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Wut und Liebe

Publiziert am 11. September 2025 von Matthias Zehnder

Kürzlich hat mir jemand geschrieben, das Buch, das ich empfohlen hätte, sei «kein Buch, das man lesen muss». Das stimmt. Aber es gibt sehr wenige Bücher, die man wirklich lesen «muss» – und es ist meist eine sehr persönliche Wertung. Manchmal ist es auch eine Frage des Kontextes. Es kommt vor, dass ich Bücher neu entdecke, weil ich sie anders lese. So ist es mir diese Woche mit dem neuen Roman von Martin Suter gegangen: Ich habe das Buch quasi aus der Perspektive eines andern Romans neu gelesen. Mein Ausgangspunkt war ein Roman über einen Kunstlehrer von Bernhard Chiquet. Der Roman von Martin Suter handelt ebenfalls von einem Künstler: von einem jungen, mittellosen Maler, der um seine grosse Liebe kämpft. Camilla will Noah nicht länger durchfüttern und ihn verlassen. Sie liebt ihn zwar, aber nicht das Leben mit ihm. Noah ist zu allem bereit, um Camilla zurückzugewinnen. Was bedeutet das für ihn als Künstler? Ist er bereit, auch seine Kunst über Bord zu werfen? Prompt trifft er in einer Bar eine alte Dame, die, fast wie bei Dürrenmatt, sich vor ihrem endgültigen Abschied rächen will. In meinem 272. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche – nein, nicht warum man den neuen Roman von Martin Suter lesen «muss», sondern was mich an dem Buch fasziniert hat. Nächste Woche folgt als Gegenstück dann der Roman von Bernhard Chiquet.

Noah Bach ist Anfang Dreissig und er ist Künstler. Kunstmaler, um genau zu sein. Ein erfolgloser Kunstmaler. Er wartet seit Jahren auf seinen Durchbruch und probiert immer wieder neue Stile und Konzepte aus. Sein Freund Bernard, im Gegensatz zu Noah ein erfolgreicher Maler, sagt schon lange, der Kunst von Noah fehle eine Geschichte. Er müsse sich festlegen. Bernard findet, dass die Experimente von Noah unsicher wirken. Bernard sagt, dass die Käufer nicht die Experimente der Künstler kaufen wollen, sondern nur deren Resultate. Noah findet: «Das ist keine Kunst. Das ist Marketing!»

Bernard trug ihm diese Aussage bis heute nach. Manch­mal, wenn er Noah ein neues Werk zeigte, nannte er es «meinen neusten Markenartikel». Das Lachen, mit dem er es sagte, klang immer ein wenig bitter.
Ein weiteres Indiz für Bernards Marketingzugang zur Kunst war für Noah, dass in dessen Singlehaushalt eine ge­radezu pedantische Ordnung herrschte, in seinem Atelier aber immer malerische Unordnung. Als Noah seinen Freund einmal darauf ansprach, er­klärte der ihm: «In meiner Wohnung empfange ich keine Sammler. Die würden mich sonst nicht als Künstler akzep­tieren.»
Als er Camilla gegenüber einmal Bernards Marketing­seite erwähnte, meinte sie: «Etwas Marketing könnte auch dir nicht schaden.» (Seite 37)

Das also ist Noah. Leidenschaftlicher Künstler, aber erfolglos. Seine Freundin Camilla ist einundreissig und Buchhalterin. Sie sieht umwerfend gut aus – aber sie ist frustriert. Sie findet es ungerecht, schön zu sein, aber kein schönes Leben zu haben. Sie liebt zwar Noah nach wie vor, aber nicht das Leben, das sie mit ihm führt.

