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Was wir wissen können

Publiziert am 6. November 2025 von Matthias Zehnder

Am 28. Dezember 1817 veranstaltete der englische Maler Benjamin Robert Haydon ein Abendessen, das in die britischen Geschichtsbücher einging. An der Dinnerparty in London trafen sich nämlich der Schriftsteller Charles Lamb und die Dichter John Keats und William Wordsworth. Über dieses Abendessen hat Stanley Plumly einen ganzen Roman geschrieben: «The Immortal Evening: A Legendary Dinner with Keats, Wordsworth, and Lamb» heisst das Buch. Ian McEwan tut es ihm jetzt quasi gleich: Er hat einen Roman über die Erforschung eines ähnlichen Dichter-Dinners geschrieben. Allerdings mit zwei spannenden Tricks. Sein Dinner zu ehren von Dichtersgattin Vivien Blundy findet im Oktober 2014 statt, wir blicken aber aus der Zukunft, aus dem Jahr 2120, auf das Abendessen zurück. Der Erzähler, der Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe, forscht in der Bodleian-Snowdonia-Bibliothek über das legendäre Dinner. Er schreibt, was die Literaturwissenschaft darüber weiss und spekuliert über ein Gedicht, das Francis Blundy an jenem Abend rezitierte. Das Gedicht ist legendär, aber es ist verschollen. Den zweiten Teil seines Buches widmet Ian McEwan den Bekenntnissen von Vivian Blundy. Sie enthüllen, was damals wirklich geschah. Obwohl der Literaturwissenschaftler über Berge von Daten verfügte, liegt er mit seinen Thesen zum Teil weit daneben. In meinem 280. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich Ihnen dieses Buch gerade heute zur Lektüre empfehle,

 

Ian McEwan Erzählung setzt am 20. Mai 2119 ein, also knapp 100 Jahre in der Zukunft. Er beschreibt diese Zukunft nie wirklich, wir müssen sie aus Nebensätzen erschliessen. Die Welt, in der Dichter Francis Blundy im Jahr 2014 lebte und die Welt von Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe im Jahr 2119 unterscheiden sich dramatisch.

Die Klimakrise, die Francis Blundy übrigens nie so bezeichnen wollte, begannt zu seiner Zeit mit milden Wintern, starken Stürmen und Hitzewellen. Das führte zu Überflutungen, Dürren, einem Artensterben und zu Migration. In der Mitte des 21. Jahrhunderts eskalierten mehrere Konflikte in begrenzte, aber verheerende Nuklearschläge: 2036 kam es in Asien zu den ersten Klimakriegen zwischen Indien und Pakistan, primär aufgrund von Wasserknappheit. Kurz darauf explodierten sechs taktische Nuklearwaffen im Nahen Osten. Diese Atomexplosionen schleuderten gigantische Mengen Staub und Sand in die obere Atmosphäre. Der «Kriegsstaub» führte zu einer globalen Abkühlung von zwei Grad, was paradoxerweise als «Klimachance» angesehen wurde.

2042 explodierte eine fehlerhaft konstruierte, russische Interkontinentalrakete im Atlantik. Das führte zu siebzig Meter hohen Tsunamis, die Europa, Westafrika und Nordamerika verwüsteten. Die Flutwelle führte zum Untergang zahlreicher Küstenstädte und Mündungsdeltas, darunter Lagos, London, Rotterdam, Hamburg und ein Grossteil von Paris. Im Zuge der Überflutung wurde Großbritannien zu einem Archipel, also einer Insellandschaft. Die Scheune der Blundys befindet sich im 22. Jahrhundert auf einer isolierten, bewaldeten Insel der Cotswolds.

Die vielen Katastrophen haben dazu geführt, dass die Erdbevölkerung von neun auf knapp vier Milliarden Menschen zurückgegangen ist. Die Lebenserwartung beträgt im 22. Jahrhundert noch zweiundsechzig Jahre. Die Weltwirtschaft ist zusammengebrochen, die Versorgungssysteme sind wieder kleinteilig. Die Gesellschaft gleicht wieder der Gesellschaft der Vormoderne. Eine hübsche Pointe ist, dass ein grosser Teil der Daten aus dem 20. Jahrhundert nur dank des nigerianischen Internets gerettet werden konnten.

In dieser postapokalyptischen Welt also erforscht unser Literaturwissenschafter das berühmte Dinner im Jahr 2014, das der damals weltberühmte Dichter Francis Blundy seiner Frau Vivian zum 54. Geburtstag ausrichtete. Sein Forschungsgegenstand ist also das sogenannte «Zweite Unsterbliche Abendessen» und vor allem Francis Blundys berühmtes verschollenes Gedicht «Ein Sonettenkranz für Vivien».

