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Sommerzeit – Reisezeit – Lesezeit. In meiner literarischen Sommerserie stelle ich Ihnen jede Woche einen spannenden Krimi vor, der Sie an einen besonderen Ort entführt. Dabei erleben Sie Regionen, die wir sonst nur als Touristen kennen, aus der Perspektive der Einheimischen. Sechs Wochen, sechs Bücher, sechs Reiseziele – vom Mittelmeer bis an den Atlantik, vom Tessin bis nach Berlin. Heute geht es in den Süden von Portugal, an die Algarve. Seit einigen Jahren lässt hier Gil Ribeiro einen der spannendsten Kommissare der deutschsprachigen Kriminalliteratur Morde aufklären: Leander Lost ist Asperger-Autist. Er hat deshalb Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen und mit der Kommunikation, hat aber ein fotografisches Gedächtnis. Im neuen Roman wollen Leander Lost und Soraia Rosado heiraten. Doch am Tag vor ihrer Hochzeit wird ein altgedienter Zollbeamter getötet, als er versucht, die Entführung seiner Enkelin zu verhindern. Klar, dass sich Lost darum kümmern muss. Es entwickelt sich ein spannender Krimi an der Südküste von Portugal, in dem Ameisen eine wichtige Rolle spielen und natürlich die Dorfgemeinschaft von Fuseta. In meinem 264. Buchtipp, der dritten Folge meiner Sommerserie, sage ich Ihnen, warum sich die literarische Reise in die Algarve lohnt.
Fuseta ist ein kleines, ursprüngliches Fischerdorf im Süden von Portugal, in der Algarve. Die Häuser sind bunt und stehen eng beieinander, die gepflasterten Gassen sind schmal. Der kleine Hafen von Fuseta wird noch von Fischern benutzt, die hier mit ihren Booten anlegen und den Fisch auf dem Markt anbieten. Am westlichen Rand von Fuseta wohnen Leander Lost und Soraia Rosado.

Leander Lost ist eine bemerkenswerte Figur. In der Literatur gibt es viele Ermittler, Kommissare wie Privatdetektive, die mehr oder weniger beschädigte Seelen sind: Trinker oder, wie im Fall von Matthew Scudder, trockene Alkoholiker, Abgestürzte und Zyniker. Leander Lost ist das alles nicht: Seine Seele ist ganz, er ist im Reinen mit sich und der Welt. Aber er ist ein Asperger-Autist. Er ist damit auf spannende Art und Weise die Gegenthese zum klassischen Hardboiled-Detective in der Tradition von Raymond Chandler.
Leander hat ein grosses Herz und ausserordentliche Fähigkeiten. Einen messerscharfen Verstand zum Beispiel und ein fotografisches Gedächtnis. Aber, das hat ihn auch schon in gewaltige Schwierigkeiten gebracht, er kann nicht lügen. Er kann sich Gesichter nicht merken, wenigstens nicht als ganze Gesichter. Er merkt sich die einzelnen Merkmale. Und er nimmt alles immer wörtlich. Besonders grosse Mühe hat er mit Smalltalk. Er versteht den Sinn von belanglosem Geplauder nicht. Ein harmlose Bemerkung wie «Ist das heiss heute» kann er schon mal mit einer meteorologischen Analyse samt Angabe von Durchschnittstemperaturen beantworten.
Leander Lost ist Sub-Inspektor der portugiesischen Kriminalpolizei, der Polícia Judiciária mit Sitz in Faro an der Algarve. Er stammt aus Deutschland: Seine Kollegen haben ihn im Rahmen eines europäischen Austauschprogramms mehr oder weniger nach Portugal abgeschoben. Da hat es ihm aber so gut gefallen und er ist von seinen portugiesischen Kollegen so freundlich aufgenommen worden, dass er geblieben ist. Und jetzt Soraia, die Schwester seiner Chefin, heiraten will.
Seine Chefin, das ist Graciana Rosado. Sie stammt aus Fuseta. Schon ihr Vater war Polizist. Graciana hat immer in Fuseta gearbeitet und kann sich nichts anderes vorstellen. Was sie in den Augen von Miguel Duarte völlig disqualifiziert: Miguel stammt aus dem spanischen Sevilla. Er empfindet Fuseta als absolute Ödnis am Rand der Zivilisation. Duarte sehnt sich danach, in die Hauptstadt Lissabon befördert zu werden und aspiriert deshalb auf den Job von Graciana. Er trägt Massanzug, einen perfekt gezogenen Scheitel und hat untadelige Manieren – was ihn aber nicht daran hindert, in jedes Fettnäpfchen zu trappen, das in Sichtweite herumsteht.
