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Meine Zuflucht und mein Sturm

Publiziert am 3. Dezember 2025 von Matthias Zehnder

Wenn wir ein Buch lesen, spricht eine Autorin oder ein Autor über Zeit und Raum hinweg zu uns. Ganz egal, wie weit entfernt der Mensch ist, der das Buch geschrieben hat, ob er lebt oder vor Jahrhunderten gestorben ist, ob er aus unserer Kultur stammt oder aus einer fremden Welt – seine Stimme erklingt in unserem Kopf. Das ist das Wunder des Lesens. Manchmal hören wir einen Autor, aber er sagt uns nichts. Dann legen wir das Buch zur Seite. Aber es kommt auch vor, dass wir der Autorin oder dem Autor begeistert zustimmen. «Ja, genau, so empfinde ich das auch!» So ist es mir bei der Lektüre von «Meine Zuflucht und mein Sturm» von Arundhati Roy gegangen. In ihrer Autobiographie erzählt sie von ihrer Kindheit und Jugend im indischen Kerala und vor allem von ihrem Kampf mit ihrer Mutter. Was hat eine indische Architektin, Schauspielerin und Schriftstellerin mir zu sagen? Ihre Kindheit in Kerala und ihr Leben in Dehli könnten nicht unterschiedlicher sein als meine Kindheit und mein Leben in der Schweiz. Trotzdem habe ich beim Lesen ihrer Autobiographie immer wieder «Ja, genau!» gerufen und Sätze dick angestrichen. Wie kommt es, dass eine indische Frau so über ihre Kindheit spricht, dass ich mich verstanden fühle? Warum steckt in einem Leben, das so völlig anders ist als meins, Glück und Schmerz, dessen Beschreibung ich mich anschliessen kann? Das versuche ich diese Woche in meinem 284. Buchtipp herauszufinden.

 

«Ich verliess meine Mutter nicht, weil ich sie nicht liebte, sondern um sie weiterhin lieben zu können.» Es ist einer dieser Sätze, der mich traf wie ein Hammer: Genau so habe ich es auch erlebt.

Sie fragte mich nie, warum ich gegangen war. Es war nicht nötig. Wir wussten es beide. Wir einigten uns auf eine Lüge. Eine gute Lüge. Ich formulierte sie – «sie liebte mich genug, um mich gehen zu lassen». (Seite 14)

Und weiter:

Als Kind konnte ich nicht anders, als sie zu lieben, irrational, bedingungslos und furchtlos, wie alle Kinder es tun. Als Erwachsene versuchte ich, sie kühl, rational und aus sicherer Distanz zu lieben, und scheiterte oft. Manchmal kläglich. (Seite 16)

Diese wenigen Sätze umreissen das schwierige Verhältnis, das Arundhati Roy zu ihrer Mutter hatte. Arundhati Roy wurde 1961 in eine christliche Familie geboren, die in Shillong im Nordosten von Indien lebte. Ihre Mutter Mary Roy war eine christliche Frauenrechtlerin aus Aymanam, Kerala. Sie gehörte einer indisch-christlichen Kirche an, die ihre Geschichte auf den Apostel Thomas zurückführt. Weil ihr Bruder sie aufgrund eines obskuren Gesetzes aus dem Jahr 1916 von ihrem Erbe ausschliessen wollte, zog sie gegen ihn vor Gericht – und gewann. In Kerala hat sie 1967 eine christliche Schule gegründet. Auf der Website der Schule steht unter ihrem Portrait: «Dreamer, Warrior, Teacher» – Träumerin, Kriegerin, Lehrerin. Die Reihenfolge ist kein Zufall.

Arundhati erzählt, die Frauen hätten in der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen ist, nur die Wahl gehabt, übertrieben tugendhaft zu sein oder diese Tugendhaftigkeit vorzutäuschen. In dieser stickigen, muffigen Kleinstadt habe sich ihre Mutter «mit der Courage einer Gangsterin» verhalten: vollkommen zügellos, mit all ihrer Genialität und Exzentrizität, ihrer radikalen Freundlichkeit, ihrem militanten Mut, ihrer Ruchlosigkeit, ihrer Grosszügigkeit, ihrer Grausamkeit, ihrer Heimtücke, ihrem Geschäftssinn und ihrem wilden, unberechenbaren Temperament. Das also war die Mutter von Arundhati Roy. In ihrem Buch erzählt sie von dieser Gangstermutter. Es muss nicht einfach gewesen sein, als Tochter einer ebenso genialen wie grausamen Mutter Courage aufzuwachsen.

Arundhati besuchte als Mädchen die Schule, die ihre Mutter gegründet hatte. Die Schule bestand zu Beginn aus zwei Räumen, die ihre Mutter tagsüber vom Rotary Club mietete. Die Schule begann mit sieben Schülern, darunter Arundhati und ihr Bruder.

