Die unerträgliche Machbarkeit des Seins

Publiziert am 24. Oktober 2025 von Matthias Zehnder

Es war ein durchaus spannender Tag: intensive Diskussionen mit angehenden Managern über die Auswirkungen von KI in Unternehmen. Dabei war viel die Rede von smarten Zielen, von Effektivität und Effizienz und vom strategischen Dreieck zwischen Zielen, Ressourcen und Prozessen. Von der KI als Disruptor und als neues Werkzeug, als Beschleuniger, Effizienzmaschine und intelligenten Assistenten. Und dann hatte ich genug. Mir schien ganz plötzlich, dass all die Managementwörter, das Reden über Chancen und Potenziale, über Innovationen und Märkte, am Wesentlichen vorbeigehen: Warum das alles? Seid Ihr so sicher, dass sich die Welt in einer Excel-Tabelle abbilden lässt? Kommt es nicht vielmehr auf den Willen von uns Menschen an, auf Inspiration und Kreativität, darauf, dass wir nach Glück und Zufriedenheit streben? Die KI macht alles, was man ihr sagt. Die KI ist eine Macherin. Sie gibt uns die Illusion von Machbarkeit. Zu Hause, an meinem Büchergestell, ist mir «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» in die Hände gefallen, der wunderbare Roman von Milan Kundera über die schwierige Liebe zwischen Tomas und Teresa. Milan Kundera zeigt in seiner Geschichte, dass unverbindliche Leichtigkeit und Liebe sich nicht vereinbaren lassen: Die Leichtigkeit wird im Angesicht der Liebe unerträglich. Mir scheint, uns droht eine ähnliche Unerträglichkeit. Ein Leben ohne Grenzen ist sinnlos. Lassen Sie uns deshalb über die unerträgliche Machbarkeit des Seins nachdenken.

Sie erinnern sich sicher an die «Unerträgliche Leichtigkeit des Seins», die wunderbare Liebesgeschichte von Milan Kundera aus dem Jahr 1984. Tomas ist Chirurg in einem Prager Krankenhaus. Er vermeidet feste Bindungen. Er hat viele Freundinnen und geniesst die Nächte mit ihnen, will aber mit keiner von ihnen die Nacht schlafend verbringen. Der gemeinsame Schlaf wäre ein Zeichen von Liebe und damit von Bindung. Da lernt Tomas in einem kleinen Dorf ausserhalb von Prag Teresa kennen. Sie kommen ins Gespräch. Beim Abschied gibt ihr Tomas seine Visitenkarte, wie man das halt so macht. Für Tomas ist es ein flüchtiger Kontakt, für Teresa eine schicksalshafte Begegnung.

 

Sie hatte ihn zum Bahnhof begleitet und gewartet, bis er in den Zug gestiegen war. Zehn Tage später besuchte sie ihn in Prag. Noch am selben Tag liebten sie sich. In der Nacht bekam sie Fieber und blieb eine ganze Woche mit Grippe in seiner Wohnung. Er empfand damals eine unerklärliche Liebe für dieses Mädchen, das er kaum kannte; sie kam ihm vor wie ein Kind, das jemand in ein pechbestrichenes Körbchen gelegt und auf dem Fluß ausgesetzt hatte, damit er es am Ufer seines Bettes barg. … Immer wieder sah er sie vor sich, wie sie auf seinem Bett lag; sie erinnerte ihn an niemanden aus seinem bisherigen Leben. Sie war weder Geliebte noch Gemahlin. Sie war ein Kind, das er aus dem pechbestrichenen Körbchen gehoben und an das Ufer seines Bettes gelegt hatte. (Seite 10)

Aus dem flüchtigen Kontakt wird auch für Tomas eine schicksalhafte Begegnung. Später steht er am Fenster und fragt sich, was er tun soll. Ist das Liebe? Ist es besser, mit Teresa zu leben oder allein zu bleiben? Das Problem ist, schreibt Kundera: «Man kann nie wissen, was man wollen soll, weil man nur ein Leben hat, das man weder mit früheren Leben vergleichen noch in späteren korrigieren kann.» Tomas denkt zum ersten Mal darüber nach. Bis dahin hat er gelebt wie ein Schmetterling: Ungebunden, frei und unbekümmert. Die Begegnung mit der ernsthaften Teresa bringt ihn dazu, sich zu fragen: Was will ich eigentlich?

