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No Way Home

Publiziert am 23. Oktober 2025 von Matthias Zehnder

Lesen ermöglicht es uns, in die Haut von jemand anderem zu schlüpfen. Das ist wunderbar: So können wir uns in Heldinnen und Könige verwandeln, mit Harry Potter das Böse besiegen und mit Elizabeth Zott die Männer. Das ist nicht nur bereichernd und steigert die Empathie, es ist manchmal schlicht auch schön, die eigene Unzulänglichkeit hinter sich zu lassen und eine Superheldin oder ein Zauberer zu sein. Das funktioniert unter anderem darum, weil wir uns mit den Heldinnen und Helden identifizieren, wenn eine Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt wird. Zu einem ganz anderen Erlebnis wird das Lesen, wenn die Geschichte aus der Sicht des Bösewichts erzählt wird. Das bekannteste Beispiel dafür ist «Der talentierte Mr. Ripley» von Patricia Highsmith: Beim Lesen schlüpfen wir in die Haut von Tom Ripley, einem Soziopathen und Hochstapler, der reich sein will und dafür nicht vor Diebstahl und Mord zurückschreckt. Beim Lesen tauchen wir ein in die Gedankenwelt des Mörders und seine amoralischen Entscheidungen. Das ist spannend, aber auch beklemmend. T. C. Boyle macht es uns nicht ganz so schwer. Seine Helden sind keine Mörder. Es ist eher wie bei Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch: Man sitzt im Kopf eines Menschen und schaut zu, wie sich in Zeitlupe ein Unglück ereignet. Wir wissen, dass es nicht gut herauskommen kann, trotzdem können wir den Blick nicht abwenden. In meinem 278. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum.

 

Terrence Tully arbeitet als Assistenzarzt im County/USC Hospital in Los Angeles. Vierzehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Unfälle, Junkies, Menschen mit Messerwunden, gebrochenen Kiefern, zugeschwollenen Augen, Nasenbeinfrakturen. Notfälle halt. Er behandelt gerade eine Patientin, die betrunken gegen einen Telefonmast gefahren ist. Nichts Schlimmes: Ihr Schlüsselbein ist gebrochen, sie hat eine schwere Gehirnerschütterung, der Rückspiegel hat ihr die halbe Kopfhaut abgeschält. Da klingelt Terrys Telefon und er hört diesen Satz, den sonst immer er aussprechen muss: «Es tut mir leid, aber ich habe schlechte Nachrichten für Sie …» Seine Mutter ist gestorben.

Die vier Worte – Ihre Mutter ist gestorben – kamen aus dem Reich der Anonymität, von den Lippen einer Fremden, die Hunderte von Kilometern entfernt in den unbelebten Hörer eines Telefons sprach, und sie waren endgültig, unanfechtbar. Das Urteil wurde gesprochen und im selben Atemzug vollstreckt. Die vier Worte bohrten einen Tunnel durch den Morgen und untergruben ihn, bis alles ringsumher zu wanken schien. Die Wände stürzten ein. Gesichter verschwammen. Eine hektische Abfolge von Bildern brach über ihn herein: das Jetzt und das Vorher, das Gesicht seiner Mutter, Zimmer, Ferien, die Küche, der Herd, die Rauchwolke über dem Grill auf der hinteren Veranda, Marshmallows, Moskitos, seine Mutter. Er hätte eine Minute innehalten sollen, doch Felicia, die Schwester, zog ihn ins nächste Krankenzimmer («Sie sollten sich diesen Typ sofort ansehen»), wo der Patient, ein adipöser Hispano in den Sechzigern, der bei dem Versuch, die Dachrinne auszuräumen, von der Leiter gefallen war und sich beide Knöchel gebrochen hatte, über starke Schmerzen in der Brust klagte. «Hier, Herr Doktor, genau hier», keuchte der Mann mit verzerrtem Gesicht und presste die dicke Hand aufs Brustbein. «Ich kriege … ich kriege keine –», flüsterte er, und dann sank die Hand herunter, und er verlor das Bewusstsein und hatte keinen Puls mehr. (Seite 11)

Rea-Alarm. Alle rennen. Terry schreit Anweisungen und beginnt mit der Herzmassage. Er reitet auf einer Woge von Adrenalin. EKG anlegen, Laborwerte prüfen, Epinephrin, Tubus, Defibrillator. Das Problem ist, dass Terry kaum etwas zu bewirken scheint. Der Mann ist so dick, dass er nichts als Fett spürt. Seine Mutter ist tot, und er versucht, diesen Typen wiederzubeleben. Er drückt und drückt, wumm, wumm, wumm …

Der Tod war ihm vertraut. Er kannte ihn in allen Erscheinungsformen, von mit Putzmitteln oder Oleander vergifteten Kleinkindern über Teenager, die in den Stahlbüchsen ihrer Wagen zerquetscht worden waren oder eine Überdosis erwischt hatten, bis hin zu den Alten, die im freien Fall durch ein multiples Organversagen stürzten. Seine Großeltern waren tot. Sein Vater war tot. Er hatte keine Geschwister. Seine Ausbildung – er war Assistenzarzt im dritten Jahr – hatte ihn gelehrt, emotionale Reaktionen auszuschalten und sich dem vorliegenden Problem zu widmen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Zustand des Patienten.
Ja. Aber hier ging es um seine Mutter.
«Dr. Tully? Alles in Ordnung?»
Eine halbe Stunde hatte sich in nichts aufgelöst. Sie standen jetzt wieder im Flur, der Hispano war nur noch Statistik, und andere Patienten warteten. Schwester Felicia sah ihn forschend an. (Seite 12f.)

