
Die Schweiz als Missverständnis
2025 feiert die Schweiz offiziell ihren 734. Geburtstag – seit 1291, heisst es, besteht die Eidgenossenschaft. Das ist natürlich Mumpitz. Die Schweiz, wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit 1848. Nach dem Sonderbundskrieg verwandelte die erste Bundesverfassung den losen Staatenbund in einen modernen Bundesstaat – mit Föderalismus, demokratischer Grundordnung, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten. Eigentlich müssten wir den Nationalfeiertag also am 12. September begehen, dem Tag, an dem die Tagsatzung 1848 die Bundesverfassung annahm. Doch das wird kein Politiker vorschlagen: Die heutige Schweiz ist, wie alle Nationalstaaten, nicht auf Vernunft gegründet, sondern eine Vermischung von Heimat, Nationalität, persönlicher Perspektive, Identifikation und ein bisschen Selbsttäuschung. Anders gesagt: Die Schweiz ist ein Missverständnis.
In der Schweiz sind sich die meisten Menschen einig: Nationalstaaten sind eine problematische Angelegenheit. Ganz egal, ob «Einigkeit und Recht und Freiheit» oder les «enfants de la Patrie» besungen werden, ob es um den «jour de gloire» geht oder um das «deutsche Vaterland» – solch pathetische Überhöhungen sind den Schweizern fremd. Schweizer überhöhen nicht, sie rechnen. Und kommen zum Resultat, dass die Schweiz als grosse Ausnahme und Sonderfall schlicht eigenständiger und besser ist. Und das seit 1291. Mindestens.
Die Schweizerinnen und Schweizer sind sich also einig: Nationalstaaten sind problematisch. Mit einer Ausnahme: der Schweiz. Damit denken die Schweizer, wie alle anderen auf der Welt auch: Fast jeder hält Nationalstaaten für problematisch – nur der eigene ist die leuchtende Ausnahme. Das zeigt: Nationalgefühl ist vor allem eine Frage der Perspektive.
Geschichte oder Geschichten?
Um nationale Gefühle zu schüren, berufen sich Politiker gerne auf die Geschichte. Oder besser: auf Geschichten. Denn die Realität ist meist kein gutes Argument für Pathos und Vaterlandsliebe. Wer sich ein wenig auskennt, merkt schnell: Geschichte ist voller Zufälle – und hängt von der Perspektive ab.
Paradebeispiel: die Schlacht am Morgarten. In der Schweiz kennt jedes Kind die Geschichte: Am 15. November 1315 zeigten die wackeren Eidgenossen den dekadenten Habsburger Rittern, dass sie bereit waren, für ihre Freiheit zu kämpfen. Obwohl sie zahlenmässig unterlegen waren und viel schlechter gewappnet als die hochgerüsteten österreichischen Ritter, schafften die Schwyzer es, die Habsburger in die Flucht zu schlagen.
Seither gilt Morgarten als Symbol des Freiheitskampfs. Wackere Bauern gegen hochgerüstete Ritter – ein Bild, das bis heute am 1. August auf vielen Rednerpulten beschworen wird.
Die Räuber aus der Innerschweiz
Die Wirklichkeit war weniger heroisch. Rund um Einsiedeln schwelte seit Jahren ein Grenzstreit. Die Schwyzer annektierten Weiden und Wälder, die eigentlich dem Kloster gehörten. Der Abt von Einsiedeln reichte deshalb beim Bischof von Konstanz Klage ein. Der Bischof verhängte den Kirchenbann über die Schwyzer. Sie wurden zu Outlaws.
Die lassen sich das aber nicht bieten. In der Dreikönigsnacht 1314 schlagen sie unter ihrem Landammann Werner Stauffacher zu: Die Schwyzer stürmen das Kloster, plündern es, schänden die Kirche und verschleppen Mönche als Geiseln. Allerdings schafft der Abt die Flucht und alarmiert den Bischof. Der wendet sich an die Habsburger, unter deren Schutz das Kloster Einsiedeln steht.
