Der narzisstische Sisyphos
Kurz bevor die deutschen Truppen 1940 in Frankreich einmarschierten, beendete ein junger, algerisch-französischer Schriftsteller die Arbeit an seinem ersten Roman. Zwei Jahre später, am 19. Mai 1942, veröffentlichte Gallimard den Roman trotz deutscher Besatzung in Paris. Das Buch wurde als literarische Sensation gefeiert und avancierte zu einem der meistgedruckten französischen Romane des 20. Jahrhunderts. Das ist die Geschichte von «L’étranger», dem ersten Roman von Albert Camus. Er traf mit seiner Geschichte über den gleichgültigen Mörder Meursault den Nerv seiner Zeit. Seine Generation war tief desillusioniert durch die Weltkriege und den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des Totalitarismus. Heute, 85 Jahre später, stehen wir wieder an einem ähnlichen Punkt. Wieder sind Ideale vom Sockel gestürzt, koloniale Konflikte flammen wieder auf, wieder scheint der Aufstieg des Totalitarismus nicht aufzuhalten. Albert Camus sah 1940 den Menschen in einer absurden Situation: Wir Menschen sehnen uns nach Sinn, die Welt aber ist sinnlos, ja sinnwidrig. Camus vergleicht den Menschen deshalb mit Sisyphos, der zur Strafe in der Unterwelt einen Felsbrocken einen Berg hinaufwälzen muss. Kurz vor dem Gipfel des Bergs entgleitet ihm der Brocken und rollt wieder ins Tal. Deshalb steht Sisyphos jeden Tag vor derselben sinnlosen Aufgabe. Es ist eine absurde Arbeit. Camus sagt nun aber, der Ausweg liege darin, dass Sisyphos diese Absurdität seines Tuns akzeptiere und seine Erfüllung im täglichen Kampf mit seinem Felsbrocken sehe. Er schreibt deshalb: «Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.» Und heute, 85 Jahre später? Wie müssen wir uns Sisyphos heute vorstellen?
« Aujourd’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas. » So beginnt Albert Camus «L’étranger». «Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiss nicht.» Man sieht förmlich, wie Meursault mit den Schultern zuckt, scheinbar völlig gleichgültig. Er nimmt an der Totenwache teil, raucht eine Zigarette und trinkt Milchkaffee, ohne eine Träne zu vergiessen. Die Bestattung findet unter der sengenden Hitze Nordafrikas statt. Danach nimmt er sein Alltagsleben in Algerien wieder auf. Er arbeitet, beobachtet die Nachbarn, beginnt eine Beziehung mit einer jungen Frau namens Marie. Bei einem Sonntagsausflug mit Marie und Freunden geraten sie am Strand in einen Konflikt mit Arabern. Meursault nimmt einem Freund den Revolver ab, um weitere Gewalt zu verhindern. Später trifft Meursault die Araber wieder. Ein Araber zieht ein Messer. Überwältigt von der betäubenden Mittagssonne und der Erinnerung an die Hitze bei der Beerdigung seiner Mutter erschiesst Meursault den Araber. Danach schiesst er noch viermal auf den leblosen Körper.
Meursault wird verhaftet. Der Untersuchungsrichter ist fassungslos über Meursaults mangelnde Reue und seine Gleichgültigkeit gegenüber Gott und Religion. Als es zum Prozess kommt, steht nicht die Tat im Mittelpunkt, sondern Meursaults Charakter und sein Verhalten nach dem Tod seiner Mutter. Zeugen beschreiben ihn als gleichgültig. Indizien wie keine Tränen, Rauchen, der Milchkaffee werden als Beweis seiner Unmoral und seiner Gefühllosigkeit herangezogen. Meursault wird zum Tod verurteilt. Sein Glück findet er schliesslich darin, dass er die Sinnlosigkeit seiner Situation akzeptiert. Camus schreibt, dass sich Meursault der «zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt» öffnet. Er akzeptiert seinen bevorstehenden Tod als die einzige Gewissheit im sonst völlig absurden Dasein.
Die weltliche Ordnung ad absurdum geführt
Der Roman spielt in Algerien, der Heimat von Albert Camus: Er ist 1913 in Algerien geboren und in einem Vorort von Algier aufgewachsen. Algerien war 1940 noch eine französische Kolonie. Die kolonialen Spannungen zwischen Franzosen und Algeriern bilden aber nur den Hintergrund des Romans. Im Zentrum steht der Verlust aller Gewissheiten der Generation von Albert Camus. Der Glaube und die althergebrachten Werte sind durch den philosophischen Nihilismus vom Tisch gewischt worden. Nietzsches Ausruf «Gott ist tot» hallt noch in den Kirchen und Moscheen der Zeit. Gleichzeitig haben die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts jede weltliche Ordnung ad Absurdum geführt.
