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Herbstgeschichte

Publiziert am 16. Oktober 2025 von Matthias Zehnder

Sten Nadolny kennen Sie sicher als Autor von «Die Entdeckung der Langsamkeit»: Der Roman, 1983 erschienen, erzählt die Geschichte des britischen Polarforschers John Franklin. In seiner schnelllebigen Zeit hat Franklin Probleme, weil er so langsam ist. Weil er zugleich aber beharrlich seine Ziele verfolgt, wird er schliesslich ein grosser Entdecker. Für Sten Nadolny wurde der Roman zum grossen Erfolg. Schon drei Jahre vor Veröffentlichung gewann er mit einem Kapitel aus dem Roman den Ingeborg Bachmann-Preis. Das Buch wurde zum millionenfach verkauften Bestseller: Die Geschichte um den langsamen, aber beharrlichen Forscher wurde in über 20 Sprachen übersetzt. Die Kehrseite davon: Das Buch verschluckte seinen Autor. Kein weiteres seiner Bücher hat auch nur annähernd die Bekanntheit der «Langsamkeit» erzielt. Sten Nadolny ist mittlerweile 83 Jahre alt und schreibt so langsam und beharrlich weiter, wie sein Kapitän segelte. Jetzt hat er einen neuen Roman veröffentlicht. In meinem 277. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, seine «Herbstgeschichte» zu lesen.

 

An einem Herbstnachmittag des Jahres 1998 steigen zwei Männer in Düsseldorf in einen Intercity-Zug. Beide sind 54 Jahre alt. Sie waren einst Schulfreunde, haben sich aber aus den Augen verloren und erst kürzlich an einer Geburtstagsfeier wieder gesehen. Allerdings sind sie sich da übel in die Haare geraten. Weil sie beide beruflich nach Zürich reisen müssen, haben sie beschlossen, gemeinsam zu fahren und ihre Auseinandersetzung beizulegen.

Die beiden könnten gegensätzlicher kaum sein: Bruno Gnadl hat sich als Boxer versucht, dann ist er Schauspieler geworden. Jetzt leitet er sein eigenes Theater. Er raucht gerne Zigarre und schätzt direkte Wege und direkte Worte. Michael Waßmuß (mit zwei scharfen ß) hat Politologie studiert, das Examen nicht bestanden, keinen Job gefunden und ist jetzt als Autor von skurrilen Kurzgeschichten einigermassen erfolgreich. Er denkt, er sei hochsensibel. Im Zugabteil sitzt eine junge Frau. Michael findet, sie sei «stockhübsch». Das ist sein Ausdruck für Frauen, die er schön findet.

Aber da war noch etwas anderes. Diese Art Gesicht meinte er von einem alten Porträt her zu kennen und suchte im Gedächtnis vergeblich nach dem Maler. Einer der Cranachs vielleicht, aber hatten die jemals eine dunkelhaarige Frau gemalt? Hoffentlich schaute sie jetzt nicht auf und begegnete seinem forschenden Blick. (Seite 24)

Michael hat Mühe mit Gesichtern: Er ist, wenigstens teilweise, gesichtsblind. Er selbst nennt es lieber «Prosopagnosie», das klingt interessanter und weniger nach Behinderung. Es ist aber eine, (das kann ich bestätigen).

Die junge Frau sagt Michael, dass sie ihn schon einmal gesehen habe. In der Werft in Flensburg: Er sei aus dem Tor gekommen, als sie mit ihrer Schulklasse und dem Lehrer reingingen. Michael ist sprachlos: Vor vierzehn Jahren hatte er dort wirklich für eine Geschichte recherchiert. Allerdings hat er keinerlei Erinnerung an eine Schulklasse. «Damals sah ich noch ziemlich gut aus», denk er sich, «das ist dem Mädchen wohl aufgefallen.»

Nein, ist es nicht: Das Mädchen, sie nennt sich übrigens Marietta, ist ein Superrecognizer. Sie hat ein fotografisches Gedächtnis und kann sich alles merken, insbesondere Gesichter.

Michael meint, dass Menschen wie Marietta nicht aus der Logik von Wörtern und Sätzen heraus ihr Leben leben und steuern, sondern aus der von Bildern. Und Bilder können sie – er nennt diese verschwindend kleine Gruppe «Superrecognizer» – speichern wie ein riesiges Archiv, sie erkennen jedes Gesicht selbst nach Jahrzehnten wieder. Dass Michael sich für eine Person mit fotografischem Gedächtnis besonders interessiert, wundert mich nicht: Er hätte sicher gern wenigstens eine Spur davon.
«Sie sah alles sofort und ordnete es in das ein, was sie schon gesehen hatte. Sie erkannte auch nach Jahren, welches Buch inzwischen in einem Regal fehlte, sie wusste beim Gang durch eine Stadt, wem es schlecht ging, und sie versuchte ohne Zögern, ihm zu helfen. Sie war nicht von Zielen, Begriffen, inneren Erledigungszetteln geleitet, sondern allein von ihren Augen. Wer solche Augen hat, ist scharfsinnig, einfach weil die Kongruenz oder Inkongruenz von Bildern ihm erzählt, was sich abgespielt hat.» (Seite 44f.)

