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Letzter Tipp: Auf ganz dünnem Eis

Fabula Rasa oder Die Königin des Grand Hotels

Publiziert am 20. November 2025 von Matthias Zehnder

Angelika Moser ist in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Mutter ist alleinerziehend und arbeitet als Hauswartin in einem Häuserblock in Wien, den Vater hat sie nie kennengelernt. Zusammen mit ihren Freunden feiert sie durch die Wiener Nächte. Sie liebt und verliebt sich, aber auch sie hat nicht wirklich Glück mit ihren Männern. Ihre Sicherheit findet sie in Zahlen: Sie arbeitet als Buchhalterin im Grand Hotel Frohner und gilt da als ebenso diskret wie zuverlässig. Als sie schwanger wird, will der Direktor sie deshalb im Job behalten. Damit sie als alleinerziehende Mutter neben Basti, ihrem Kind, weiter arbeiten kann, offeriert er ihr einen Kinderbetreuungszuschuss, gibt ihr aber den Auftrag, den Zuschuss diskret auf ihr Konto zu transferieren. Nicht auszudenken, wenn alle Mitarbeiter mit Kindern so etwas wollten. Erst zögert Angelika. Doch dann rechnet sie die Belege für den Opernball ab und stellt fest, dass eine Flasche Champagner so viel kostet wie Bastis Kinderbetreuung für einen Monat. Direktor Frohner hat zweiundzwanzig solcher Flaschen bestellt. Also überweist sie sich diskret den Kinderbetreuungszuschuss. Es ist überraschend einfach. Das Grandhotel bleibt auf Angelika angewiesen und finanziert ihr ein kleines Auto, eine grösser Wohnung und weitere Annehmlichkeiten. Bloss weiss davon nur Angelika. Aber sie will den Direktor nicht weiter belasten. Diese «Zuschüsse» wachsen auf Drei Millionen und dreihunderteinundzwanzigtausend Euro an, bis Angelika auffliegt. Warum das trotzdem nicht das Ende der Geschichte ist und warum ich selten so viel Spass hatte beim Lesen eines Romans, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 282. Buchtipp.

Der Schelmenroman ist ein beliebtes Genre in der Literatur. Die Hauptfigur ist kein strahlender Held und Superman, sondern stammt aus einfachen Verhältnissen. Ein Schelm ist kein böser Räuber, sondern ein liebenswürdiger Überlebenskünstler: Sein Schicksal zwingt ihn, vom Pfad der Tugend abzuweichen. Er überlebt dank Witz und List. Er hüllt seine Betrügereien in Charme und wir lieben ihn dafür. Ein Schelm ist also ein Anti-Held: Er verfolgt keine hohen Ideale, sondern schlägt der noblen Gesellschaft ein Schnippchen, demaskiert die Scheinheiligkeit der Würdenträger und zeigt sich, trotz aller Gaunereien, als wahrer Mann der Ehre.

Casanova ist der klassische Charmeur, dem wir alle seine Gaunereien verzeihen, weil er uns dabei so wunderbar unterhält. Felix Krull ist ein weiterer dieser Gentleman-Ganuner: Thomas Mann lässt den jungen Felix seinen Charme, seine Intelligenz und sein schauspielerisches Talent als Hochstapler und Trickbetrüger in der europäischen Oberschicht anwenden. Ein guter Teil des Romans spielt in einem Pariser Grand-Hotel. Die lässige Eleganz des Hotels bietet das perfekte Setting für den schönen Schelm.

Gemeinsam ist diesen Schelmen, dass es Männer sind. Frauen kommen in der Schelmenliteratur allenfalls als Komplizinnen vor oder dann als Opfer. Bei Vea Kaiser ist das anders: Ihr Schelm ist eine Schelmin: eine Frau, die ihr Schicksal beim Schopf packt und sich wie einst Münchhausen am eigenen Kragen aus dem Sumpf zieht.

Denn im Sumpf steckt sie, die Angelika Moser. Sie kann es zwar gut mit Zahlen, aber nicht unbedingt mit Männern. Die Ehrlichen sind ihr zu langweilig, deshalb kann sie ehrlicherweise nicht bei ihnen bleiben. Und die Männer, die nicht langweilig sind, die bleiben nicht bei ihr. Ausser Freddy. Der bleibt zwar auch nicht wirklich, aber immerhin kommt er immer wieder. So kommt es, wie es kommen muss: Angelika wird schwanger. Das wird nicht nur teuer, sondern bringt sie auch in moralische Konflikte. Denn es gibt nichts wichtigeres als das Wohl des Kindes. Sie lässt sich deshalb von Direktor Frohner erweichen und hilft ihm, die Bilanzen des Nobelhotels so zu frisieren, dass das ehrwürdige Hotel verschuldet zu sein scheint und also nicht mehr interessant ist für eine unfreundliche Übernahme. Angelika selbst will sich auch nicht übernehmen lassen, auch wenn der Kandidat der Sohn ist des Direktors.

