Der tiefere Sinn von Baumärkten und Friseuren

Publiziert am 30. April 2020 von Matthias Zehnder

Coiffeure und Baumärkte haben wieder auf in der Schweiz. Schön für die Frisur – und für Haus und Garten. Aber warum eigentlich gerade die? Warum nicht Buchhandlungen und Konzertsäle? Warum sind in der Schweiz ein guter Haarschnitt und propere Gärten wichtiger als gute Lektüre und mitreissende Konzerte? Ich glaube, das ist kein Zufall. Es gewährt uns im Gegenteil einen Einblick in die Funktionsweise unserer Politik – und in die Seele unserer Gesellschaft. Warum in der Schweiz Frisuren und Gärten wichtiger sind als Bücher und Konzerte, das erkläre ich Ihnen in meinem Wochenkommentar.

Es war etwas creepy: Am Dienstag habe ich mir beim Friseur meines Vertrauens meine Matte schneiden lassen. Dafür musste ich mein Jackett selbst an den Bügel hängen, die Hände desinfizieren, mir eine Schutzmaske aufsetzen und ein Wegwerfmäntelchen überziehen. Im Coiffeursalon sah es aus wie in einem Chemielabor. Oder einer Station für Tierexperimente. Aber immerhin: Ich bin frisch frisiert. Das andere grosse Vergnügen der Schweizerinnen und Schweizer habe ich ausgelassen: Ich hatte schlicht nicht die Zeit, mich in eine der langen Schlangen einzureihen, die sich vor den Baumärkten bildeten.

Coiffeure und Baumärkte also sind seit Montag wieder auf und wir wissen seither: Sie sind der Schweiz offensichtlich wichtiger als (zum Beispiel) Buchhandlungen und Sinfoniekonzerte. Oder Modegeschäfte und Theateraufführungen. Am Risiko alleine kann es nicht liegen. Es ist sicher aufwändiger, den Kunden eines Coiffeurs zu schützen als den Kunden in einer Buchhandlung. Mit anderen Worten: Dass Friseure öffnen dürfen und nicht Buchhandlungen, das hat keine virologischen Gründe. Das ist ein inhaltlicher Entscheid. Dem Bund sind gute Frisuren wichtiger als gute Bücher. Das ist interessant, weil es viel über unsere Gesellschaft und vor allem über unsere Politik aussagt. Interpretieren wir also diesen Entscheid inhaltlich.

Ordnung statt Anregung

Was unterscheidet eine gute Frisur von einem guten Buch? Wenn einem der Coiffeure die Haare stutzt, dann schafft er Ordnung auf dem Kopf. Er schneidet Haare zurück, bändigt den Wildwuchs und schneidet klare Linien. Nach dem Besuch beim Friseur hat man ein Gefühl von Frische. Man hat die Haare wieder im Griff. Hat Klarheit geschaffen. Es bleibt ein Gefühl von Sicherheit und Ordnung. Ein Besuch beim Friseur verwandelt einen in sein altes Ich. Ein gutes Buch macht das Gegenteil: Es regt an, ja es wühlt auf, sät Zweifel, verunsichert und regt damit zum Denken an. Ein gutes Buch regt auf, vielleicht erschüttert es sogar und verwandelt dadurch die Leserin oder den Leser.

Was unterscheidet den Besuch im Baumarkt vom Besuch eines Theaters oder eines Konzertes? Ein Baumarkt vermittelt dem Kunden ein Gefühl der Machbarkeit. Von der Fliese bis zur Bahre kann der Kunde alles selber machen. In so einem Baumarkt gibt es für jedes Problem ein Werkzeug. Für jedes Material eine Schraube und den passenden Schraubenschlüssel dazu. Ein Baumarkt vermittelt das Gefühl, dass man sein Leben im Griff haben kann. Ganz anders ein Konzert. Das reisst mit, überwältigt vielleicht sogar, hinterlässt einen glücklich staunend, erfüllt, in Bewunderung der Künstler – und im Angesicht von Mozart, Beethoven oder Wagner im Bewusstsein der eigenen Bedeutungslosigkeit.