Jeden Morgen halfen wir Mrs Mathews und meiner Mutter, die Zigarettenkippen aufzufegen und die schmutzigen Tassen und Gläser wegzuräumen, die die Mitglieder des Rotary Clubs hinterlassen hatten. (Selbstverständlich nur Männer. Denen es nie in den Sinn gekommen wäre aufzuräumen.) Wir schoben einen Tisch und ein paar Hocker zusammen und hoben eine Tafel auf den Ständer. Um drei Uhr mussten wir unsere Schule wieder zusammenklappen und an die Wände schieben und verschwinden, um den Treffen des Clubs nicht in die Quere zu kommen. In Gedanken nannte ich unsere neue Schule die verschiebbare-zusammenklappbare Schule. (Seite 36)

Die Schule wurde schnell ein Erfolg. Die Schülerzahl wuchs exponentiell. So konnte Mary Roy ein eigenes Haus mieten.

Zwei Schlafzimmer des Hauses waren zu Schlafsälen umgewandelt worden. In jedem stand eine Reihe kleiner, mit karierten Decken bezogener Betten. Bunte Regenmäntel hingen an hölzernen Haken. Jedes Kind hatte eine eigene Tasse, eine eigene Zahnbürste und eine eigene Seifenschale. Es sah aus wie das Zuhause von Schneewittchen und den sieben Zwergen. Oder vielmehr von Mary Roy und ihren fünfzehn Zwergen. Zwei der fünfzehn waren mein Bruder und ich.
Meine Mutter wurde Besitzerin, Direktorin und wilde Seele einer einzigartigen Schule in einer einzigartigen Stadt. Einer Schule, die im Lauf der Zeit ihre einzigartigen Kämpfe ausfechten würde. (Seite 39)

Damit die anderen Kinder nicht den Eindruck erhielten, dass Direktorin Roy ihre eigenen Kinder besonders behandelten, mussten Arundhati und ihr Bruder die Mutter in der Öffentlichkeit «Mrs Roy» nennen. Weil die Familie Roy auch im Schulgebäude wohnte, war der Übergang zwischen öffentlichem und privatem Raum fliessend: Für Arundhati und ihr Bruder war die Schule das Zuhause, und das Zuhause war die Schule. So begannen sie damit, ihre Mutter auch privat «Mrs Roy» zu nennen – und dabei blieb es.

Das Bild, das Arundhati von «Mrs Roy» zeichnet, ist äusserst zwiespältig. Einerseits muss ihre Mutter eine energische, freimütige Frau gewesen sein, die unerschrocken für Gleichberechtigung und Bildung kämpfte. Sie überzeugte die Eltern der Schulkinder davon, dass Koedukation nicht zu sexuellen Ausschweifungen führt. Als rüpelhafte Jungen im Wohnheim Mädchen wegen ihrer Brüste und BHs  hänselten, hielt sie eine ausserordentliche Schulversammlung ab. Vor allen Kindern massregelte sie auf robuste Weise die Jungen und sorgte so für Ruhe.

Mrs Roy machte es zu ihrer Mission, den Jungen die scheinbar gottgegebene Anspruchshaltung auszutreiben. Sie erzog sie zu aufmerksamen, rücksichtsvollen Männern, wie sie in der Stadt so gut wie unbekannt waren. In gewisser Weise befreite sie sie. Sie befreite sie von der Last, dem zu entsprechen, was die Gesellschaft von Männern erwartete. Sie erzog Generationen von freundlichen Männern und schickte sie hinaus in die Welt. Was sie für ihre Schülerinnen tat, was sie ihnen beibrachte, war nichts weniger als revolutionär. Sie verschaffte ihnen ein Rückgrat, sie schenkte ihnen Flügel, sie befreite sie. Sie ließ ihnen fortwährende Aufmerksamkeit und strenge Liebe zuteilwerden, und ihr Glanz fiel auf sie zurück. Diese Revolution hatte wie alle Revolutionen ihren Preis. (Seite 45f.)

Der Preis des Kampfs für die Freiheit der Kinder in der Schule war Tyrannei in der Familie. Mir wurde ganz kalt, als ich las, was Arundhati über den psychischen Terror ihrer Mutter schreibt, wie sie sie anherrschte und beherrschte. Kein Wunder, flüchtet Arundhati als Teenager nach Delhi und studiert Architektur.

In dem Augenblick, als ich durch das schäbige Tor der Delhi School of Planning and Architecture ging und mich unter den schmuddeligen Studenten umschaute, die mit Augen wie Zombies auf dem ausgedünnten Rasen lagen, weil sie die ganze Nacht gearbeitet hatten, in dem Moment, als ich den Gemeinschaftsraum mit einem Nebel aus Zigarettenrauch, voller kaputter Möbel, den Wachmann mit dem glänzenden Goldzahn sah (der bald mein guter Freund und Dope-Lieferant werden sollte), wusste ich, dass ich nicht sterben musste, sollte Mrs Roy sterben. …Ich wollte auf die Knie gehen und die schmutzige Einfahrt küssen, als wäre es heiliger Boden. Ich tat es natürlich nicht, doch es war kein gewöhnlicher Initiationsritus. Ich entledigte mich meines ersten Vornamens, Susanna. Und langsam, vorsätzlich, verwandelte ich mich in jemand anderen. (Seite 77f.)