Der Abend mochte einmal eine private Angelegenheit gewesen sein, doch war er das längst nicht mehr. Und es ging auch nicht mehr allein um ein verschollenes, nach dem Abendessen vorgetragenes Gedicht, sondern um das, was aus diesem Gedicht dank seiner Nichtexistenz geworden war: ein Reservoir an Träumen, überbeanspruchte Nostalgie, nutzlose retrospektive Wut und Brennpunkt haltloser Verehrung. Allein Blundys Wahl der Gedichtform, hieß es, sage doch alles. Ein Sonettenkranz sei im 21. Jahrhundert ein verschnörkelter Anachronismus gewesen. Durch keinerlei eigenen Verdienst, vielmehr allein dank der Torheit seiner Bewunderer habe das Gedicht alle Grenzen gesprengt, um in den Sumpf politischer Ökonomie, globaler Historie und Leids abzugleiten. Vergleiche mit dem ‹Unsterblichen Abendessen› von 1817, so wurde argumentiert, entbehrten jeder Grundlage. Esprit sei größtenteils ein Vorrecht der geistesgewandten Jugend. Und bei den Blundys habe es an jenem Abend niemanden gegeben, der sich vergleichen ließe mit Leigh Hunt oder Keats, dem nur noch vier Jahre bis zum Ende seines kurzen Lebens blieben. Niemand in der prachtvoll umgebauten Scheune hätte es mit Wordsworths Gelehrsamkeit aufnehmen können, der Unmenge an Gedichten, die er auswendig kannte, oder mit der Kraft seiner Persönlichkeit.
Und so stolperte die Debatte dahin, und der Ruhm des Abends bei Blundy wuchs im Laufe jener Jahre, in denen Städte, Landschaften und Institutionen verkümmerten oder überflutet wurden. Dabei hat ein Unmaß an Informationen in zahllosen Schichten unwichtiger Details überdauert. Viele Gelehrte erstickten unter dem Gewicht trivialer Fakten. So wissen wir zum Beispiel, dass Francis Blundy gern Äpfel aß. (Seite 24f.)

Sie wissen ja: Die Daten über diese Zeit haben dank des nigerianischen Internets überlebt. Die Frage, die Ian McEwan in seinem Buch stellt, lautet: Wissen wir mehr, wenn wir über mehr Daten verfügen?Über die Zeit des ersten «Unsterblichen Abendessens» von 1817 sind Angaben allenfalls in Form von einigen Briefen und Tagebucheinträgen überliefert. Wer, wie Francis Blundy im 21. Jahrhundert lebte, hinterliess eine riesige Datenspur und ist für die Forscher der Zukunft quasi gläsern. Literaturwissenschaftler Thomas Metcalf sagt:

Unsere Biografen, Historiker und Kritiker, deren Forschung in die Zeit nach dem Jahr 2000 fällt, erben über ein Jahrhundert dessen, was die Ära der Blundys so wolkig die ‹Cloud› nannte: ein riesiger, sich stetig ausweitender Sommerkumulus, bei dem es sich natürlich nur um Datenspeicher handelte. Wir haben fast zwei Jahrhunderte Fotografie und Film geerbt. Zahllose Vorträge von Francis Blundy, Interviews und Lesungen wurden aufgezeichnet und bleiben uns dank des nigerianischen Internets erhalten. All die Artikel über ihn in Zeitungen und Zeitschriften existieren in digitaler Form. Nachdem ab etwa 2004 die Handys der Blundys auch zu Kameras wurden, vervielfältigten sich Aufnahmen der Scheune, der Innenräume und der umgebenden Landschaft. Weder er noch Vivien waren in den sozialen Medien aktiv, doch verschickten sie in ihren späteren Lebensjahren Abertausend digitale Nachrichten. Ihnen verdanken wir, dass sich die tagtäglichen Belanglosigkeiten verfolgen lassen, und sie geben uns einen akkuraten Bericht über Freunde und Bekannte, abgeschlossene Gedichte und das Auf und Ab ihrer Stimmungen. Sie erzählen uns, was Vivien bekümmerte und bedauerte, alles, was sie ihre Schwester Rachel und enge Freunde wissen lassen wollte. Wir können uns außerdem die Nachrichten ansehen, die ihre Zeitgenossen beunruhigten, die Skandale, die davon ablenkten, die alten Triumphe im Sport. Wir wissen genau, was zwischen Francis und seinem Agenten, seinen Verlegern und Übersetzern, seinem Steuerberater, Arzt oder Anwalt vorging. Selbst seine und Viviens Surfgewohnheiten sind heute nachvollziehbar, und wir können Ende-zu-Ende-verschlüsselte Nachrichten einsehen. Wie unser Dean in einer Ansprache einmal sagte, haben wir der Vergangenheit ihre Privatsphäre geraubt. (Seite 31f.)