Eine Welt in den Knien

Die Politik hat sich also dafür entschieden, der Bevölkerung ein Gefühl von Ordnung und Machbarkeit zu verschaffen. Kultur macht das Gegenteil. Kultur schafft Unordnung, bricht Sicherheiten auf, stellt infrage, verunsichert, regt zum Denken an. Nun befinden wir uns in einer globalen Krise. Wir erfahren jeden Tag die Grenzen der Wissenschaft. Wir erleben staunend, wie rasch unsere Wirtschaft in die Knie ging. Wie sich auf der ganzen Welt Regierungen dem Virus und damit der Natur beugen. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Eckpfeiler unserer Gesellschaft lösen sich in Luft auf: Fussball, Gottesdienste, Maturprüfungen – alles abgesagt. Vor diesem Hintergrund wollte die Politik wohl der Bevölkerung Zugang geben zu positiven Erlebnissen: Es tut halt gut., wenigstens auf dem Kopf etwas Ordnung zu schaffen und sich am Gefühl laben zu können, dass wenigstens in Haus und Garten mit dem richtigen Werkzeug in der Hand alle Probleme lösbar sind. Kultur ist vor diesem Hintergrund ein unerwünschter Störfaktor.

Man könnte also etwas überspitzt sagen: Friseure und Baumärkte beliefern das Volk in der Krise mit «Opium». Das beruhigt. Es hilft aber nicht weiter. Diese Krise bewältigen wir nicht im Ruhewagen. Wir brauchen neue Ideen, unbequeme Ansätze, aufregende Konzepte. Natürlich ist Kultur keine Lösung. Aber sie kann vielleicht jene Flügel verleihen, die wir zur Bewältigung der Krise brauchen.

Die Zweck-Frage

Vielleicht bin ich mit dieser Argumentation aber in genau jene Falle getappt, die die Politik der Kultur in der Schweiz immer stellt: in die Falle der Zweck-Frage. In der Schweiz unterstellen wir alles dieser Zweck-Frage. Bevor wir etwas lernen, fragen wir: Wozu muss ich das wissen? Bevor wir ein Buch lesen, fragen wir: Was bringt mir das? Dabei ist das, was Kultur auszeichnet, gerade die Abwesenheit eines Zwecks. Das heisst aber nicht, dass Kultur nichts bringt. Wenn wir einem Buch, einem bestimmten Bildungsansatz oder Kultur generell einen bestimmten Zweck unterstellen, machen wir das aufgrund der Vergangenheit. Welche Anforderungen die Zukunft stellen wird, das können wir nur vermuten. Es ist deshalb gerade das zwecklose Wissen, das für die Zukunft befähigt. Es ist gerade die zwecklose Kultur, die vielleicht für jene Erschütterungen sorgt, die uns in die Lage versetzen, es mit einer verrückten Zukunft aufzunehmen.

Vor allem aber schafft es die Kultur, auf produktive Art anzuregen und aufzuregen. Sie führt uns aus der Komfortzone hinaus und legt Nöte offen, ohne gleich mit einer Lösung zu winken. Kultur setzt uns mit anderen Worten in Bewegung. Der Bundesrat aber predigt uns seit Wochen: «Bleiben Sie zu Hause». Kein Wunder, zieht er das wohlige Machbarkeitsgefühl, das ein Baumarkt vermittelt, der aufwühlenden Anregung durch eine Buchhandlung vor. Das ist der Grund, warum der Gang zum Friseur und in den Baumarkt erlaubt worden ist, uns der Besuch von Buchhandlungen und Konzertsälen vorerst verwehrt bleibt. Und zudem passen vielleicht Friseure und Baumärkte auch besser zur ordentlichen Schweizer Seele.