Das Leichte und das Schwere

In Tomas und Teresa begegnen sich das Leichte und das Schwere. Tomas liebt die Leichtigkeit des Lebens und geniesst seine Abenteuer. Er sieht im Leben unendlich viele Möglichkeiten, die es auszukosten gilt. «Einmal ist keinmal», sagt sich Tomas. «Wenn man ohnehin nur einmal leben darf, so ist es, als lebe man überhaupt nicht.» Teresa verkörpert das Prinzip des Schweren. Sie glaubt an die Einmaligkeit und an die Ausschliesslichkeit ihrer Liebe zu Tomas. Kundera zeigt in seiner Geschichte, dass sich Liebe und Leichtigkeit nicht miteinander vertragen. Die Leichtigkeit von Tomas ist ein Zustand existenzieller Gewichtslosigkeit: leicht und sinnlos. Die Liebe macht diese Leichtigkeit unerträglich.

Damals haben wir mit beiden gefühlt, mit Tomas und Teresa. Damals lag eine Leichtigkeit in der Luft, die sich in den vierzig Jahren seit der Veröffentlichung von Milan Kunderas Roman verflüchtigt hat. Die Leichtigkeit von Tomas, das war damals eine flaumige Feder, die unentschieden in der warmen Luft eines Frühlingstags schwebte. Alles war möglich: dass ein Windstoss die Feder durch das nächste Fenster weht, dass sie im Haar einer jungen Frau landet oder dass ein Kind sie in die Luft bläst. Unbeschwerte Leichtigkeit und frohe Ungewissheit gehörten zusammen.

Todo-Liste statt Roman

Das ist vorbei: Heute leben wir nicht mehr leicht, sondern zielstrebig. Die Textsorte der Stunde ist nicht mehr der Roman und schon gar nicht mehr das Gedicht, sondern das Mission-Statement und die Todo-Liste. Gesundheit und Schönheit, Reichtum, Glück und Liebe – alles eine Frage der Organisation. Alles ist machbar, wenn man es nur richtig anpackt. Alles ist möglich. Und das heisst: Wir haben unendlich viele Möglichkeiten. Der Schweizer Soziologe Peter Gross hat das als «Multioptionsgesellschaft» bezeichnet. Hannah Arendt nannte es die «Tyrannei der Möglichkeiten».

Dabei lebten Hannah Arendt und Peter Gross noch in idyllischen Zeiten, als das Menschenmögliche noch den Massstab bildete. Damit ist es vorbei: Neuartige Werkzeuge wie die künstliche Intelligenz sprengen alle Skalen und multiplizieren alle Möglichkeiten. Das Resultat ist ein allgegenwärtiges Gefühl von grenzenloser Machbarkeit. Paradoxerweise fühlt sich diese Machbarkeit aber nicht an wie eine Befreiung, sondern wie eine grosse Last. Die Machbarkeit ist keine leichte Feder, die unbeschwert überallhin schweben kann, sondern ein scharfer Pfeil, der sich in alle Himmelsrichtungen abschiessen lässt. Hat er die Sehne einmal verlassen, durchschneidet er zielgerichtet die Luft und bohrt sich dann mit einem trockenen Geräusch in sein Ziel.

KI als Produkt der Machbarkeitsgesellschaft

Die Künstliche Intelligenz verkörpert diese neue Haltung wie kein anderes Phänomen. Sie erweckt den Eindruck, allgegenwärtig, allwissend, allmächtig zu sein. Sie macht uns zu Halbgöttern mit übergrossen Kräften. Doch in der griechischen Mythologie hatten Halbgötter und Helden immer eine Schwäche. Bei Achilles war es die Ferse, an der ihn seine Mutter hielt, als sie ihn in den Styx tauchte, den Fluss der Unterwelt, um ihn unverwundbar zu machen. Bei Herakles ist es die Unbeherrschtheit: Hera treibt ihn in Wahnsinn, im Affekt erschlägt er seine Familie. Bei Theseus ist es der Hochmut: Seine Überheblichkeit lässt ihn nach dem Sieg über den Minotauros vergessen, dass der Sieg nur dank Ariadne und ihrem Faden möglich war.