«Einverstanden», sagte Angelika zum Direktor, der von Gästen liegen gelassene Handtücher einsammelte. Er trug Plastikhandschuhe. Die Poolboys litten unter einem hartnäckigen Brechdurchfall, und im Housekeeping hatten sich alle geweigert, den Pool-Dienst zu übernehmen. Angelika beobachtete den Direktor und dachte: Einer musste immer die letzte Bastion sein. «Ich bastel Ihnen neue alte Bilanzen. Und Sie geben mir die Abteilungsleitung, wenn der Schnattl geht.»
Der Direktor nickte.
«Sie werden das nicht bereuen», sagte er. Angelika nickte und beeilte sich, dem Chlorgeruch zu entkommen. «Ich hoffe, mein Sohn hat Sie nicht allzu sehr enttäuscht?», rief ihr der Direktor leise hinterher.
«Es ist alles in bester Ordnung», sagte Angelika und meinte es so: Das Leben musste seine Ordnung haben. Sie war Angelika Moser. Sie war keine Frau Frohner, sie wollte keine Frau Frohner sein. Sie war, wer sie war, weil sie konnte, was sie konnte. Sie konnte sich nicht auf reiche Eltern oder wichtige Bekannte verlassen, die die Dinge mit viel Vitamin B für sie regelten. Sie war selbst eine letzte Bastion, die halten musste. (Seite 151f.)

Angelika ist die letzte Bastion für ihre Mutter Erna, die «Vergesslichkeit» hat, für Freundin Ingi, die immer mal wieder an der Spitze hängt, und natürlich führ Sohn Sebastian, den Basti. Das macht sie Freddy unmissverständlich klar, als der in ihrer On-Off-Beziehung grad mal wieder aus dem Off auftaucht.

«Ich muss mich um die Ingi kümmern, ich muss mich um meine Mutter kümmern, ich muss mich um die Arbeit kümmern – ich will mich nicht auch noch um dich kümmern müssen. Aber du kümmerst dich um gar nix. Das pack ich nimmer«, sagte sie, und Freddy, der coole, der lässige, der unerschütterliche Freddy, verlor die Fassung. Als wäre ihre kleine Wohnung eine Bühne, sprang er aufs Bett: »Reicht es denn nicht, dass ich dich liebe?«, schrie er so laut, dass man ihn wahrscheinlich bis in den 1. Bezirk hörte. Dann schlug er gegen die Wand, riss Bücher aus dem Raumteiler, Angelika hatte das Gefühl, er hantiere mit Requisiten. Freddy weinte, Freddy schrie, Freddy bettelte. Angelika reagierte nicht. Nach eineinhalb Stunden löste er den Schlüssel zu Angelikas Wohnung von seinem mit Schnürsenkeln zusammengehaltenen Schlüsselbund. Neunzig Minuten ohne Pause, das Stück war zu Ende. Es blieb noch eine letzte dramatische Geste: Freddy knallte Angelikas Schlüssel auf die Arbeitsfläche neben dem Herd. Mit Freddys Abgang rollte eine Welle der Traurigkeit über Angelika, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. (Seite 187)

Sie hat wirklich Pech mit ihren Männern.

Das Problem ist, dass Angelika sich damit immer wieder zwischen alle Stühle setzt. Als Buchhalterin weiss sie sich zu helfen, dazu hat der Direktor sie ja auch aufgefordert. Die Schwangerschaft und das Kind empfindet sie nicht als Belastung, sondern als Bereicherung:

Ihr Konto war leer, der Kredit bei der Bank unterschrieben, der Direktor unberechenbar, ihr soziales Netz karg, aber sie hatte keine Angst. Sie war nicht allein. Sie würde es nie wieder sein. (Seite 193)

Nein, sie würde nie wieder allein sein, sich damit aber immer tiefer zwischen alle Stühle in den Sumpf setzen. Angelika Moser weiss das auch. Das unterscheidet unsere Schelmin von einem Felix Krull: Der Held von Thomas Mann war überzeugt, dass ihm Luxus, Erfolg und Teilhabe an der noblen Gesellschaft zusteht, weil er schön und klug ist. Bei Angelika ist das anders: Sie weiss, dass sie nicht dazugehört. Als sie (mit freundlicher Unterstützung des Hotels Frohner) eine Wohnung kauft, hat sie das Gefühl, eine gesellschaftliche Migrantin zu sein:

Du gehörst nicht hierher, schrien die Stuckrosen. Dreh um, ätzten die Puten. Du bist ein Hausmeisterbankert, keine Eigentümerin, sagte die schwere Holztüre … (Seite 172)

Sie gehört nicht dazu, auch im Hotel nicht, und sieht gerade deshalb klarer als all die noblen und pseudonoblen Leute. Sie durchschaut das Grandhotel als Theaterveranstaltung und weiss genau, dass ihr Platz in den Kulissen ist. Der Direktor sagt ihr eines Tages:

«Ein Grand Hotel, liebe Frau Moser, sind nicht nur Zahlen und Zimmer, feine Küche und exquisiter Service, ein Grand Hotel ist Kulisse für Erlebnisse, Arbeitgeber für Generationen, Bewahrer der Traditionen und der Identität einer Stadt. Sie machen mit Ihrer guten Arbeit einen Unterschied im Leben vieler Menschen, und ich freue mich, wenn Sie die Abteilungsleitung von Herrn Schnattl übernehmen. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss Leute begrüßen.» (Seite 191)

Hoteldirektor Julius Frohner Senior weiss wie Angelika, dass ein Hotel ein grosses Theater ist und er der Regisseur. Er lässt Gäste und Personal mitspielen, nur Angelika sieht hinter all die Kulissen. Das macht sie unfreiwillig zur Komplizin des Hotelregisseurs. Sie spielt mit und spielt gleichzeitig ihr eigenes Spiel. Sie ist kein Opfer, sondern eine selbstbestimmte Frau, die sich entscheidet, für sich selbst einzustehen.

Es ist auch klar, dass das nicht ewig gut gehen kann. Umso schöner, findet Angelika Moser auch dann noch einen Weg aus dem Sumpf, als die Stühle, zwischen die sie sich gesetzt hat, über ihr zusammenbrechen. Mehr sei über die Geschichte nicht verraten. Das Buch zu lesen, ist vor allem deshalb ein grosses Vergnügen, weil Vea Kaiser mit viel Wiener Schmäh schreibt: mit Schmiss, präzisen Beobachtungen, Frechheit und durchsetzt von Wienerisch. Ich gebe ihnen ein Beispiel.

Junior bedankte sich andauernd bei allen für alles und ging dem Personal auf die Nerven, indem er jedes Gespräch mit dem Satz beendete: «Bitte nehmen Sie sich ein paar Krapferl für zu Hause mit!»
Niemand, der länger als ein Jahr im Frohner arbeitete, konnte diese picksüßen Brandteigbomben noch ertragen, doch Junior schien das Verteilen von Mehlspeisen als Ventil für seine Freude zu benutzen. An manchen Tagen rannte er mit Kartons durch den Wirtschaftstrakt, als müsste er Hilfslieferungen in einem Krisengebiet verteilen. (Seite 370)

Wie jede echte Schelmengeschichte hat Fabula Rasa eine Rahmenhandlung: Vea Kaiser erzählt, dass sie im Juni 2019 in der Zeitung auf die Geschichte von einer Hotelbuchhalterin namens Angelika Moser gestossen sei, die ihrem Arbeitgeber, dem Grand Hotel Frohner, über Jahre hinweg 3,3 Millionen Euro gestohlen hatte. Vor Gericht zu ihren Motiven befragt, habe sich die Buchhalterin damit entschuldigt, dass sie nur das Beste für ihr Kind gewollt habe. «Ich kam nicht umhin, ein gewisses Mass an Verständnis für diese Frau aufzubringen», schreibt Vea Kaiser. Sie selbst sei zu diesem Zeitpunkt hochschwanger gewesen und wenn sie den Fuss des Kindes durch die Bauchdecke spürte, habe sie gewusst, dass sie auch viel mehr Geld klauen würde, wenn es nötig wäre. Also besuchte sie die Buchhalterin im Gefängnis und liess sich deren Geschichte erzählen. Se non è vero, è ben trovato …

Vea Kaiser unterstreicht in der Rahmenhandlung, was sie in der ganzen Erzählung immer wieder zeigt: Gefährlich wird es dann, wenn man ernst nimmt, was die Gesellschaft an Parolen ausgibt. Zum Beispiel: Dass eine Frau bereit sein sollte, alles für ihr Kind zu tun. Oder, wie es der Direktor Julius Frohner III. Immer wieder betont, dass es im Grand Hotel Frohner nicht um die Auseinandersetzung mit der Realität geht, sondern um eine Pause von derselben. Das Geheimnis eines jeden grossen Hotels ist laut Direktor Frohner, dass hinter den Kulissen Hunderte Zahnräder reibungslos ineinandergreifen, ohne dass die Gäste etwas bemerken. Sie können sich ganz der Illusion der Perfektion hingeben. Angelika Moser weitet diese Illusion bloss etwas aus, nimmt ihr Kind wirklich wichtig und sich eine Pause von der Realität. Und Vea Kaiser nimmt uns als Leser wirklich ernst und erzählt eine wunderbar wahrhaftige Geschichte. Wirklich wahr.

Vea Kaiser: Fabula Rasa oder Die Königin des Grand Hotels. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 576 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-462-05234-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462052343

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Basel, 20.11.2025, Matthias Zehnder

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