Carlos Esteves ist das pure Gegenteil von Miguel: Carlos Esteves ist eine eindrückliche Gestalt: fast 1,90 m gross. Er trägt halblanges, gelocktes Haar, das ihm bis in den Nacken fällt. Er stammt ebenfalls aus Fuseta, er ist ein Geniesser und eigentlich immer am Essen. Er kennt jeden und vor allem jede in der Umgebung und ist, trotz aller Entspanntheit, im Notfall blitzschnell bei der Sache.
Das also sind die Kollegen von Leander Lost. Sie werden zu Beginn der Geschichte zum toten Zollbeamten in die Hügel über der Küste gerufen. Eine Gegend, über die Miguel Duarte nur den Kopf schütteln kann: «Dass hier Menschen leben», sagte er leise und nachdenklich, während Graciana ihren Volvo V70 T5 mit Blaulicht und Höchsttempo durchs Hinterland steuert.
«Alles gut, Miguel?», fragte Graciana, während sie den Volvo an der Grenze der bis jetzt bekannten Physik gerade um eine enge Kurve manövrierte, nein: auf jenem schmalen Grat vor dem Ausbrechen des Hecks balancierte, und Duartes Hand sich so intensiv an den Türknauf klammerte, dass seine Fingerknöchel sich weiß unter der Haut abzeichneten. «Prima», log er gepresst. Carlos Esteves zündete sich eine selbst gedrehte Zigarette an, während sie sich auf der schmalen Straße recht schnell von der Küste entfernten.
Aus dicht besiedelten, kleinen Orten wurden Siedlungen mit Gehöften. Anstelle von Straßenhändlern, die Orangen, Tomaten und allerlei mehr in ausgedienten, klapprigen Holzkisten anboten, traten von der Augustsonne verdorrte Landstriche und Hügelketten, in denen Ziegen oder Esel im Schatten von Bäumen standen oder im Liegen neben Tränken dösten.
Sobald man die A 22, die Autobahn der Algarve, die in einem Abstand zwischen sechs und zwölf Kilometer zur Küste verlief, in nördlicher Richtung unterquerte, gelangte man in eine andere Zeit. Wo der Sekundenzeiger sich aus seinem monotonen Rhythmus löste, mal abstoppte, mal eine Pause einlegte und dann weitertrottete. Zeit existierte hier als etwas, das es im steten Überfluss gab. Wodurch sich erklärte, dass hier bis heute weder die Hektik der Industrialisierung noch die der Neuzeit Einzug gehalten hatte. Selbst das Wort Hektik hatte es noch nicht bis hierher geschafft. Im scheinbaren Widerspruch dazu das schnelle Internet mit Glasfaser aber schon. Die Portugiesen im Hinterland hatten zwar Zeit, aber sie waren nicht auf den Kopf gefallen – Benfica Lissabon gegen FC Porto in HD im Livestream. Glasfaser also mit einer zur Verfügung stehenden Schnelligkeit, die hier keiner an den Tag legte, denn wer in der Mittagshitze nicht schwitzen wollte, bewegte sich darin gar nicht erst oder zumindest langsam.
Die wenigen anderen, die beides dennoch taten, waren natürlich die Touristen. Wenn diese sich hierher verliefen, dann, weil sie das Land auf eigene Faust erkundeten oder eben, wie das Verb schon nahelegte, sie sich verlaufen hatten. Graciana musste hier also weniger Menschen oder Kurven im Blick haben als vielmehr freilaufende Schafe, Hunde, Ziegen und Hühner oder langsam fahrende Trecker oder Eselkarren.
Kurz vor São Brás de Alportel, das die Bewohner der Algarve als São Brás oder sogar Brás abkürzten, blitzte etwas hinter ihr auf, das sie im Innenspiegel sah. Eine gelb-silberne Retromaschine, eine Ducati Scrambler. Mit einer Gestalt in einem schwarzen Anzug darauf, deren Jackett und deren schmale schwarze Krawatte im Fahrtwind flatterten. Dazu schwarze Espadrilles und ein weißes Hemd, dem im Olymp des Bügelns ein Platz gewiss gewesen wäre. Die Scrambler schloss in der nächsten Kurve zu ihnen auf. «Lost ist da», sagte Graciana und Carlos entging nicht die Fröhlichkeit in ihrer Stimme. (Seite 40f.)
Graciana und ihr Team haben es mit einem schwierigen Fall zu tun: In Bico Alto in der Nähe von Sao Bars de Alportel wird André Bento ermodert, ein altgedienter Zollbeamter. Er wollte offenbar die Entführung seiner Enkelin verhindern. Vergeblich: Das Kind ist verschwunden und löst sofort eine grosse Suchaktion aus. Im Rahmen der Ermittlungen experimentiert Leander unter anderem mit Ameisen: Er versucht herauszufinden, wie lange sie brauchen, um ein Rührei abzutransportieren.
