lesen haben Sie Teil am Bewusstsein, an den Wahrnehmungen und Gefühlen eines anderen Menschen. Diese Begegnung kommt nur zustande, wenn der Text einen lebendigen Sinnstrom enthält. Das Dargestellte muss weder real noch realistisch sein; das zeigt gerade Franz Kafka immer wieder. Gregor Samsa packt uns emotional. Wie er da zum Käfer verwandelt in seinem Bett liegt, das packt, weil es stimmig ist.

Das ist das Wunder des Lesens: Die Buchstaben ermöglichen es uns, an den Träumen und Alpträumen von Franz Kafka teilzunehmen, an den Sehnsüchten von Erich Maria Remarque teilzuhaben und mit Dorothee Elmiger in ihre Dschungelbilder einzutauchen. Der Text ist dafür nur die Türe. Das Entscheidende sind die Träume von Franz Kafka und die Dschungelbilder von Dorothee Elmiger. Wenn das Wunder des Lesens gelingt, ermöglichen uns die Texttüren das Eintauchen in das Bewusstsein eines anderen Menschen. Das ist vollständige Immersion, ganz ohne 3D-Effekte, Avatare und technischen Klimbim.

Die Vulkanier der Science-Fiction-Serie «Star Trek» können mit einem «Mind Meld», einer Gedankenverschmelzung, durch eine telepathische Verbindung Gedanken und Gefühle teilen. Es ist ein aufwändiger, gefährlicher Prozess. Wir Menschen schaffen das viel einfacher, indem wir lesen. Voraussetzung dafür ist aber, dass hinter dem Text ein «Mind» steckt, ein Bewusstsein. KI-generierte Texte sind nur das. Wenn Menschen Geschichten erzählen, öffnen uns die Texte die Möglichkeit einer telepathischen Verbindung. Das macht das Lesen so wunderbar.

Basel, 17.10.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

Bild: Eine Mitarbeiterin füllt am Stand der S. Fischer Verlage auf der Buchmesse in Frankfurt 2025 die Regale mit Büchern.. (KEYSTONE/dpa/Arne Dedert)

Green, Melanie C.; Brock, Timothy C. (2000): The role of transportation in the persuasiveness of public narratives., in: Journal of Personality and Social Psychology, 79,5, 2000, S. 701–721, https://doi.apa.org/doi/10.1037/0022-3514.79.5.701 [17.10.2025].

Nell, V. (1988): Lost in a book: the psychology of reading for pleasure, New Haven 1988.

Turner, Mark (1998): The literary mind, New York Oxford 1998.

Wolf, Maryanne (2010): Proust and the squid: the story and science of the reading brain, 1. Harper Perennial Edition, [Repr.], New York 2010.

Wolf, Maryanne; Stoodley, Catherine J.; Stoodley, Catherine (2018): Reader, come home: the reading brain in a digital world, New York, NY 2018.

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2 Kommentare zu "Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz"

    1. Antwort
      Hochgeschätzter U. Keller
      Nur beipflichten kann ich der „KI-generierte Texte scheinen mir ein Teil einer gefühl-, geist-, herz- und seelenlosen Welt. Ich freue mich, wenn auch ich etwas für eine andere Welt tun kann“ – Aussage.
      Mir geht es genau so.
      Umso kälter lief es mir den Rücken runter, als ich las, was vor kurzem eine Mitkommentatorin hier bei M. Zehnder schrieb:
      „Ich denke oft über Sprache nach, dass diese irgendwie „ungenügend“ ist, schwarz/weiss, umständlich analog. (…) Darum meine Inspiration an Sie: wenn wir also die Information der KI überlassen, gewinnen wir Raum/Dimension für eine mehrdimensionale „Kommunikationsmöglichkeit“ ?“
      Unsere schöne, meine Sprache ist also umständlich analog. Ja soll die Sprache denn auch noch digital werden – und ist digital besser? Wir sollen mit KI in eine mehrdimensionale Kommunikation schreiten?
      Ich bin vehement gegen solche Experimente.
      Wer nicht selbst Bücher schreiben mag, soll es belassen und keinesfalls der KI überlassen…
      Wer nicht selbst den Pinsel als Kunstmaler schwingen will soll es sein lassen – und uns nicht mit visuellem KI-Müll terrorisieren….
      Für den geschäftlichen Bereich mag KI (-Texte) Sinn ergeben. Ein KMU-Inhaber eines 6 köpfigen internat. technischen Spezialbetriebes welcher ich persönl. kenne, nutzt die Kauf-Version von Chat-GPT welche ihm sogar in technischen Nischenthemen durch seine fachrichtigen Stichwort-Eingaben gute verständige Texte ausspuckt. Ihn reut das Geld dafür somit nicht. Er ist aber so fair, das er unter jedes so verfasste schreiben den Hinweis „Teils mit KI generiert“ setzt.
      Ich hoffe nun, dieser schwarz/weisse, analoge umständliche Text ist nicht mal dreidimensional — aber gut….

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