Der Literaturwissenschaft stehen also ganze Datenberge zur Verfügung. Aber weiss sie deshalb wirklich mehr? Keine Mail oder SMS enthält so interessante und wohlformulierte Reflexionen wie ein gedankenschwerer Brief des 19. Jahrhunderts. Der Literaturwissenschaft weiss im Jahr 2120, dass Vivien Blundy hundert Jahre zuvor eine Kartoffel der Sorte Rooster in der Hand hielt, um sie für das Essen an ihrem Geburtstag zu schälen. Aber weiss sie deshalb mehr? Und vor allem: Verstehen die Menschen des 22. Jahrhunderts die Menschen des 21. Jahrhunderts deshalb besser? Die Studenten von Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe jedenfalls schütteln über sie nur die Köpfe.

Was für brillante Erfindungen, welch bornierte Gier. Was für eine Musik, welch geschmacklose Kunst, welch wilde Ausbrüche und was für ein Humor: für eine Woche Urlaub dreitausend Kilometer fliegen; Hochhäuser, die an Wolken kratzten; uralte Wälder abholzen für Papier, mit dem sie sich den Hintern abputzten. Allerdings entzifferten sie auch das menschliche Genom, erfanden das Internet, begannen mit KI und schickten ein wunderschönes goldenes Teleskop Millionen Kilometer tief ins All. Dann aber, was zu wiederholen sich kaum lohnt, sahen sie verblüfft zu, wie Jahrzehnte verstrichen, während die Disruption an Tempo gewann, die Zahl der Waffen sich vervielfältigte, und sie taten wenig dagegen, auch nicht, als sie wussten, was auf sie zukam und was nötig wäre. Eine solche Freiheit und Hemmungslosigkeit, solch furchtsamer Trotz. Sie waren brillant bei aller Habgier, unvorstellbar streitlustig und bereit, gleichermaßen für schlechte wie für gute Ideen zu sterben. Während die Wissenschaft ihren Einfluss erweiterte, verbreiteten sich zeitgleich auch Religion und Verschwörungstheorien immer stärker. Die Menschen waren großartig und tapfer, fantastische Gelehrte und Wissenschaftler, Musiker, Schauspieler und Sportler, und sie waren Idioten, die all das fortwarfen, obwohl ihre Hochkultur heftig klagte oder schrie vor Schmerz. Wir schauderten vor Entsetzen über ihre Unerschrockenheit. Sie waren laut, unbescheiden, unbekümmert und frei bis auf jene Aberhundert Millionen, die es nicht waren. Wir sehnten uns danach, mit unseren Studenten ihre Literatur und ihre Zeit durchzunehmen. Wir hofften, sie würden unsere Leidenschaft für die wütende Energie dieser Zeit teilen, würden ihre eigenen Zwänge abwerfen genau wie jene ängstliche Prinzipientreue, die unsere Institute lähmten. (Seite 94f.)

Wenn man das liest, kann man dem braven Literaturwissenschaftler der Zukunft nur recht geben. Diese Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wirklich seltsam gewesen sein: für eine Woche Urlaub dreitausend Kilometer fliegen; … uralte Wälder abholzen für Papier, mit dem sie sich den Hintern abputzten. Besser kann kann man es nicht auf den Punkt bringen.

Aber die Apokalypse der Menschheit ist nur der Hintergrund für die eigentliche Geschichte, die Ian McEwan uns erzählt. Er zeigt, wie schwierig es seinem Literaturwissenschaftler der Zukunft fällt, in der überwältigenden Fülle an archivierten Informationen die Wahrheit über Motivationen und Gefühle zu finden. Metcalfe und seine Kollegen verfügen über ein «ganzes Gebirge unerforschten Materials», Abertausende digitale Nachrichten, Tagebücher, Wetterbeobachtungen und Surfgewohnheiten der Blundys. Dem Biograf bleibt, wie in früheren Jahrhunderten, aber trotzdem nichts anderes übrig, als die zwischen den Fakten klaffenden Lücken mit Fiktion zu schliessen.

Ian McEwan setzt dafür eine schöne Metapher ein. Im Zentrum des Buchs steht eine Leerstelle: das verschollene Gedicht «Ein Sonettenkranz für Vivien». Metcalfe schreibt also die Biografie eines ungelesenen Gedichtes. Sein Unwissen bezieht sich dabei nicht auf Daten, sondern auf das Wesen, die Gefühle und das Innere der Menschen. Die vielen Daten stehen ihm dabei eher im Weg.

Ian McEwan zieht daraus keine Schlüsse. Das überlässt er uns. Wir können uns selbst fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, für eine Woche Urlaub dreitausend Kilometer zu fliegen und uralte Wälder abzuholzen für Papier, mit dem wir uns … Sie wissen schon. Ob die vielen Daten uns zu mehr echtem Wissen und Verständnis füreinander verhelfen – oder ob es dazu vielleicht etwas ganz anderes braucht. Etwas wie Fiktion und Fantasie – und ein grosses Herz statt einen grossen Datenspeicher.

Ian McEwan: Was wir wissen können. Roman. Diogenes, 480 Seiten, 37.00 Franken; ISBN 978-3-257-07357-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257073577

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Basel, 06.11.2025, Matthias Zehnder

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