In seinem Roman verkörpert Albert Camus das Absurde in der Figur von Meursault. «L’étranger», der Titel des Romans, bezieht sich auf ihn: Meursault verkörpert das Gefühl des Absurden, weil er ein Fremder in seiner eigenen Existenz ist. Er lebt ziel- und bindungslos. Die Tage seines Lebens verrinnen, ohne dass er wirklich teilnimmt. Er reagiert mit scheinbarer Gleichgültigkeit auf den Tod seiner Mutter und scheint auch für Marie keine besonderen Gefühle zu haben. Dadurch wird Meursault auch uns fremd und er legt gleichzeitig die Absurdität der gesellschaftlichen Regeln und Sitten offen. Er verweigert sich den Konventionen beim Begräbnis seiner Mutter und während des Prozesses. Er weigert sich auch, zu lügen. Sein Schicksal ist Zufall, der Mord ausgelöst durch die Sonne. Das Urteil und seine Begründung sind am Ende so absurd wie der Mord selbst.
Gefühl von Fremdheit und Absurdität
Als wir in der Schule das Buch im Französischunterricht lasen, hat mich diese Absurdität gepackt. Der Roman ist in einer lakonischen Sprache geschrieben, in kurzen, nüchternen Sätzen und oft fast schon banalen Aussagen. Rein sprachlich ist das gut verständlich, deshalb wird das Buch wohl gerne in der Schule gelesen. Aber Camus lässt uns nicht in die Figuren hineinsehen. Wir verstehen nicht, was da passiert. Das löst beim Lesen ein Gefühl von Fremdheit und Absurdität aus.
Ich glaube, ich habe einiges davon mit 15 oder 16, als wir das Buch in der Schule lasen, vielleicht nicht verstanden, aber doch empfunden. Camus und sein Fremder haben mich fasziniert. Leider hat unsere Französischlehrerin sich nicht für mein Empfinden interessiert, sondern nur dafür, ob ich die Wörtchen gelernt hatte. Hatte ich nicht. (Grüsse gehen raus an Madame Künzler). Wozu auch Wörtchen lernen? Wo die Welt doch absurd war.
Der Mythos des Sisyphos
Heute lese ich «L’étranger» anders, weil ich viel mehr weiss über die Hintergründe. Albert Camus hat parallel zum Roman einen philosophischen Text geschrieben: «Der Mythos des Sisyphos». Er schreibt darin: «Das Gefühl der Absurdität kann einen beliebigen Menschen an einer beliebigen Strassenecke anspringen. Es ist in seiner trostlosen Nacktheit, in seinem glanzlosen Licht nicht zu fassen. Doch ist gerade diese Schwierigkeit des Nachdenkens wert.» Camus schreibt, dass uns die Welt letztlich immer fremd bleiben werde. «Selbst dieses Herz, das doch meines ist, wird mir immer unerklärbar bleiben.» Das ist das Absurde unserer Existenz: «Die Kluft zwischen der Gewissheit meiner Existenz und dem Inhalt, den ich dieser Gewissheit zu geben suche, ist nie zu überbrücken. Ich werde mir selbst immer fremd bleiben.»
Camus schreibt, das «Erkenne dich selbst» von Sokrates sei deshalb «ebensoviel wert wie das ‹Sei tugendhaft› unserer Beichtstühle. Beide Aussprüche verraten Heimweh und gleichzeitig Unwissenheit.» Das seien «unfruchtbare Spielereien mit grossen Dingen». Camus vergleicht das Leben des Menschen deshalb mit der Strafe von Sisyphos. Weil der griechische König die Götter übers Ohr hauen wollte, wurde er schrecklich bestraft: Bis in alle Ewigkeit muss Sisyphos jeden Tag einen Felsbrocken auf einen Berg schleppen und jeden Tag entgleitet ihm der Brocken kurz vor dem Gipfel. So muss er jeden Tag seine sinnlose Arbeit von Neuem beginnen. Für Camus ist Sisyphos deshalb der Held des Absurden.
Die Stunde des Bewusstseins
Darstellungen von Sisyphos zeigen ihn, wie er seinen Felsbrocken auf den Berg buckelt. Das interessiert Camus nicht weiter. Er wartet, bis der Stein in die Tiefe gerollt ist. Was passiert jetzt? Sisyphos muss selbst wieder ins Tal schreiten. Camus schreibt: «Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisyphos. … Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmässigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewusstseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verlässt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels.»
Das Schicksal von Sisyphos ist tragisch, weil es ihm bewusst ist. Camus schreibt: «Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmass seiner unseligen Lage: über sie denkt er während des Abstiegs nach. Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.» Camus zeigt uns Sisyphos also im Moment des Abstiegs vom Gipfel, ohne seinen Felsbrocken. Er schreibt, in diesem Moment komme Sisyphos zu sich. Er werde sich bewusst, dass sein Schicksal ihm gehöre und sein vermaledeiter Fels seine Sache sei. «Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos», schreibt Camus. Und folgert: «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.»
Wie geht es Sisyphos heute?