Diese Kindheit in Kerala, die Jugend in Delhi – das alles ist weit entfernt von der Schweiz, der kleinen Stadt, in der ich aufgewachsen bin, der ordentlichen Schule, die ich in unserem Wohnviertel besucht habe. Die Gedanken, die Arundhati Roy dazu aufgeschrieben hat, haben mich dennoch bis ins Mark getroffen. Zum Beispiel, wie sie beschreibt, wie sich ihr Bild von ihrer Mutter beim Schreiben verändert hat:

In meinem Bemühen, meine Mutter zu verstehen, die Dinge von ihrem Standpunkt aus zu sehen, ihr einen Platz einzuräumen, zu begreifen, was sie verletzt hat, was sie antrieb, was sie nicht lassen konnte, und um vorherzusagen, was sie als Nächstes tun oder nicht tun würde, betrat ich einen Irrgarten, ein Labyrinth aus Wegen, die unterirdisch im Zickzack verliefen und an den merkwürdigsten Orten an der Oberfläche auftauchten. Ich hoffte, eine andere Perspektive als meine eigene zu gewinnen. Sie durch eine Brille zu sehen, die nicht ausschließlich von meinen Erfahrungen gefärbt war, lehrte mich, sie als die Frau zu schätzen, die sie war. Es machte mich zur Schriftstellerin. Zu einer Romanautorin. Denn das sind Romanautoren – Labyrinthe. (Seite 17)

Das erinnert, wohl nicht zufällig, an Friedrich Dürrenmatt und seine Labyrinthe. Es erinnert mich aber vor allem an meine eigenen Bemühungen, meine Mutter, meine Eltern zu verstehen. Erinnerungen sind ein Irrgarten, der zu merkwürdigsten Orten und Erkenntnissen führt. Arundhati Roy erzählt, sie habe dieses Buch geschrieben, um die Kluft zu überbrücken zwischen der Liebe, die ihre Mutter für alle Menschen hatte, denen sie begegnete, und den Dornen, mit denen sie das Leben von Arundhati Roy spickte. Diese Dornen, sagt sie, seien immer noch in ihrem Blutkreislauf, kleine Haken, die sich noch immer im weichen Gewebe verfangen, während ihr Blut zu und von ihrem Herzen fliesse. «Es ist ebenso schwer, es zu schreiben, wie es nicht zu schreiben», schreibt Arundhati Roy. Sie sagt, dass sie deshalb ihre Mutter nicht als Tochter betrauere, sondern als Autorin: Als Schriftstellerin, die ihr spannendstes Thema verloren habe. «Auf diesen Seiten» schreibt sie, «soll meine Mutter, meine Gangsterin, leben. Sie war meine Zuflucht und mein Sturm», schreibt Arundhati Roy.

Nach der Veröffentlichung des Romans «Der Gott der kleinen Dinge» verkroch sich ihre Mutter in einem Krankenhaus, um das Buch zunächst hastig zu lesen. Offenbar fürchtete sie, dass ihre Tochter schändliche Erinnerungen enthüllen würde. Sie war höchst erleichtert, als sie merkte, dass das nicht der Fall war. Dann sprach sie mit ihrer Tochter über das Buch.

An diesem Tag lernte ich, dass die meisten von uns eine lebende, atmende Brühe aus Erinnerung und Phantasie sind – und nicht die besten Schiedsrichter darüber, was das eine und was das andere ist. Also lesen Sie dieses Buch, als wäre es ein Roman. Es will nichts Größeres sein. Doch andererseits kann es nichts Größeres geben. Literatur ist dieses seltsame, rauchartige Ding, das nicht allein den Autoren gehört, auch wenn sie es glauben. Woher kommt es? Aus unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart, unserer Lektüre, unserer Phantasie – ja. Aber vielleicht auch aus Ahnungen von unserer Zukunft? Wie sonst ist es möglich, dass auch ich mich jetzt wie Figuren in meinem zweiten Roman, Das Ministerium des äußersten Glücks, um ein Grab in einem Gästehaus kümmern muss? Es ist haarsträubend. Es hält mich nachts wach. Doch dann frage ich mich: Warum sollten wir alles wissen? (Seite 17)

Das ist der springende Punkt: Wir alle sind eine lebende, atmende Brühe aus Erinnerung und Phantasie. Wir sind, was wir gewählt haben, zu sein. Wir sind unsere eigene Erfindung und können deshalb nur schwer zwischen Erinnerung und Phantasie unterscheiden. Nicht nur die Romanschriftstellerin, wir alle schreiben unsere Lebensgeschichte, als wäre es ein Roman. Aber kaum jemand kann sein Leben (und sein Leiden) so wunderbar ausdrücken wie Arundhati Roy. Auch wenn dieses Leben mit meinem, mit unserem Leben kaum etwas zu tun hat, spricht sie von denselben Freuden und von sehr ähnlichen Schmerzen, wie wir sie alle erleben. Ihr Buch zu lesen ist ein Genuss, weil Arundhati Roy Worte findet für Dornen, die auch in meinem Blut kreisen.

Arundhati Roy: Meine Zuflucht und mein Sturm. S. Fischer, 368 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-10-397709-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103977097

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Basel, 03.12.2025, Matthias Zehnder

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