Kein Grund, stolz darauf zu sein
Herzog Leopold I. von Habsburg brach deshalb mit einigen Truppen 1315 nach Schwyz auf. Ziel war keine Schlacht, sondern eher eine Art Ritterparade. Leopold rechnete deshalb auch nicht mit einem Angriff. Er war ja nur zu Demonstrationszwecken hier. Das nutzten die räuberischen Schwyzer aus und setzten am Morgarten an einem engen, schwer passierbaren Weg zwischen See und Berg einen Hinterhalt. Das habsburgische Heer erlitt Verluste und musste sich zurückziehen.
Die Schlacht am Morgarten war also kein heldenhafter Kampf unterdrückter Schweizer um die Freiheit. Die Schwyzer waren Räuber und Brandschatzer, die ein Kloster geschändet hatten und die anrückende Schutzmacht hinterhältig überfielen. Mir entzieht sich, warum man darauf stolz sein soll.
Dazu kommt, dass die Ritter, die da so hinterhältig überfallen wurden, keineswegs böse Männer aus dem fernen Österreich waren. Die Stammlande der Habsburger waren Basel, der Aargau und die Region Winterthur – alles Gebiete, die heute zur Schweiz gehören. An der famosen Schlacht am Morgarten waren vermutlich mehr Vorfahren der heutigen Schweizer auf Seiten der Habsburger beteiligt als auf Seiten der Schwyzer. Wir lernen daraus: Geschichte ist eine Frage der Perspektive.
Heimat ist ein Gefühl
Nein, das ist nicht zynisch. Und es heisst auch nicht, dass ich meine Heimat nicht liebe. Aber Heimat und Nationalstaat sind nicht dasselbe. Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Das sagte schon der römische Dichter Marcus Pacuvius: Ubi bene, ibi patria. Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland. Das hat nichts mit Nation und Geschichte zu tun, sondern mit Freunden und mit Arbeit, mit genug zu Essen und mit Vertrautheit.
Das Problem ist nur, dass die Menschen dazu neigen, dieses Wohlgefühl mit der Flagge zu verbinden, die da weht, wo sich wohl fühlen. Und schon ist das Nationalgefühl geboren. Doch welche Flagge weht, das ist oft reiner Zufall. Wenn ich von meinem Schreibtisch über den Rhein blicke, sehe ich nach Deutschland und nach Frankreich. Am anderen Ufer leben die Menschen kaum anders als wir. Nur die Flagge ist eine andere.
Nationalgefühle sind nicht logisch
Dass Mulhouse zu Frankreich gehört, Freiburg zu Deutschland und Basel zur Schweiz, das ist nicht logisch, sondern das Resultat einer verschlungenen Geschichte. Die Gebiete gehören nicht zu unterschiedlichen Staaten, weil sie sich unterscheiden. Es ist umgekehrt: Sie unterscheiden sich, weil sie zu unterschiedlichen Staaten gehören. Wer vor diesem Hintergrund mit Landesflaggen winkt und Nationalgefühle logisch findet, hat nie ein Geschichtsbuch gelesen.
Nehmen Sie nur die Sache mit König Rudolf. Auch ein Habsburger. Nach dem Tod von Kaiser Friedrich II. 1250 brach in Europa ein Machtkampf aus. Die Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches konnten sich nicht auf einen Nachfolger einigen und der Papst zauderte auch.
Die Kurfürsten fürchteten einen zu mächtigen Herrscher. Die Favoriten, Philipp III. von Frankreich und Ottokar II. von Böhmen waren ihnen zu stark. Also wählten sie am 29. September 1273 einen unbedeutenden Regionalfürsten zum König: Rudolf von Habsburg.
Krieg um die Stadt Basel
Rudolf stand zum Zeitpunkt der Wahl gerade vor den Toren der Stadt Basel und das nicht in freundlicher Absicht: Seine Truppen belagerten die Stadt. Rudolf und Bischof Heinrich stritten sich seit Jahren und verwüsteten sich gegenseitig Klöster und Dörfer. Im September 1273 lief es gut für Rudolf: Seine Truppen hatten die Oberhand, der Habsburger war im Begriff, Basel einzunehmen. Da erreichte ihn die Nachricht der Königswahl. Das war das Ende der Belagerung. Bischof Heinrich war als Reichsbischof dem deutschen König verpflichtet. Krieg gegen den gewählten König konnte er nicht führen, also streckte er die Waffen.