Wenn einem ein Mensch unter den Händen stirbt, fühlt es sich an, als hätte man bei einer entscheidenden Prüfung versagt, als wäre man selbst schuld an diesem Tod. Bei Terry vermischt sich dieses Gefühl des Versagens mit der Trauer um seine Mutter. Er hat ein diffuses Gefühl von Schuld und versagen, weil seine Mutter gestorben ist. Terry reist in die Wüstenstadt Boulder City in Nevada, wo sie gewohnt hat. Er soll das Haus der Mutter übernehmen. Vorher setzt er sich in dem Provinznest in ein Kaffee um nach der langen Autofahrt etwas zu essen. Als er mit der Lokalzeitung unter dem Arm zur Kasse geht, um zu bezahlen, wird er von einer jungen Frau in einem türkisen Minikleid angesprochen. Sie sitzt an der Theke und stellt ihre Beine zur Schau. Sie fragt ihn, ob er mit der Zeitung fertig sei. Als er ja sagt, meint sie: «Cool. Die Mietangebote? Ich suche dringend was, ich bin nämlich gerade wohnungsmässig herausgefordert, könnte man sagen.»

Das ist Bethany. Sie erinnerte Terry an die Frau, die gegen den Telefonmast gefahren ist, nur dass sie jünger und hübscher ist. Am Abend, nach einem niderschmetternden Tag im Haus seiner Mutter, in dem die zwar noch präsent, aber nicht mehr anwesend ist, geht Terry etwas essen. Automatisch diagnostiziert er die Menschen im Lokal. Da stösst jemand von hinten an seinen Stuhl: Es ist die junge Frau aus dem Café.

Irgendwas war mit ihr, irgendwas ließ tief in seinem klinischen Hirn, das ihn ohne größere Fehler durchs Studium und seine bisherige Zeit als Assistenzarzt gebracht hatte, die Alarmglocken läuten, aber da war sie und zeigte mit einem breiten Lächeln des Erkennens die makellos weißen Zähne, und eigentlich war es doch egal. «Oh, hallo», sagte sie. Jetzt war er an der Reihe zu lächeln, etwas, das er in letzter Zeit wenig getan hatte. (Seite 28)

Seine Mutter ist tot, und das deprimiert Terry. Aber im Grunde war er schon vorher deprimiert gewesen. Bethany bringt ihn zum Lachen. Es ist eine Befreiung. Die ganze Anspannung löst sich auf, und dafür ist er ihr dankbar. Bethany ist jung, spontan, verführerisch – und manipulativ. Die beiden landen ist sofort im Bett. Für Terry ist es, wie wenn nach einem Tag voller Nebel die Sonne durchbrechen würde.

Bethany sieht in Terry, dem Arzt aus der Grossstadt, den Jackpot, der es ihr ermöglicht, aus ihrer verfahrenen Situation herauszukommen. Ihr Vermieter hat sie rausgeschmissen, also bietet sie Terry an, sich um das Haus seiner Mutter zu kümmern. Der ist zwar dagegen, Bethany zieht hinter seinem Rücken aber trotzdem ins Haus ein und übernimmt nicht nur das Bett seiner Mutter, sondern auch deren Hund und ihr Auto.

Bethany wickelt Terry um ihren Finger. Ehe er es sich versieht, ist er eingesponnen in ihre Welt. Dazu gehören Bethanys Freundin Lutie und ihr früherer Freund Jesse. Lutie ist so etwas wie die abgestürzte Version von Bethany: Oft betrunken, obdachlos, keine Perspektiven. Sie ist liiert mit Thomas, dem besten Freund von Jesse. Dieser Jesse ist Lehrer an einer Mittelstufenschule. Das ist aber auch seine einzige positive Eigenschaft. Er ist aggressiv und latent gewalttätig. Er will sich nicht damit abfinden, dass Bethany sich von ihm getrennt hat und kämpft um sie – indem er gegen Terry kämpft. Und zwar physisch. Als wäre Terry in sein Revier eingedrungen. Es ist ein Kampf um Macht und Besitz – um den Besitz von Bethany und die Hoheit in Boulder City, dem Turf von Jesse. Terry verstrickt sich immer tiefer in die Querelen der Provinzstadt. Er ist Bethany verfallen und merkt das auch. Er wird zum Biedermann, der Brandstifterin Bethany nicht nur in sein Haus lässt, sondern auch in sein Herz.