Und heute? Ist Sisyphos immer noch glücklich? Die Welt, vielleicht stimmen Sie mir in diesem Punkt zu, ist wieder so absurd wie 1940. Es hat keinen Sinn, einen Sinn in den Nachrichten zu suchen, in den Meldungen über Autokraten und ihre Geschäfte, über Kriege und Konflikte, Hunger und Not, Reichtum und Verschwendung. Wie zu Zeiten von Camus kann das Gefühl der totalen Absurdität einen jederzeit anspringen. Wie geht es Sisyphos heute?
Für Camus bestand das Absurde im Spannungsverhältnis zwischen der Sinnwidrigkeit der Welt einerseits und der Sehnsucht des Menschen nach einem Sinn andererseits. Bei Camus ruft der Mensch nach Sinn, aber die Welt bleibt stumm. Diese Spannung auszuhalten wird für Camus zum Sinn einer Existenz als menschlichem Sisyphos.
Selbst der Kühlschrank redet mit
Die Sehnsucht nach Sinn ist geblieben. Nur ist die Welt heute nicht mehr stumm wie zur Zeit von Camus. Der Mensch ruft nach Sinn und es erschallt eine wahre Kakophonie von Antworten aus dem Computer und dem Handy. Selbst Kühlschrank und Mikrowelle reden heute mit. Wir sind umgeben von plappernden Simulationsmaschinen: KI-Chatbots geben jederzeit bereitwillig auf alles Antwort und gaukeln uns Sinn vor, ohne selbst einen Sinn für den Sinn zu haben.
Die Welt hat ihre Absurdität auf die Spitze getrieben. Wo Camus «unfruchtbare Spielereien mit grossen Dingen» beklagte, geben wir uns heute hemmungslos unfruchtbaren Spielereien mit kleinen Dingen hin. Kaum jemanden kümmert noch die eigene Fremdheit. Online können Sie in jede Rolle schlüpfen, die Ihnen passt. Hauptsache: Sendezeit. Die magischen Kanäle haben sich längst in magische Spiegel verwandelt. Gewiss ist nur der nächste Klick, der hoffentlich zum nächsten Kick führt.
Sisyphos macht ein Selfie
Und Sisyphos? Steht breit grinsend mit seinem Felsbrocken am Berg und macht ein Selfie. Er lässt sich feiern als der Mann mit der absurden Aufgabe. Bei Camus war Sisyphos glücklich, weil er den Felsen als seine Sache akzeptierte und im Kampf Erfüllung fand. Heute findet er sein Glück in der Darstellung des Kampfs. In der Selbstdarstellung. Ich glaube, Sisyphos ist ein Narzisst geworden.
Da steht er nun an seinem Berg und lässt sich knipsen. Und wir? Was machen wir? Die Sehnsucht nach Sinn ist zweifellos geblieben. Bei Camus entsteht das Absurde aus der Konfrontation zwischen dem glühenden Verlangen des Menschen nach Klarheit und der stummen Gleichgültigkeit der Welt. Zwar plappert diese Welt heute aus allen Rohren, die künstlich generierten Sätze können die Gleichgültigkeit aber nicht kaschieren. Die absurden Regeln, die Meursaults Entfremdung von sich selbst und der Gesellschaft noch verstärkt haben, sind Algorithmen gewichen. Die sind zwar logisch aufgebaut, aber genauso absurd.
Gibt es also keinen Ausweg? Vielleicht doch. Was uns Menschen eint, ist die Sehnsucht nach Sinn, ist der Schmerz über die Gleichgültigkeit. Die Welt und ihre Absurdität müssen wir wohl hinnehmen, wie Sisyphos seinen Felsbrocken. Aber die Gleichgültigkeit, die müssen wir nicht hinnehmen. Die können wir abstreifen und uns anderen Menschen zuwenden. Wie es im Titel des Romans von Anna Gavalda hiess: «Zusammen ist man weniger allein». Die Welt bleibt absurd. Wir bleiben uns fremd und manchmal auch allein. Aber wir wissen, dass wir dieses Schicksal teilen.
Bei Camus ruft der Mensch nach Sinn, aber die Welt bleibt stumm. Lassen Sie uns also nicht die Welt, sondern andere Menschen rufen. Richtige Menschen.
Basel, 07.11.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen:
Camus, Albert (1994): L’étranger: roman, Paris 1994.
Camus, Albert (2012): Le Mythe De Sisyphe: Essai sur l’absudre, Paris 2012 Les Essais.
Camus, Albert (2021): Der Fremde: Roman, übers. v. Uli Aumüller, 80. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2021 rororo 22189.
Camus, Albert; Wroblewsky, Vincent von (2022): Der Mythos des Sisyphos, 28. Auflage, Reinbeck bei Hamburg 2022 Rororo 22765.
Ein Kommentar zu "Der narzisstische Sisyphos"
Einen Felsbrocken den Berg hochwälzen macht an sich keinen Sinn. So wie es beispielsweise eigentlich auch keinen Sinn machen kann, immer noch mehr Geld und Macht zu haben, um immer noch mehr zerstören zu können. Warum befreit sich Sisyphos nicht vom Zwang, einen Unsinn tun zu müssen?