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Letzter Tipp: Wut und Liebe
Mann, Härri
Letzte Woche habe ich Ihnen den neuen Roman von Martin Suter empfohlen: «Wut und Liebe» handelt von einem erfolglosen Künstler, der seien Freundin verliert. Noah, so heisst der Künstler, ist bereit, alles aufzugeben, um seine Freundin Camilla zurückzuerobern. Auch sich selbst – und auch seine Kunst. Zunächst sucht er aber einen Weg, mit seiner Kunst so erfolgreich zu werden, dass er seine Freundin halten kann. Ganz nebenbei zeichnet Martin Suter in seinem Buch ein einigermassen zynisches Bild des Kunstmarkts: Kunst wird da zur Marketingfrage. Interessiert hat mich die Geschichte, weil ich zeitgleich ein anders Buch eines Schweizer Autors gelesen habe, das auch von einem Künstler und dem Kampf um die Kunst handelt: In «Mann, Härri!» erzählt Bernard Chiquet die Geschichte von Lukas Härri, einem Kunstmaler, der als Lehrer an einer Kunsthochschule arbeitet. Das ist deshalb spannend, weil Bernard Chiquet selber jahrelang als Kunstlehrer gearbeitet hat. In seinem Roman fragen sich die Kunststudenten: Darf Kunst dekorativ sein? Müssen wir Malen heute als Performance lesen? Gibt es Wahrheit nur durch Leiden? Was ist zeitgenössische Kunst? Gibt es das überhaupt? Und Kunstlehrer Lukas Härri fragt sich, ob er die Gegenwart noch versteht oder schon zu alt dafür ist. In meinem 273. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum mich dieses Buch über die Kunst fasziniert hat.
Lukas Härri ist 56 Jahre alt, Kunstmaler und Lehrer für Malerei an der Kunsthochschule. Anders als Noah Bach im Roman von Martin Suter muss er also nicht direkt von seiner Malerei leben. An der Kunsthochschule gehört Härri zu den ältesten Dozenten. Obwohl die Schule längst «Institut Kunst» heisst, nennt er die Schule, wie die Einheimischen auch, immer noch «Akademie». Der langjährige Direktor der Schule ist vor drei Jahren pensioniert worden. Danach wurde die Schule für kurze Zeit von drei Lehrern gemeinsam geleitet. Härri hatte auch zu diesem Leitungskollektiv gehört. Seit kurzem ist die koreanische Künstlerin Da-ra Baek Direktorin des Instituts. Sie macht klar, dass sie die Schule hoffnungslos altbacken findet und neu erfinden will. Lukas Härri beobachtet mit gemischten Gefühlen, was die koreanische Künstlerin mit der Schule anstellt: Er schwankt zwischen Anziehung und Widerwillen, Anpassung und Rebellion.

Er selber war in jungen Jahren erfolgreich als Künstler. Er hatte Preise erhalten und einige Einzelausstellungen gemacht, auch internationale. Er war ein junger Wilder und experimentierte mit Öl und Acryl, Comic und Malerei.
Aber damit war er vor einiger Zeit in eine Krise geraten. Er fühlte sich angesteckt vom Zeitgeist, dem – wieder einmal, zum wievielten Mal? – die Malerei zu wenig war. Er war an seinem Institut umgeben von jüngeren Künstlerinnen und Künstlern, die sich mit dem Körper und seiner «Performativität» beschäftigten, die von dessen «Aggregatszuständen in quecksilbrigen Genderformen» sprachen. Und im Zusammenhang mit Bildern postulierten, dass diese «fluide zwischen analog-präsenten und digital-virtuellen Sphären oszillieren» sollten. Härri experimentierte also mit Virtual Reality und künstlicher Intelligenz, kam aber nicht vom Fleck. Er redete sich ein, das werde wieder.
Er konnte selbst fast nicht mehr glauben, dass er einst Frontmann und Sänger einer Undergroundband gewesen war, für die er absurde, poetische Gedichte geschrieben hatte, von ihm vorgetragen in einem Sprech- und Schreigesang. Die Augen hatte er auf der Bühne hinter einer hölzernen Inuit-Sonnenbrille verborgen, das war sein Markenzeichen gewesen. Das fremdartige Ding lag noch immer auf dem Fenstersims des ehemaligen Fischerhauses am Fluss, in dem er zurzeit wohnte und arbeitete und von dessen Fenster aus er auf den Rhein sah. (Seite 12f)
Lukas Härri hat seine Wildheit verloren und mit ihr seine Kunst. Und mittlerweile auch seine Familie. Er lebt getrennt von seiner Frau, seine beiden Kinder sind erwachsen. Sein engster Freund heisst Noah. Er ist das Gegenstück zum vorsichtig suchenden und oft resignierenden Kunstlehrer. Noah ist jung, wild, voller Energie und er hat ein Tourette-Syndrom. Er ist deshalb direkt, chaotisch, manchmal beleidigend, aber immer echt.
An der Schule bemüht sich Harri um Offenheit. Er experimentiert mit virtuellen Realitäten und mit Chatbots. Kollege Miles bringt eine KI dazu, Titelvorschläge für Bilder zu machen. Die Tiel sind witzig, schräg, überraschend. Etwa: «Menükarte für das letzte Abendmahl». Miles regt die Studenten an, die Titel aus dem Chatbot malerisch umzusetzen. Aber soll, ja darf man eine solche KI so mir nichts dir nichts als Werkzeug benutzen? Oder muss man das heute? Und welche Rolle spielt die handwerkliche Ebene der Kunst noch?