So weit, so gut. Irritierend daran ist, dass T.C. Boyle diese Geschichte nicht, wie das auf der Hand liegen würde, aus der Perspektive von Assistenzarzt Terry erzählt, sondern abwechselnd aus der Sicht von Terry, Bethany und Jesse. Wir können uns beim Lesen also nicht mit dem Arzt identifizieren, sondern erleben ihn auch von aussen aus der Sicht von Bethany und Jesse. Und das ist alles andere als schmeichelhaft. Durch den Wechsel der Perspektive wird deutlich, wie selbstgerecht und ichbezogen alle drei sind – auch der Arzt aus der Grossstadt. Das ist fast schon schmerzhaft, weil wir diese Ichbezogenheit ja in der Haut der drei Figuren erleben.

Lesenswert ist das Buch aber noch aus zwei weiteren Gründen. Der erste Grund: Boyle malt ein düsteres Bild dieser amerikanischen Provinzstadt Boulder City. Menschen ohne jede Perspektive bleibt nur der Griff zur Flasche oder zur Pillendose, um etwas zu erleben. Der zweite Grund: Boyle erzählt ihre Geschichte in einer mitreissend direkten Sprache, wie ich sie sonst nur von Philippe Djian kenne. Ich gebe Ihnen dafür einige Beispiele.

Es war später Nachmittag, als sie zurückfuhren. Sie hatten gerade die Boards zurückgegeben, und Bethany quatschte noch ein bisschen mit der echsenhäutigen Frau, die den Verleih betrieb. Er stand dabei und beantwortete Fragen (L. A., echt? Und was machen Sie hier an unserem bescheidenen kleinen See? Urlaub oder …?), bis Bethany plötzlich in die Hände klatschte und rief: »Wie wär’s jetzt mit einem Drink?« Und dann stürzte der Nachmittag krachend in den Abend. Die Steilufer des Sees und die mineralischen Ablagerungen, die daran hafteten wie der Dreckrand an den Wänden einer Badewanne und zeigten, wie sehr der Wasserstand während der andauernden Dürre gefallen war, erglühten im Licht der untergehenden Sonne. Die Vögel verloren ihre Farben. Wolkenstreifen hingen über dem Horizont. (Seite 56)

Das ist ein Bild wie aus einem Film von David Lynch. Dazu passt auch der folgende Abschnitt über die Alpträume von Bethany:
Als Mädchen hatte sie Alpträume gehabt. Das Übliche: Stress oder Angst, zu spät zur Schule, zum Bus, zur Matheprüfung zu kommen, aber damit hatte sie aufgehört, als sie aus dem Lagercontainer gelebt hatte, denn der Luxus von Alpträumen wurde nur behüteten kleinen Mädchen zuteil, die auf sauberen Laken schliefen, den Kopf auf duftende Kissen gebettet, mit Mommy und Daddy gleich nebenan. Doch das, was jetzt passierte, war ein sich fortsetzender Alptraum in Echtzeit, beleuchtet von zwei frisch geschnitzten Jack O’Lanterns und ausgelöst von Terry. (Seite 366)

T. C. Boyle beobachtet scharf und erzählt atemberaubend vom staubigen Alltag in der Wüstenstadt.
Leute, die behaupteten, die Wüste zu lieben, redeten immer von unverstellter Weite, aber für ihn war es mehr wie die Sohle eines alten Joggingschuhs: nichts als Dreck und abgewetztes Profil. (Seite 15)

Mich hat nicht nur die Story gepackt, dieses Biedermannsche Fremdschämen über das Unglück, das sich vorhersehbar ereignet, sondern auch diese Sprachbilder von Boyle. Jesse stellt fest:
In dieser Gesellschaft konnte man nicht länger als zehn Minuten ohne Handy sein, sonst driftete die Welt davon und ließ einen zurück wie den mit den Armen rudernden Astronauten in 2001 – Odyssee im Weltraum. (Seite 222)

Und noch so ein Hammersatz:
Gegen Mittag war er wieder in seiner Wohnung. Der Rest des Tages lag vor ihm wie eine Gefängnisstrafe. (Seite 232)

Das ist der Punkt: Terry, Bethany und Jesse – sie alle sind in ihrem Leben eingesperrt wie in einem Gefängnis. Keiner kann aus seiner Haut raus, für alle dreht sich die Welt nur um sie. Jeder ist auf seine Weise selbstgerecht und egoistisch. Nein, es ist keine schöne Geschichte, die T. C. Boyle uns erzählt. Aber er erzählt sie uns wunderschön. Das macht auch das Handeln jener Figuren nachvollziehbar, mit denen wir uns absolut nicht identifizieren können, weil wir nicht so sind wie sie. Oder mindestens nicht so sein wollen. Mindestens das unterscheidet uns dann doch von ihnen.