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Familienspiel

Publiziert am 2. November 2021 von Matthias Zehnder

Tante Paula hat den Schleiss: das lebenslange Wohnrecht im Stöckli der Stierenmatt. Aber das Stöckli ist im Weg. Ihr Neffe, Bauer Pirmin, will den Bauernhof aufgeben. Die Gemeinde soll das Land umzonen. Er wäre auf einen Schlag reich. Wenn Tante Paulas Wohnrecht nicht wäre. Auch ihre anderen Neffen kümmern sich auffällig intensiv um sie. Denn Tante Paula hat gespart. Ihr Leben lang. Und dann ist Tante Paula eines morgens tot. Im Bad liegt sie am Boden. Herzanfall. Es ist ein Fall für Anselm Anderhub, Oberleutnant der Luzerner Kriminalpolizei, Fachgruppe Delikte Leib und Leben. Er arbeitet im Kantonshauptort Luzern, aber er wohnt in der Nähe, in Sursee. Er kennt die Menschen auf dem Luzerner Land. Er kann mit ihnen reden, er kann zuhören und er macht sich einen Reim auf das, was nicht gesagt wird. Nicht nur die Geschichte erinnert an Gotthelf, auch die Sprache von Peter Weingartner. Ein echter Schweizer Krimi.

Als Friedrich Dürrenmatt einmal in Deutschland in seinem bernerisch gefärbten Deutsch eine Rede hielt und aufgefordert wurde, Hochdeutsch zu sprechen, entgegnete er: «Ich kann nicht höher!» Deutsche sprechen und schreiben ein geschliffeneres Deutsch als Schweizer. Bei uns kracht es nicht nur wenn wir reden, sondern auch beim Schreiben. Das war bei Jeremias Gotthelf schon so und ist bis Friedrich Dürrenmatt so geblieben.  

Und es ist nicht nur die Sprache. Auch wenn Schweizer miteinander reden, ist das kein Ping-Pong-Spiel, da werden eher Medizinbälle hin- und hergewuchtet. Bloss: Wie stellt man das in einem Roman dar? Die Langsamkeit des Sprechens lässt sich in der geschriebenen Sprache ja nicht abbilden.

Der Luzerner Peter Weingartner hat in seinem dritten Kriminalroman die sprachlichen Mittel dafür gefunden: Seine Figuren haben einen reichen Bewusstseinsstrom, es kommt ihnen also viel in den Sinn, wenn sie sich gegenüber stehen. Manchmal sind es ganze Absätze mit sich überstürzenden Sätzen, manchmal und einzelne Worte. Sie denken sich viel – aber sagen sich wenig. Eine spannende Mischung, die sprachlich präzise abgebildet ist. Warum sein dritter Krimi rund um Ermittler Anselm Anderhub noch aus einem anderen Grund ein echter Schweizer Kriminalroman ist, sage ich Ihnen gleich. 

Bei Gotthelf waren sie noch die Könige im Land: Die Bauern mit ihren grossen Höfen, dem Vieh und den Feldern. Bis heute sind Bauern der Inbegriff der freien Schweizer. Mindestens auf dem Land. Kaum ein Schweizer, der zwei, drei Generationen zurück nicht Bauern in der Verwandtschaft hat.

Auch Walter Bühler war so ein stolzer Bauer auf seinem Hof, der Stierenmatt. Stolz bis knapp vors Eingebildetsein. Respektabel. Ein Katholisch-Konservativer. Zu seiner Zeit konnte er von seinem Hof in Aberwil gut leben. Aberwil, das ist eine fiktive Landgemeinde im Kanton Luzern. Fiktiv, aber realistisch. Denn Aberwil ist stark gewachsen. Früher stand die Stierenmatt am Rand von Aberwil. Doch der Rand der Siedlung hat sich verschoben. Jetzt ist der Hof umgeben von Einfamilienhäuschen. Jetzt wirtschaftet Pirmin auf der Stierenmatt, der Sohn von Walter. Walter selbst ist in eine Eigentumswohnung umgezogen. Er hilft noch gerne mit auf dem Hof, aber das Sagen hat jetzt Pirmin. Und der macht sich Sorgen wegen der Einfamilienhäuser.

 Natürlich war die Stierenmatt zuerst da. Aber wenn Pirmin mit dem Güllenfass durch die Strassen mit den neuen Häusern fährt, fühlt er sich als Eindringling. 