Es ist denn auch Leander Lost, der als erster merkt, dass die Entführung nicht das Ziel der Verbrecher war, sondern nur Teil einer viel grösseren Geschichte. Langsam decken die portugiesischen Polizisten und ihr deutscher Kollege ein russisches Spionagenetzwerk auf. Wie immer spielen dabei die Festessen von Raquel und António Rosado eine grosse Rolle im Buch: Die Eltern von Graciana und Soraia wohnen an einer Sackgasse im Zentrum von Fuseta. Freunde und Bekannten und nicht zuletzt die Nachbarn kehren hier gern ein. Die einen kommen, um sich Rat von António Rosado zu holen. Sein Augenmass und seine Bodenständigkeit werden von den Bewohnern hoch geschätzt. Die anderen schauen gerne auf einen kurzen Schwatz vorbei, was aber meist ausufert. Und zwar nicht zuletzt wegen Raquel Rosados raffinierten petiscos, den portugiesischen Tapas. Dann steht unversehens ein Vinho verde auf dem Tisch oder ein Bier, Oliven, die unvergleichliche Thunfischcreme mit frischem Weissbrot oder eine andere Köstlichkeit in der roten Tonschale. Antonio feuert den Grill an und legt ein paar fangfrische Sardinen auf den Rost – und halb Fuseta isst und trinkt, lacht und redet – und tauscht dabei natürlich viele Informationen aus. Denn den Einheimischen entgeht nichts.
Diese Stimmung zieht sich durch das ganze Buch, auch das schreckliche Verbrechen kann das wohlige Gefühl der Vertrautheit, von Vinho Verde und Sardinen auf dem Grill nicht vertreiben. Die folgende Passage, eigentlich die Einleitung zu einem grossen Polizeieinsatz, zeigt das sehr gut:
Die Flamingos kamen als Schwarm im Tiefflug von Westen über den kleinen Fischerort. In der Mittagssonne überflogen sie Dachterrassen, die im ersten, zweiten oder dritten Stock von Fuseta eine Art Parallelwelt schufen, eine zweite Ebene. Einzig unterbrochen durch Gassen und Straßen ergaben sie ein farblich unterschiedliches Muster auf den Quadraten und Rechtecken, die die Reihenhäuser bildeten. Sie waren unterschiedlich groß, einige beherbergten Topfpflanzen, viele aufgespannte Sonnenschirme und ausnahmslos einen Grill – aus Stein, beweglich oder improvisiert.
Obwohl Fuseta sonst ein wenig aus der Zeit gefallen schien, zog es diesbezüglich mit den anderen Ortschaften gleich – die Portugiesen grillten für ihr Leben gern. Und die, die keine Dachterrasse ihr Eigen nannten, verlagerten das kurzerhand auf den Balkon. Oder auf den Bürgersteig vor der Straße. Und niemand nahm das als ungewöhnlich wahr. Zumindest kein Einheimischer.
In den Straßenlokalen wurde schließlich auch gegrillt. An breiten, hoffnungslos verrußten Grills standen dort die Männer und legten das Fleisch auf, das zischte, und sie wendeten es mit dem schlafwandlerischen Timing eines Menschen, dem die innere Uhr dafür in Fleisch und Blut übergegangen war. Selbst bei einem Dutzend Stücken verloren sie nie den Überblick, während ihnen der Schweiß den Nacken hinablief.
Die Flamingos überquerten den Kanal Fusetas, der sich von der seegleichen Lagune bis weit in den Ort erstreckte, wo er sich zwischen den Salinen zunächst in größere Arme und dann in immer kleinere zergliederte. Von oben betrachtet erinnerte das Ganze an menschliche Blutbahnen, die sich immer feiner verzweigten und sich schließlich über ein ganzes Gebiet erstreckten, dachte Carlos Esteves. Er saß auf der Dachterrasse seiner Wohnung in der Rua Miguel Bombarda. Gleich neben der örtlichen Markthalle und nur einen halben Steinwurf vom Kanal entfernt. (Seite 86)

Auch wenn Leander, Carlos und seine Kollegen von der Polizei in Fuseta in Sachen Mord und Entführung ermitteln, wird immer klar, was die wichtigen Dinge sind an diesem Ende der Welt: der Grill von Vater Antonio Rosdado mit den brutzelnden Sardinen, die Geschichten der Nachbarn, die Bohnencreme von Mutter Raquel und das unbedingte, entspannte Vertrauen, das sich die Menschen hier entgegenbringen.
Gil Ribeiro: Lautlose Feinde. Lost in Fuseta. Ein Portugal-Krimi. Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten, 26.50 Franken; ISBN 978-3-462-00687-2
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462006872
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 17.07.2025, Matthias Zehnder
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