Härri ringt also um Anschluss. Er fragt sich, ob er zu alt sei und die Welt deshalb nicht mehr versteht. Und dann noch die Koreanerin und ihr neues Schulkonzept voller Buzzwords. Er hört noch seinen eigenen Lehrer, der ihm damals eingebläut hatte: «Halte dich fern von Illusionen!»
Härri war schon eine ganze Weile an der Akademie, hatte folglich viele Anläufe erlebt, der Entwicklung des Instituts eine neue Richtung zu verleihen. Einst hatte er dem Betrieb auf solche Weise seinen Stempel aufdrücken wollen, als er für kurze Zeit Co-Leiter des Instituts war. Funktioniert hatte es nicht. Die Idee, eine einzelne Person – und sei sie noch so mächtig – könne durch Verlautbarungen und Massnahmen in einem komplexen sozialen System eine Wende herbeizaubern, war eine Illusion. Innovationen fanden dennoch statt, nicht selten aus dem Chaos, manchmal angestossen durch Einzelne, dann wieder als Folge einer Art kollektiver Intuition. Aber weil Unübersichtlichkeit und Vieldeutigkeit schwer auszuhalten waren, übte die Vorstellung eines induzierten Neuanfangs grosse Faszination aus. Man hätte deshalb Da-ra Baeks Versuch gelassen als das sehen können, was er wahrscheinlich vor allem war: die Markierung des Geländes durch die neue Chefin. (Seite 43)
Freund Noah sagt es Härri deutsch und deutlich: «Du bist alt, vielleicht schnallst du nicht mehr alles.» Und Härri gab ihm innerlich recht. Er muss den jüngeren Leuten zugestehen, dass vielleicht sie recht haben und er unrecht. Er weiss, dass die Jungen anders in der Gegenwart leben als er. Andererseits hat er viel mehr Erfahrung in der handwerklichen Umsetzung von Kunst, kann ihnen weiterhelfen, wenn sie steckenbleiben. Bloss: Wollen sie das? Wollen sie sich von einem Meister im Malen zeigen lassen, wie sie ein Bild retten können oder verstehen sie Malen und Zeichnen nur noch als Performance, bei der es nicht mehr auf das Resultat ankommt sondern nur noch auf das Tun im Augenblick? Lukas Härri sieht sich vor zwei existenzielle Fragen gestellt: Wie kann, wie soll ein Kunstmaler im Zeitalter von KI sich noch ausdrücken, was also ist heute Kunst? Die zweite Frage: Wie kann man heute Kunst unterrichten?
Warum hatte er es zu einem Teil des Berufs gemacht, jungen Menschen etwas von dem weiterzugeben, was er zu wissen und zu können meinte? Und wie lange, bis zu welchem Alter sollte er dies tun? Die biologischen Generationen überschnitten sich stärker als vor hundert, hundertfünfzig Jahren, aber die erfahrenen gesellschaftlichen und technologischen Wandlungen hatten sich so beschleunigt, dass für die kulturellen Generationen – Menschen mit einer vergleichbaren historischen Erfahrung von den «Baby Boomers» bis zur aktuellen «Generation Alpha» – immer kürzere Spannen angenommen wurden. Fünfzehn Jahre waren es mittlerweile. Redete und verstand man als Sechsundfünfzigjähriger noch dieselbe Sprache wie eine Fünfundzwanzigjährige, konnte man sich einfühlen in die Perspektive des anderen, in seine Sicht der Gegenwart, seine Projektionen in die Zukunft? Denn wie sollte man lehren und lernen ohne solche Empathie? (Seite 146)
Der Roman von Bernhard Chiquet bildet dieses Suchen von Lukas Härri nach Echtheit, im Ausdruck als Künstler und im Unterrichten, auf spannende Weise ab. Wie der Roman von Martin Suter handelt sein Roman von zentralen Fragen der Kunst. Anders als «Wut und Liebe» ist «Mann, Härri» nicht süffig, sondern ein ehrliches Tasten und Suchen, auch in der Sprache. Martin Suter verführt uns und verwickelt uns in eine Geschichte, die uns am Ende mit einem klassischen Plot-Twist auf der Handlungsebene überrascht. Bernhard Chiquet konfrontiert uns dagegen mit Fragen und Antwortversuchen. Er bietet keine einfachen Antworten, gibt aber gehörig zu denken. Ich bin sicher, dass Sie nach der Lektüre dieses Romans die nächste Ausstellung zeitgenössischer Kunst anders betrachten werden als bisher.

Lukas Härri übrigens hält nichts vom Wort «zeitgenössisch». Er sagt, um zeitgenössisch zu sein, müsse man sich vom Vergangenen, bereits Gedachten, Erfundenen, Gesagten und Gemalten unterscheiden. Setzt das voraus, dass man das bisher Gesagte kennt? Ist es also eine Frage der Bildung, zeitgenössische Kunst zu machen? Oder ist es umgekehrt, sind es also nur gerade die jungen Wilden, die sich um gar nichts scheren, die aus Unbekümmertheit heraus zeitgenössische Kunst schaffen können?
Spannende Fragen – die sich in beiden Romanen stellen, mit denen Martin Suter und Bernhard Chiquet aber höchst unterschiedlich umgehen. Bei Martin Suter ist der Markt der zentrale Punkt und damit die Frage, wie der Handel die Kunst beeinflusst – und ob noch Kunst ist, was sich verkauft. Bei Bernhard Chiquet ist es das Handwerk: Wieviel Können muss oder darf Kunst beinhalten?
Bernhard Chiquet: Mann, Härri. Roman. Zytglogge, 336 Seiten, 34 Franken; ISBN 978-3-7296-5191-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783729651913
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 17.09.2025, Matthias Zehnder
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