Das ist ein zentraler Satz des Buchs: Menschen wie Marietta steuern ihr Leben nicht aus der Logik von Wörtern und Sätzen, also von Aussagen, sondern aus der Logik von Bildern. Sie bringt sich damit übrigens auch in Gefahr, weil sie Verbrecher auf der Strasse sofort erkennt, wenn sie zuvor ein Fahndungsbild gesehen hat. Das macht sie unter Kriminellen nicht gerade beliebt.

Wichtig wird die Feststellung, dass das Leben der Logik von Bildern folgt, weil Michael dieser Marietta Jahre später wieder begegnet. Sie kommt an eine Lesung und hält ihm ein Buch hin für ein Autogramm. Michael erkennt sie zunächst natürlich nicht: Eine zierliche, sehr schmale junge Dame im Rollkragenpullover und mit langem schwarzem Haar, die in einem Rollstuhl sitzt. Er besucht sie in ihrer Wohnung, einer heruntergekommenen Sozialwohnung in Köln. Die junge Frau ist schrecklich dünn, eines ihrer beiden Augen ist aus Glas, sie ist traumatisiert. Ihr Bildgedächtnis ist für sie ein Fluch: Belastende Erlebnisse holen sie immer wieder ein. Manchmal ist sie völlig furchtlos und dann kommen ihr lauter Bilder in den Sinn, die ihr zeigen, was alles schiefgehen könnte, und die kriegt sie nicht aus dem Kopf.

Michael versucht, ihr zu helfen – so weit sie sich helfen lässt. Sie ist eine psychisch beschädigte, von rätselhaften Krankheiten gezeichnete Frau, die mit vierunddreissig Jahren ohne Perspektive im Rollstuhl sitzt und nichts tun kann, als um Arzttermine zu kämpfen und an einem Teppich zu knüpfen. Michael macht sich über die Begegnungen Notizen: Er will, irgendwann, den grossen Roman schreiben über seine verletzte Freundin.

Vor allem der Umgang mit den Behörden und Ämtern bringt Michael zum Verzweifeln:

Da gab es eine gut gemeinte und auch teilweise gelungene Sozialgesetzgebung, die Behinderten, Verarmten, Verstörten und Hilflosen beistehen und ihnen eine Teilnahme am Leben der Gesellschaft ermöglichen sollte. Es floss Geld für Betreuung und Begleitung, für alles Notwendige. Aber bevor das bei ihnen ankam und guttat, waltete ein Moloch an Vorschriften, Verfahren, Genehmigungen und vor allem ablehnenden Bescheiden mit manchmal nicht nachvollziehbaren Begründungen. Die Verwaltungsapparate waren bei der Verwirklichung von Regelungen, die für mehr Menschlichkeit sorgen sollten, zugleich Motor und Bremssystem. Sie bestanden aus Tausenden von Menschen in Berlin und Brüssel und sonst wo, die mit Fleiß und Scharfsinn Gerechtigkeitslücken fanden, zu deren Bewältigung es neue Verordnungen brauchte. Und dann waren da Millionen von Menschen, die diese Verordnungen umzusetzen hatten, sosehr sie auch stöhnten. So schufen sie gemeinsam, jeder zu seinem kleinen Teil, jenes Monstrum aus gutem Willen, Gewissenhaftigkeit und Regelungswut, das man Bürokratie nennt.
«So kann ich zwar überleben, aber in Fesseln», schrieb Marietta. «Ich muss genügend krank und hilflos bleiben, sonst wird mir die Hilfe gestrichen, und die brauche ich unbedingt noch. Jede Entwicklung zu mehr Selbstständigkeit muss ich verstecken, dabei ist sie doch angeblich der Sinn der Hilfe.» (Seite 110)

Das ist der nächste, zentrale Satz des Buchs: Marietta darf sich nicht entwickeln, sie muss das Bild erfüllen, das sich die Behörde von ihr macht, sonst kriegt sie keine Unterstützung. Marietta entwickelt sich nicht, weil sie ein Bild erfüllen muss. Auch Michael macht sich von ihr ein Bild: Für ihn bleibt sie die verletzte, traumatisierte Frau ohne Chancen und Perspektiven, der er selbstlos hilft. Weil sich Michael dieses Bild von ihr macht, bleibt Marietta so – bis Bruno Gnadl wieder auftaucht, der andere Mann aus dem Zug, der Boxer und Theaterdirektor. Er hat ein ganz anderes Bild von Marietta und befreit sie damit. Gemeinsam flüchten sie ausser Landes.