Was lernen wir daraus? Eine Handvoll deutscher Kurfürsten wählte 1273 einen König. Sie hätten auch Philipp III. von Frankreich wählen können, dann wären das französische und das deutsche Reich verschmolzen. Der Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland, der bis ins 20. Jahrhundert zu Kriegen führte, wäre vielleicht nie entstanden.
Rudolf von Habsburg war kein Tyrann, sondern ein kluger Fürst und später auch in Basel ein beliebter König. Zwei seiner Söhne und seine Frau sind im Basler Münster begraben: das Grab von Anna von Habsburg kann man bis heute besichtigen. Am Basler Rathaus und im Münster sind die österreichischen Reichsadler erhalten geblieben.
Wir reden uns den Zufall schön
Es sind Geschichten, die zum Nationalfeiertag der Schweiz eher nicht erzählt werden, weil sie nicht ins Bild passen, das die Schweiz sich von sich selber macht. Gerade am 1. August werden Heimatgefühle, nationale Fiktionen, die persönliche Perspektive und die Abgrenzung von den «Anderen» aufs emotionalste vermischt.
Nüchtern betrachtet ist die Schweiz wie die meisten anderen Länder auch ein Produkt historischer Zufälle, die wir uns im Nachhinein schönreden. Das meine ich damit, wenn ich die Schweiz als Missverständnis bezeichne.
Die Umkehrung der Ursache
Vielleicht möchten Sie sich jetzt wehren. Vielleicht argumentieren Sie, dass Deutschland und Frankreich doch zwei ganz verschiedene Dinge sind, dass es so etwas wie typisch Schweizerisch oder typisch Norwegisch gibt und die Nationalstaaten diesen Unterschieden Sorge tragen. Doch das ist eine Umkehrung der Ursache: Die Unterschiede haben sich oft erst durch die Existenz der Nationalstaaten ergeben.
Frankreich grenzt sich bewusst kulturell von Deutschland und anderen Ländern ab. Das schützt französische Eigenschaften. Umgekehrt hat aber Frankreich im Inneren alles, was nicht französisch klingt, unterdrückt. Bretonen, Basken und Korsen können davon ein Lied singen. Nationalstaaten haben deshalb insgesamt nicht für Vielfalt der Kulturen gesorgt, sondern für eine Vereinheitlichung der nationalen Kulturen. Den Staaten ging es nie um die Kultur, sondern immer nur um Macht und Einfluss.
Nüchtern betrachtet: Interessengemeinschaften
Man könnte das pragmatisch sehen und nüchtern von Interessengemeinschaften sprechen. Das würde viele Konflikte versachlichen. Leider passiert gerade heute das Gegenteil. Die Aufmerksamkeitsindustrie der sozialen Medien giert nach grossen Gefühlen, nach Wut und Hass, nach Identifikation und Ausgrenzung. Deshalb werden Nationalstaaten heute wieder stark überhöht. Deshalb sorgen Medien nicht für Versachlichung, sondern giessen im Gegenteil Öl ins Feuer der lodernden Wut.
Es lohnt sich deshalb, sich gerade am Nationalfeiertag in Erinnerung zu rufen, dass auch die Schweiz bloss das Resultat eines historischen Zufalls ist. Deshalb ist das mit der Schweiz und dem 1. August ein Missverständnis. Es sei denn, die ganze Fahnenschwenkerei rege Sie zum Denken an.
Basel, 31.07.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen:
Meyer, Benedikt (2019): Die Schlacht am Morgarten, in: Blog zur Schweizer Geschichte – Schweizerisches Nationalmuseum, 2019, https://blog.nationalmuseum.ch/2019/01/der-hinterhalt-am-morgarten/ [31.07.2025].