Ich glaube, unsere Achillesferse mit der KI ist diese unendliche Machbarkeit, die sie uns vorgaukelt. Die KI hat auf alles eine Antwort. Oder besser: Die grossen Sprachmodelle geben mit grösster Selbstsicherheit auf alles eine Antwort, auch wenn sie keine Ahnung davon haben, was sie sagen. Das Phänomen nennt sich «Overconfidence», also übergrosses Selbstvertrauen. Ein altmodisches Wort dafür wäre Anmassung – auf griechisch: Hybris. In den griechischen Sagen ist das eine extreme Form der Selbstüberschätzung: Eine Heldin oder ein Held überschätzt seine eigenen Leistungen und Fähigkeiten bis zum Realitätsverlust. In griechischen Sagen führt diese Hybris oft zur grossen Wendung, zum Absturz des Helden.

Machbarkeit als Hybris

Hybris ist unerträglich, zunächst, weil die Selbstüberschätzung unerträglich anmassend ist, dann weil diese Selbstüberschätzung nicht trägt und zum Absturz führt. Manchmal ganz wörtlich wie bei Ikarus, manchmal im übertragenen Sinn wie bei Ödipus, der glaubte, dem Schicksal entkommen zu können – und es gerade dadurch erfüllte. Die unendliche Machbarkeit, die eine KI uns vermittelt und die so manches Unternehmen und so mancher Manager begierig aufgreift, diese unendliche Machbarkeit ist die Hybris unserer Zeit und deshalb unerträglich – nicht zu ertragen und nicht tragend.

Es kommt aber noch ein Punkt dazu. Die unendliche Machbarkeit gaukelt uns eine Welt vor, in der alles möglich ist. Selbst wenn alles möglich wäre, müsste ich, um eine Möglichkeit zu realisieren, viele andere Möglichkeiten ausschliessen. Es ist tatsächlich so, dass wir heute an fast jeden beliebigen Ort der Welt reisen können. Paris oder Saigon, Addis Abeba oder London, Marrakesch oder München – alles ist möglich. Sobald ich mich aber für eine dieser Städte entschieden habe, sobald ich aus allen Möglichkeiten eine Wahl getroffen habe, fallen die anderen Optionen weg.

Selbstwahl statt Selbstoptimierung

Für Sören Kierkegaard ist diese Wahl, er nennt es die «Selbstwahl», die Art und Weise, wie ich Verantwortung für das eigene Leben übernehme. Mit seiner Selbstwahl meint er etwas völlig anderes als das, was wir heute als Selbstoptimierung bezeichnen. Die Selbstoptimierung versteht das Leben als Projekt, in dem der Mensch sein Selbst zur Steigerung von Leistung und Glück ständig verbessert. Die Selbstwahl dagegen besteht bei Kierkegaard darin, Verantwortung für die eigene Existenz zu übernehmen, die eigenen Grenzen und Mängel anzunehmen und sich bewusst zu entscheiden, die Person zu sein, die man sein will. Dabei geht es nicht um die Auswahl der besten Option, sondern um die Entscheidung, überhaupt zu wählen. Das meint: Im Angesicht der eigenen Endlichkeit die unendlichen Möglichkeiten in den Wind zu schlagen und sich bewusst für eine zu entscheiden.

Sobald ich gewählt habe, ist nicht mehr alles machbar. Die unendliche Machbarkeit erweist sich als Trugschluss, ja als Hybris. Das erlebt auch Tomas im Roman von Milan Kundera: Er kann sich nicht gleichzeitig alle Optionen offenhalten und eine echte Liebesbeziehung mit Teresa führen. Er muss wählen – und das verändert ihn, denn damit wählt er sich selbst.