Basel, 30. April 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: © David Bodescu

 

12 Kommentare zu "Der tiefere Sinn von Baumärkten und Friseuren"

  1. Zu Beginn dieser heimtückischen Viruskrankheit handelte der Bundesrat sehr gut. Die Einschränkungen griffen und verhinderten das Schlimmste.
    Bei der Lockerung hingegen ist keine klare Struktur erkennbar. So wie zu Beginn die drastischen Massnahmen von der medizinischen Seite verordnet wurden, werden nun die Lockerungen von der wirtschaftlichen Seite wirr und ohne Konzept abgewickelt.
    Dass die Wirtschaft drängt – und da Wirtschaft nicht nur „zur Arbeit gehen“ ist und „Lohn bekommen“ – sondern viel mehr, nämlich unser aller Wohl, unser Leben und schlussendlich auch unsere Gesundheit ist – ist dies natürlich begreiflich.
    Ob nun Baumärkte und Coiffeure oder Buchhandlungen und Konzertsäle als erstes wieder die Tore öffnen können? Schlussendlich ist – wie man schon in einem früheren Wochenkommentar erfuhr – alles relevant für die Ganzheit des Lebens.
    Ich war froh, den Coiffeur zurückzuhaben, und ich war froh – nach langem Warten endlich eine neue Duschstange, ein Kessel Farbe und Spachtelmasse, Araldit-Leim und Wäschehaken, endlich einen Briefkasten und eine Fussmatte kaufen zu können. Auch ein Pflanzenstock lag noch drin, denn Frühling heisst auch Blumen im Hause. Diese Einkäufe waren für mich wichtig, wie für andere vielleicht neue Ziegel, eine Absturzsicherung, ein Geländer usw. wichtig sind.
    Und kommt ja nicht mit „Online-Shopping“. Bestellen und wieder zurückschicken, diesen Hin- und Her-Wahnsinn ersetzt nie ein Fachgeschäftbesuch.
    Trotzdem bezeichnend, die banalen Baumärkte und simplen Coiffeure ironisch ins Lächerliche zu ziehen. Und die Konzertsäle und Buchhandlungen akademisch-intelektuell zu überhöhen.
    Einfach nur um der Welt mitzuteilen:
    Ich bin ein erhabener Kulturliebhaber mit Dehors, meine Wertmassstäbe heissen Anmut, mein Takt ist die Klassik, meine Säulenheiligen heissen Mozart und Bach, meine Etikette ist der Schick der Literatur, in meinem Bücherbrett stehen Goethe, Hesse und Tucholsky.
    Die tumben Obi´s, Jumbo´s und M-Do-it´s und die debilen Frisöre sind nicht meine Welt.
    Und wenn mal der Spülkasten klemmt, ruf ich mein Personal.
    Bedenkliche Haltung; auch wenn´s ironisch gemeint war.

  2. Niemand muss auf Bücher verzichten. Kleine Buchhandlungen bringen sie mit dem Velo vorbei. Gestern hatte ich das druckfrische Exemplar von Paolo Giordano „In Zeiten der Ansteckung“ im Milchkasten. Ich lese es gerade und streiche mir meine langen Haare aus dem Gesicht.

  3. Viel relevanter, als ob jetzt Baumärkte und Friseurgeschäfte oder Buchhandlungen und Konzertsäle wichtiger sind, scheint mir die Frage, was ich tun kann, damit politisch Verantwortliche und wirtschaftlich Mächtige den Corona-Schuss-vor-Bug so verstehen, dass es grundsätzlich nicht mehr so weiter gehen kann wie bisher. Ein paar Handvoll Milliarden können der Politik und der Wirtschaft zu Schadensbegrenzung dienen. Das mag kurzfristig richtig und wichtig sein. Mittelfristig sind das aber nur ein paar Tropfen in ein Fass ohne Boden. Das Modell „Immer-noch-mehr-dank-immer-noch-mehr“ ist ausgelaufen. So geht es definitiv nicht mehr. Nicht mit der Corona-Krise im Nacken. Und nicht mit einer Finanz-Krise auf dem Konto. Und erst recht nicht mit einer Klima-Krise am Horizont. Längerfristig braucht es ein ganz anderes Gesell- und Wirtschaften.

    1. einverstanden; bloss: der Schuss vor den Bug sollen nicht nur die sogenannt Mächtigen verstehen – sondern wir alle! Wir Konsumenten sind die Mächtigen, so denn wir unsere Macht und Verantwortung auch wahrnehmen! Wir WählerInnen sind die Mächtigen, so denn wir den Stimm- und Wahlzettel nicht bloss ins Altpapier werfen ….