#55: Schlacht am Morgarten 1315: Wie sah die Landschaft damals aus?, 2020, https://www.geo.uzh.ch/en/department/125/blog/morgarten.html [31.07.2025].
Hintergründe und Bedeutung, in: Stiftung Morgarten, https://morgarten.ch/geschichte/hintergruende-und-bedeutung/ [31.07.2025].
Morgartenkrieg, in: hls-dhs-dss.ch, https://hls-dhs-dss.ch/articles/008726/2015-12-02/ [31.07.2025].
Rudolf I. von Habsburg: Ein „armer Graf“ wird König, in: Die Welt der Habsburger, https://www.habsburger.net/de/kapitel/rudolf-i-von-habsburg-ein-armer-graf-wird-koenig [31.07.2025].
Rudolf I.: Aufstieg zum Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches, in: Die Welt der Habsburger, https://www.habsburger.net/de/kapitel/rudolf-i-aufstieg-zum-oberhaupt-des-heiligen-roemischen-reiches [31.07.2025].
7 Kommentare zu "Die Schweiz als Missverständnis"
Ich hoffe nicht, dass Sie diesen Wochenkommentar nicht an irgendeiner 1. August-Feier vortragen werden. Er stimmt dermassen traurig.
Keine 1. August – Rede, aber sie wäre eine, eine Gute, ist das, was Dr. Markus Somm, Historiker und Verleger/Chefredaktor ein paar Wochen zuvor, an einen sonnigen und heissen Juli-Tag auf unserer schönen Rütli-Wiese zum Besten gab.
Liebe zur Schweiz, Geschichte und Zukunft; Pflichprogramm und vor allem Kontrastprogramm für alle Bewohnenden unseres Landes. Schauen und zuhören das sich lohnt hier…..
https://youtu.be/AC1YhJgrxEY?si=FnsNgIdRyaJ9aGY3
Eines der besten „Worte zum Nationalfeiertag“, das ich je gelesen habe.
Dem schliesse ich mich vollumfänglich an!
Da muss ich Ihnen einfach zustimmen. Grossartig!
Das ist etwas anderes als „happy birthday Schweiz“ – das ist erstens historisch korrekt und zweitens herzerfrischend, das rechte Wort zur richtigen Zeit! Vielen Dank!
1291 = Mumpitz; die Schweiz = Missverständnis – Selbsttäuschung, wer Nationalgefühle hat und Schweizerfahnen hisst und schwenkt hat noch nie ein Geschichtsbuch gelesen….. und was weiss ich noch alles….
Ja – die diversen 1. August-Gedanken haben es in sich.
Politiker sind das eine. Sie nehmen oft Partei. Voll OK – sie sind in einer Partei verankert.
Und Journalisten… Da gibt es solche…… und solche…. – ….wie z.B. ein fulminanter Matthias Ackeret, Verleger, Chefredaktor, schreibender Kolumnist, radiophoner Kolumnist, Autor und Schriftsteller… Ein wunderbar ausgeglichener Mensch. Mit einer wunderbaren 1. August-Rede, welche er im Gemeindetreff- und Kulturzentrum Obere Mühle in Dübendorf hielt. Nicht revoluzzend, nicht abwertend, aber auch ohne Pathos und Salbung auskommend. Einfach normal, verständlich und ANSTÄNDIG. Ein Genuss, wer wie ich beiwohnen konnte.
Jammerschade nur, dass es kein Video davon gibt. Ich würde es als Musterbeispiel hier glatt verlinken. Denn für so viel Ehre, Würde und Respekt gegenüber Vorfahren, Geschichte, Land und Leute, gegenüber allen früheren, jetzigen und künftigen Bewohnenden dieses Landes und für so viel ANSTAND würde ich glatt mal unanständig sein….
Für viele andere: August 2026 = Neues Glück, neue Chance…
Die Schweiz und der 1. August ein Missverständnis. Und was wäre, wenn es sie gar nicht gibt: https://www.youtube.com/shorts/Vmd-QdSaz6U