«Der für das Bauwesen zuständige Gemeinderat, Hansjörg Stutz, sitzt neben Pirmin als zweiter Posaunist im Musikverein Concordia.
«Wie lange willst du es noch machen», fragte ihn Stutz kürzlich nach der Probe.
«Warum fragst?»
«Es gibt immer wieder Reklamationen von den Anwohnern, die Gülle stinke grauenhaft, sie könnten an gewissen Tagen die Wäsche nicht aufhängen, ohne sie gleich wieder waschen zu müssen, dann der Lärm der Maschinen, das Rumpeln fast rund um die Uhr, dazu noch der Milchtankwagen auf der Quartierstrasse, auch wenn er nicht mehr in aller Herrgottsfrühe kommt. Und das beste Argument, wer möchte das herunterspielen: die Gefährdung der Kinder durch die landwirtschaftlichen Fahrzeuge, die monströsen mit doppelten Rädern, der Mähdrescher mit seiner überbreite, da sei man seines Lebens nicht sicher. Das wird moniert.» (S. 63)

Und dann kommen noch die Beschwerden der Umweltschützer dazu, Dünger im Bach, das Fischsterben, die Verdichtung der Böden. Es ist ungemütlich geworden für den Bauern in Abwerwil.

Aber Kollege Gemeinderat weiss einen Ausweg: Die Gemeinde könnte das Land von Pirmin umzonen, von der Landwirtschaftszone in die Wohnzone. Allein auf dem Boden des Hofs und des Stöckli liessen sich gut und gerne drei Mehrfamilienhäuser errichten. Er,  Gemeinderat, Hansjörg Stutz, sei kürzlich von Geri Keiser angehauen worden. Der würde das Land sofort übernehmen.

«Pirmin Bühler geht die Sache nicht mehr aus dem Kopf. Er wälzt sich hin und her und findet keinen Schlaf, denn er rechnet den ortsüblichen Quadratmeterpreis für Bauland gegen jenen für Landwirtschaftsland auf und staunt, dass der gleiche Quadratmeter, die gleiche Erde, Humus, der gleiche Dreck mit den gleichen Grasschübeln drauf und Würmern und Mäusen und Käfern und Steinen drin, mindestens fünfzig bis hundert Mal mehr Wert hat, wenn er im Zonenplan der Gemeinde Aberwil nicht mehr mit der grünen, sondern mit der roten oder der orangen Farbe bezeichnet ist. Tendenz steigend.» S. 65

Aber im Stöckli wohnt Tante Paula, die Schwester seines Vaters. Und sie hat den Schleiss, ein vertraglich zugesichertes, lebenslanges Wohnrecht.

Und Tante Paula hat gespart. Ihr Leben lang. Deshalb kümmern sich ihre Neffen schon fast auffällig um sie. Neffe Paul will sie dazu bringen, das versteckte Schwarzgeld zu melden. Tante Paula ist empört. Und sie fürchtet, dass Paul sie ins Altersheim bringen und sich ihr Geld unter den Nagel reissen will. Schliesslich arbeitet er bei der Bank und man kennt sie, diese Geldmenschen. Da vertraut sie lieber ihrer Nichte, der Rosmarie. Sie und ihr Mann Heinz kümmern sich intensiv um sie und versprechen ihr, dass sie nie ins Altersheim gehen müsse. Dieses Versprechen ist ihr so wichtig, dass sie sogar ihr Testament abändert. Zu Gunsten von Heinz und Rosmarie natürlich, die sich so um sie kümmern und sogar für sie einkaufen. Dass die beiden dabei mit ihrem Geld immer auch noch ihre eigenen Einkäufe erledigen, merkt sie nicht.

Und dann ist Tante Paula eines morgens tot. Im Bad liegt sie am Boden. Herzanfall. 

Aber ist das wirklich so einfach?  

Es ist ein Fall für Anselm Anderhub, Oberleutnant der Luzerner Kriminalpolizei, Fachgruppe Delikte Leib und Leben. Er arbeitet im Kantonshauptort Luzern, aber er wohnt in der Nähe, in Sursee. Er kennt die Menschen auf dem Luzerner Land. Er kann mit ihnen reden, er kann zuhören und er macht sich einen Reim auf das, was nicht gesagt wird.

Peter Weingartner erzählt in «Familienspiel» eine Geschichte wie aus Gotthelfs Zeiten: Im Zentrum steht eine Bauernfamilie, Geld und Geiz und Gier. Und wie zu Gotthelfs Zeiten ist die Geschichte sprachmächtig erzählt in einem Deutsch, das die zögernde, tastende Sprache von Schweizerinnen und Schweizern perfekt abbildet. Ein Schweizer Kriminalroman im besten Sinn.

Peter Weingartner, Familienspiel. Kriminalroman. Edition 8, 320 Seiten, 26 Franken; ISBN 978-3-85990-428-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783859904286

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Basel, 2. November 2021, Matthias Zehnder

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