«Verzeih, bitte», begann Camilla, «ich war ganz ehrlich mit mir in den letzten Tagen. Mit dem Resultat, dass ich es jetzt mit dir auch sein muss. Ich habe viel über mein Leben nachgedacht und bin zum Schluss gekommen, dass es nicht so ist, wie ich es mir vorgestellt habe. Zu diesem Schluss bin ich zwar schon oft gekommen. Aber nie habe ich mir die Frage gestellt, wie ich es mir sonst vorgestellt habe. Jeden­falls habe ich mir bisher nie die Antwort darauf gegeben. Aber jetzt weiß ich sie.» Sie nahm einen Schluck aus der Flasche. «Willst du sie wissen?»
«Klar.»
Camilla zögerte nur kurz. «Ich will ein Leben ohne finanzielle Sorgen. Kein Luxusleben – wobei, da hätte ich auch nichts dagegen –, aber ein Leben, in dem ich nicht immer überlege, worauf ich verzichten muss, um mir das oder das zu leisten. Ein Leben, das ich mir nicht verdienen muss mit einer Arbeit, die ich hasse –»
Sie hielt inne, aber Noah sah, dass sie noch nicht fertig war. «Sag es.»
Sie holte Atem. «Aber nimm es nicht persönlich: mit einer Arbeit, die ich hasse, um jemandem zu ermöglichen, einer Arbeit nachzugehen, die er liebt.» (Seite 12)

Camilla will sich einen Mann mit Geld suchen. Solange sie noch schön ist.

Das ist die Ausgangslage im Roman von Martin Suter. Das klingt auf den ersten Blick etwas konstruiert, geht aber runter wie einer der Mojitos, die Noah danach in der «Blauen Tulpe» trinkt. Am Nebentisch sitzt, ebenfalls allein, eine ältere Dame, die sich auch mit Mojitos tröstet: Betty Hasler, ebenso reich wie unglücklich, kommt gerade vom Arzt. Mit schlechtem Bescheid über ihr Herz: Es flimmert, wo es nicht flimmern sollte. Noah und Betty finden sich, trinken gemeinsam und schütten sich gegenseitig das Herz aus. Im übertragenen Sinn natürlich. Betty ist seit drei Jahren Witwe: Ihr geliebter Mann Pat ist von seinem Businesspartner zu Tode gestresst worden. Jetzt hat sie einen letzten Wunsch: Dass dieser Businesspartner vor ihr abkratzt. Das ist ihr eine Million wert. Betty Haslers Auftauchen im Leben von Noah Bach wird so zum Besuch der alten Dame im Kleinformat.

Es ist aber nicht das, was mich interessiert hat an diesem Buch. Die spannende Frage ist für mich eine andere. Als Noah mit seinem Freund Bernard, dem erfolgreichen Künstler, in einem Restaurant isst, kommt diese Frage auf den Tisch:

Bernard aß seine Insalata caprese auf, Noah seine Artischockenherzen.
«Um Camilla zurückzulocken, reichen auch die knapp zwanzig nicht.»
«Sie ist zu ihrer Freundin Liz gezogen.»
«Ich dachte, sie hätte einen Neuen?»
«Dachte ich auch. Aber offenbar doch nicht so ganz.»
«Hoffnungen?»
Noah legte das Besteck in den leeren Teller, öffnete die Handflächen und schloss sie wieder. «Das heißt ja nur, dass sie sich nicht sicher ist. Nicht, was die Entscheidung, sondern nur, was die Person anbelangt.»
Der Kellner räumte die Teller ab.
«Danke, Alberto«, sagte Bernard. Und zu Noah: «Würdest du die Kunst aufgeben, wenn du sie dadurch zurückholen könntest?»
Noah überlegte nicht. «Alles. Ich glaube, ich würde alles aufgeben.»
«Also auch dich.»
Noah nickte. (Seite 90)

Stellt sich die Frage, was von Noah übrig bleibt – und was von seiner Kunst. Genau das diskutiert er in seiner Atelier-Gemeinschaft mit Katy, einer befreundeten Bildhauerin:

Katy stand auf und ging zum Kühlschrank. «Gestern gab es hier noch Bier. Nimmst du auch eines?»
Noah nickte.
Mit zwei Flaschen setzte sie sich wieder neben ihn. «Ich weiß nicht, ob ich recht habe, aber meine Erfahrung ist: Man soll sich nicht ändern, das funktioniert nicht. Sie will das ja auch nicht, sonst hätte sie gesagt: Wenn du so weitermachst, verlasse ich dich. Sie respektiert ja, wie du bist. Wenn du dich ändern würdest, würde sie diesen Respekt verlieren. Und so viel weiß ich über die Liebe: Ohne Respekt – vergiss es!»
Sie stießen mit dem Bier etwas zu heftig an und mussten beide den Schaum absaugen, der aus den Flaschenhälsen stieg.
«Also ist dein Rat: Bleib, wer du bist, ein erfolgloser Künstler, dann verlierst du zwar die Frau, aber nicht ihren Respekt.»
«Und vielleicht die Frau auch nicht.»
Er nahm einen Schluck. «Und wenn doch?»
Katy hob die Schultern. «Dann ist es vorbei.» (Seite 98)