  4. Danke für die hilfreichen Argumente für die erste Öffnung. Ich frage mich, warum keine Gottesdienste stattfinden. Wenn irgendein Ort in dieser Stadt die Möglichkeit bietet, Distanz zu halten, dann Kirchen am Sonntag. Schade. Und ich rege mich eigentlich auf über Alle, die meckern, weil sie vergessen werden, als Berufsgruppe oder Branche. Und gleichzeitig höre ich kein aufbegehren von den Kirchen. Warum so still? Schade. Ich freue mich auf den ersten Gottesdienst, allein auf einer Bank. Dann halt.

    1. Antwort:
      Auch ich empfinde das. Mit diesem zusperren, zurückziehen, absondern demontiert sich die Kirche gleich selbst! Früher wurden Krankenwaschungen durchgeführt, Leprakranke wurden gesalbt. Die Kirche war nahe an den Leuten, wenn sie besonders gebraucht wurden. Sie war da. Immer und besonders in schwierigen Epochen.
      Heute: Absondern; In Rom sind die Läden geschlossen, keine Gottesdienste, keine Nähe, kein Halt, kein Trost – Wenn Wallfahrtsorte überhaupt offen haben – dann mit Schalterzeiten von 10 Uhr bis 17.45…..
      Dies alles wird in Kirchenkreisen noch zu reden geben und die SINNfrage wird gestellt.

      1. Herr Zweidler, da habe ich mich wohl verlesen. Die Kirche demontiere sich selbst, weil sie zusperre, sich zurückziehe, sich absondere? Was für ein Quatsch. 1. Hat der Bund den Kirchen die Gottesdienste verboten, die fallen unter das Veranstaltungsverbot. 2. Haben sich sowohl die EKS wie die Bischofskonferenz mit Hygienekonzepten und Öffnungsstrategien an den Bundesrat gewendet. 3. Wollen Sie tatsächlich an Cobid-19 erkrankte Menschen waschen und salben? Schon mal was von Aerosolen und der Übertragbarkeit des Virus gehört?
        Ich würde eher im Gegenteil sagen: Die Kirchen haben sich mit vielen Angeboten, teils digital, teils ganz konkret und direktmenschlich, um die Menschen gekümmert und gezeigt, dass sie auch dann für die Menschen da sind, wenn der Staat Gottesdienste verbietet.

    2. Gottesdienste finden nicht statt, weil auch die Kirchen unter das Veranstaltungsverbot fallen. zu recht übrigens: In anderen Ländern sind ausgerechnet Kirchen zu Hotspots der Ansteckung geworden (zum Beispiel im Elsass). Die Kirchen sind beim Bund mit Hygienekonzepten vorstellig geworden und drängen auf eine Öffnung. Sie haben dabei aber das Problem, dass sie Kranke, Alte und Schwache von Gottesdiensten ausschliessen müssen. Gottesdienste nur für starke, gesunde Menschen sind nicht im Sinne des Erfinders. Deshalb haben sich die Kirchen digitale Angebote einfallen lassen und bieten eine breite Palette von Angeboten im Internet an.

      1. Danke für diese Richtigstellung. Viele kirchliche Mitarbeitende setzen alles daran, auf elektronischem Weg, aber ganz viel auch am Telefon, am Gartenzaun und bei Beerdigungen so gut es geht, den Menschen nahe zu sein. Auch wenn digitaler Kontakt den physischen nicht ersetzt, so haben viele Kirchenkreise durch die Isolation digitale Möglichkeiten ganz neu entdeckt und werden sie auch in Zukunft zeitgemässer nutzen können.

  5. Bedenken Sie, Herr Zehnder; es gibt nicht nur intelektuelle Männer. Manche Frauen brauchen dringend den Coiffeur um sich wohl zu fühlen und gepflanzt werden muss jetzt. Lesen kann man das ganze Jahr. Also, eins nach dem andern…
    …das wichtige zuerst. 😉

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