So weit, mit vielen Auslassungen, die Skizze der Geschichte von Marietta. Allerdings erzählt Sten Nadolny diese Geschichte nicht einfach so. Dem Roman vorangestellt ist ein «Prolog des erfundenen Autors». Der beginnt so:

Mein Name ist Titus. Ich habe bisher vor allem Drehbücher geschrieben und erst jetzt, mit gut achtzig Jahren, einen Roman – hier ist er. Seine Kapitel sind hauptsächlich 2024 entstanden, und in einer anderen Reihenfolge als der hier präsentierten. Alles, was 2025 geschah und weiter geschehen wird, konnte sich in ihm allenfalls ankündigen. Ich erzähle die Geschichte von Bruno und Michael, und zwar ab deren gemeinsamer Reise im Jahre 1998, auf der sie eine junge Frau namens Marietta kennenlernten. (Seite 9)

Sten Nadolny erzählt also die Geschichte von Titus, der die Geschichte von Marietta, Michael und Bruno erzählt. Auch Titus ist ein Klassenkamerad von Michael und Bruno. Er begegnet Michael auf einer Kreuzfahrt, die er recherchenhalber unternimmt: Er schreibt am Drehbuch einer Kreuzfahrtserie. Michael übergibt ihm auf dem Schiff seine Notizen über Marietta. Titus soll daraus ein Drehbuch schreiben. Als Vorbereitung dafür erfindet Titus auf der Basis der Notizen die Geschichte, die wir danach lesen. Ab und an schwenkt der Erzähler in die Gegenwart auf das Kreuzfahrtschiff und so kommt auch Titus immer wieder vor im Buch.

Am Ende des Romans folgt der «Epilog des nicht erfundenen Autors». Nadolny schreibt:

Da ich der wirkliche Autor dieses Romans bin und alles in ihm gewissenhaft erfunden habe, kann ich ebenso zuverlässig darüber Auskunft geben, wie es mit den Figuren weitergegangen ist. (Seite 235)

Das erinnert an Erich Kästner, der in seinen Büchern auch als Autor aufzutauchen pflegte. In «Drei Männer im Schnee» erzählt er im Vorwort, die Geschichte sei ihm und seinem Freund Robert im Zug auf der Fahrt nach Bamberg von einem älteren Herrn mit Gallensteinen berichtet worden. Als der ältere Herr das Abteil verlassen hat, streiten der Autor und sein Freund darüber, wer aus der Story einen Roman und wer ein Theaterstück daraus machen soll. Schliesslich werfen sie eine Münze. Kästner gewinnt und darf den Roman schreiben, sein Freund Robert muss das Lustspiel schreiben. Tatsächlich schrieb 1934 ein Robert Neuner über dieselbe Story das Lustspiel «Das lebenslängliche Kind». Der Name ist ein Pseudonym, vermutlich für Werner Buhre, der das Stück wohl zusammen mit Kästner schrieb. Beide waren zu dieser Zeit von den Nationalsozialisten mit einem Publikationsverbot belegt worden.

Daran also erinnert mich die Konstruktion des Romans von Sten Nadolny. Vor allem aber ist die «Herbstgeschichte» ein Vexierspiel: Im Rahmen, den der wirkliche Autor am Ende absteckt, gibt es eine Rahmenhandlung, in der ein erfundener Autor namens Titus erzählt, wie er die Geschichte über die Begegnung in der Bahn auf dem Kreuzfahrtschiff gefunden und danach erfunden hat. Im Zentrum dieser Geschichte steht eine junge Frau mit einem fotografischen Gedächtnis, die sich nicht entwickeln kann, weil sie ein Bild erfüllen muss.

Sten Nadolny zeigt uns also in seinem Buch, dass wir mit unseren Erzählungen und Geschichten die Welt nicht abbilden, sondern erschaffen und prägen. Die Bilder und Geschichten, die wir im Kopf haben, sehen und hören wir nicht, weil wir sie in der Welt so erleben, es ist umgekehrt: Wir erleben die Welt so, weil wir entsprechende Bilder und Geschichten im Kopf haben. Das alles sagt uns Sten Nadolny nicht, er zeigt es uns. Das ist das Schöne an seinem Buch.

Sten Nadolny: Herbstgeschichte. Roman. Piper, 240 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-492-07403-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492074032

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Basel, 16.10.2025, Matthias Zehnder

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