Noah und seine Kunst sind also am gleichen Ort: So, wie er ist und so, wie er malt, ist er nicht erfolgreich. Anders gesagt: Weder Noah, noch seine Kunst passen zum Markt. Soll er sich ändern? Soll er seine Malweise ändern? Ist es dann noch Kunst oder wird die Kunst dann zum Marketing? Er sitzt in der Falle: Von seiner Kunst kann er nicht leben – und wenn er davon leben kann, ist es nicht mehr seine Kunst. Wie soll er sich entscheiden? Die Antwort hat er schon gegeben: Er ist bereit, alles aufzugeben für ein Leben mit Camilla. Aber ist er dann noch Noah? Er experimentiert und sucht und malt – und trifft sich etwas später wieder mit Bernard.

Der Kellner räumte die leeren Teller ab und wischte mit einer Serviette die Krümel vom Tischtuch.
«Also», sagte Bernard, «was willst du mir zeigen?»
Es war Donnerstag, sie sassen wieder im Arvenstübchen, Bernards Stammlokal.
Noah stand von seinem Stuhl auf und setzte sich neben seinen Freund auf die Bank. Er zog sein Smartphone hervor und zeigte Bernard Fotos von zwölf Triptychen mit Camilla.
Bernard nahm sich Zeit. Als er das letzte studiert hatte, sah er Noah an, nickte und sagte: «Doch, das ist endlich ein tragfähiges künstlerisches Konzept. Das könnte funktionieren. Das hier», er deutete auf das Display, «das sind jetzt alles eindeutig Bachs.»
Noah legte den Kopf in den Nacken und lächelte zur Decke hinauf. «Im Ernst?»
«Im Ernst.»
Der Kellner kam mit der Rechnung. Bernard hielt ihm die Kreditkarte hin.
Noah fuhr dazwischen. «Bringen Sie uns doch noch zwei Grappa.» (Seite 174)

Noah hat eindeutige Bachs geschaffen. Aber ist es noch Kunst? Es es ehrlich? Und: Spielt das eine Rolle? Das ist das zentrale Motiv in Martin Suters Roman: die Ehrlichkeit dem eigenen Leben gegenüber. Macht sich Noah etwas vor? Wieviel ist die Ehrlichkeit von Camilla wert? Ist die Geschichte von Betty Hasler wahr? Wie ehrlich sind die Leben, die wir leben? Und wie ehrlich ist die Kunst?

Bernard Chiquet setzt sich in seinem Roman über Lukas Härri, Lehrer für Malerei an einer Kunsthochschule, aus einer völlig anderen Perspektive mit ähnlichen Fragen auseinander. Das ist deshalb spannend, weil Bernard Chiquet selbst jahrelang als Kunstlehrer gearbeitet hat. In seinem Roman fragen sich die Kunststudenten: Darf Kunst dekorativ sein? Müssen wir Malen heute als Performance lesen? Gibt es Wahrheit nur durch Leiden? Was ist zeitgenössische Kunst? Gibt es das überhaupt? Das sind letztlich dieselben Fragen wie sie Martin Suter stellt: Wie ehrlich sind die Leben, die wir leben? Und wie ehrlich ist die Kunst?

Der Roman von Martin Suter ist handwerklich gut geschrieben. Wäre es Kunst, würde Lukas Härri das Bild wohl als dekorativ bezeichnen. Es ist ein Buch für einen verregneten Samstagnachmittag. Eine rasante Handlung mit überraschenden Wendungen und einer interessanten Frage im Zentrum. Der Roman von Bernard Chiquet nimmt sich daneben etwas sperrig aus: Die Handlung ist hier weniger wichtig, im Zentrum steht das Nachdenken über Kunst und die Kunsthochschulen. Davon nächste Woche mehr. Meine Empfehlung: Lesen Sie beide Bücher. Am besten parallel.

Martin Suter: Wut und Liebe. Roman. Diogenes, 304 Seiten, 35.00 Franken; ISBN 978-3-257-07333-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257073331

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Basel, 11.09.2025, Matthias Zehnder

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