Freiheit gibt es nur am Punkt der Entscheidung

Das ist das Paradoxe an dieser Wahl: Freiheit besteht nur am Punkt der Entscheidung. Nur wenn ich mich entscheide, nehme ich meine Freiheit wahr. Aber durch das Wahrnehmen meiner Freiheit nehme ich mir zugleich die Freiheit, andere Möglichkeiten zu wählen. Max Frisch hat genau dieses Paradox in einem Zitat von Sören Kierkegaard seinem Roman «Stiller» als Motto vorangestellt. Kierkegaard sagt darin, dass diese Selbstwahl so schwer sei, «weil durch sie jede Möglichkeit, etwas anderes zu werden, vielmehr sich in etwas anderes umzudichten, unbedingt ausgeschlossen wird.»

Wer von Möglichkeit zu Möglichkeit hetzt und sich immer noch mehr Möglichkeiten auftut, sich aber nie für eine der Möglichkeiten entscheidet, lässt zwar alles offen, kann sich also in der Vorstellung wiegen, es sei alles machbar. Im Grunde ist dieses Hetzen nach Möglichkeiten und das Gieren nach Machbarkeit aber ein «rasender Stillstand», wie es Paul Virilio nannte. Das ist es, was ich mit der unerträglichen Machbarkeit meine: Die Machbarkeit ist Hybris, sie ist eine Illusion und sie hält uns davon ab, uns zu entscheiden, uns festzulegen, uns in aller Freiheit die Freiheit zu nehmen – also zu leben.

Die unerträgliche Machbarkeit des Seins: ein rasender Stillstand.

Basel, 24.10.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

Bild: Der gefallene Ikarus – Bronzestatue von Igor Mitoraj im Valle dei Templi, Agrigento (Sizilien): Igor Mitoraj zeigt Ikarus gestürzt, aber nicht zerstört, in Schönheit erstarrt, mit gebrochenen Flügeln. . (mz, 2025)

Arendt, Hannah (2019): Vita activa oder Vom tätigen Leben, Ungekürzte Taschenbuchausgabe, 20. Auflage, München Berlin Zürich 2019 Serie Piper 3623.

Frisch, Max (2025): Stiller: Roman | Buchvorlage zum gleichnamigen Kinofilm von Stefan Haupt. Mit Albrecht Schuch und Paula Beer in den Hauptrollen, 1. Auflage, Berlin 2025.

Gross, Peter (2016): Die Multioptionsgesellschaft, 1st ed, Berlin 2016.

Jonas, Hans (2003): Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1. Aufl. [Nachdruck], Frankfurt am Main 2003 Suhrkamp-Taschenbuch 1085.

Kierkegaard, Søren; Kierkegaard, Søren (2021): Entweder – Oder: Teil I und II, hrsg. v. Hermann Diem, Walter Rest, übers. v. Heinrich Fauteck, 17. Auflage, München 2021.

Kundera, Milan; Roth, Susanna; Kundera, Milan (1988): Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins: Roman, Sonderausg, München Wien 1988.

Rosa, Hartmut; Wallenhorst, Nathanaël (2024): Beschleunigen wir die Resonanz! Bildung und Erziehung im Anthropozän: Gespräche mit Nathanaël Wallenhorst, übers. v. Christine Pries, Deutsche Erstausgabe, Berlin 2024.

Sartre, Jean-Paul (2009): L’ existentialisme est un humanisme, Paris 2009 Collection Folio Essais 284.

Schwartz, Barry (2004): The paradox of choice: why more is less, New York 2004.

Virilio, Paul; Virilio, Paul (2015): Rasender Stillstand: Essay, Ungek. Ausg., 5. Aufl, Frankfurt am Main 2015 Fischer-Taschenbücher Kultur & Medien 13414.

Weizenbaum, Joseph; Weizenbaum, Joseph (2023): Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, übers. v. Udo Rennert, 16. Auflage, Frankfurt am Main 2023 suhrkamp taschenbuch wissenschaft 274.

Schwab, Gustav (Hg.): Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, 25. Aufl, München 1990 Goldmann-Taschenbuch 500.

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