Video-Buchtipp

Nächster Tipp: Die fünf besten Bücher des Jahres 2025
Letzter Tipp: Meine Zuflucht und mein Sturm

Die Stille der Höhe

Publiziert am 11. Dezember 2025 von Matthias Zehnder

Als Friedrich Nietzsche im Engadiner Dorf Sils-Maria an «Also sprach Zarathustra» arbeitete, packte ihn die Erhabenheit der Schweizer Alpen: «Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste.» Kein Zweifel: Der grosse Geist liebte die grossen Berge. Aber er liebte sie wie die meisten Dichter als Tourist, aus sicherer Entfernung. Ganz besonders gilt das für Friedrich Schiller: Er hat der Schweiz mit «Wilhelm Tell» das Alpenschauspiel schlechthin geschenkt, freilich ohne selbst je einen Fuss auf eben diese Alpen gesetzt zu haben. Die Berge spielen in den Texten dieser Dichter eine grosse Rolle – gerade daran merkt man, dass die Berge für die Dichter etwas Besonderes waren. Bei Tim Krohn ist das anders: Er lebt in diesen Bergen. Die Gipfel und die schroffen Schründe gehören so selbstverständlich zum Leben wie der Asphalt der Grossstadt bei Erich Kästner und Kurt Tucholsky. Das ist in seinem neusten Erzählungsband gut zu spüren: «Die Stille der Höhe» versammelt «Erzählungen aus den Bergen». Und um genau das handelt es sich: Es sind Erzählungen aus den Bergen, nicht über die Berge. Im Zentrum stehen bei Tim Krohn die Menschen, Touristen und Einheimische gleichermassen. Die Abgründe öffnen sich nicht in den Felsen, sondern in den Köpfen und Herzen der Menschen, die diese Berge besuchen. In meinem 285. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was mich an den Erzählungen fasziniert hat.

 

«Obwohl es erst Ende August war, wurde ihr Deux-Chevaux als letztes Auto in Andermatt auf die Passstraße gelassen, danach war der Gotthard wegen Schneefall gesperrt.» (Seite 44) Wenn eine Geschichte so beginnt, ist klar, dass sie nicht gut enden wird. Die Frage ist nur noch, welches Unglück die Insassen ereilen wird. Wird eine Lawine das kleine Auto unter sich begraben? Wird der Deux-Chevaux in einer Schlucht zerschmettert? Nicht bei Tim Krohn. In seinen Geschichten tritt das Ungemach leise auf. Bei ihm öffnen sich die Abgründe nicht in den Bergen, sondern in den Menschen.

Da ist zum Beispiel Lorenz, der Fahrer dieses Deux-Chevaux. Er will mit der siebzehnjährigen Sibylle über den Gotthard ins Malcantone fahren. Da besitzt sein Onkel eine Jagdhütte. Lorenz hat mit der Hütte als Lockvogel schon mehrfach erfolgreich Mädchen geködert. Auch Sibylle reizt die Hütte. Lorenz muss sich nicht mal Mühe geben: Sie hat schon lange beschlossen, sich von ihm entjungfern zu lassen. Wenn bloss der Schnee nicht wäre.

Einige Kilometer hinter Andermatt begann es zu schneien, gleichzeitig stieg die Straße steiler an. Ein Kontrollfahrzeug mit Warnlichtern kam ihnen entgegen und hielt kurz, der Fahrer wies Lorenz an, Ketten zu montieren. Lorenz hatte noch nie Ketten montiert, außerdem trug er zu seinen Jeans nur ein gehäkeltes griechisches Hemd, Sandalen und eine abgewetzte Cordsamt-Jacke, die nicht geschlossen werden konnte. Sibylle hatte nicht vorgehabt auszusteigen, Lorenz war aber nicht imstande, die Ketten ohne ihre Hilfe anzubringen, und sofort waren ihre Tennisschuhe durchnässt.
«Ketten, wie lächerlich, wegen der paar hundert Meter bis zur Passhöhe», spottete Lorenz, als sie wieder im Wagen saßen und er den Schlüssel drehte. Der Deux-Chevaux sprang in der Kälte bereits nicht mehr an. «Ich fürchte, du musst schieben», erklärte er. Sibylle stieg wieder aus und versuchte es, doch ihr fehlte die Kraft, einen Deux-Chevaux bergaufwärts zu schieben. (Seite 47)

Nein, bei Tim Krohn kommt es nicht zum Bergsturz und es donnert auch keine Lawine über den lästerlichen Deux-Chevaux-Fahrer. Es ist viel banaler: Sibylle kriegt kalte Füsse. Ganz wörtlich. Aus dem Unterland gesehen mögen Berge erhaben sein und schön. Wenn der weisse Firn sich rötet, packt den Städter das Alpenglühn. Wer in den Bergen lebt, der weiss: Schnee ist vor allem kalt. Und wer vor lauter Kälte mit den Zähnen klappert, findet auch die schönste Berghütte nicht mehr wirklich romantisch.

Seine «Erzählungen aus den Bergen» versammeln eine ganze Reihe solcher Momente. Da ist etwa Bibliothekarin Margrith Schmied, die seit Jahren jeden Winter nach Vals ins Hotel Therme fährt. Von da aus wandert sie seit ihrem ersten Besuch jedes Jahr hoch nach Leis. Die Beschreibung der Dohlen, die sie auf ihrer ersten Wanderung trifft, ist ein gutes Beispiel für die Kraft der Naturbeschreibungen bei Tim Krohn:

In jenem Jahr hatte in der Nacht nach ihrer Ankunft ein Föhnsturm getobt und Eis und Schnee an den unteren Hängen schmelzen lassen, doch als sie sich am Morgen auf den Weg begab, schneite es bereits wieder, und öffnete sich kurz der Himmel, stiegen die Bergdohlen auf, die an den steilen Wiesen in Grüppchen lagerten wie eine Schulklasse auf Wanderschaft, fanden sich in der Luft zu einem einzigen Ganzen, das eine Schlaufe flog oder zwei und beim Landen flirrte wie fallendes Laub, ehe der Schwarm wieder in Einzelne zerfiel. Und wie immer malte Margrith Schmied sich aus, sie steige mit den Dohlen auf, füge sich in den Schwarm und gleite als eine von ihnen den rohen, duftenden Hängen entlang, um nach der Landung weiterzumarschieren als Fräulein Schmied, die Bibliothekarin. (Seite 54f.)

Ich sehe sie plastisch vor mir, diese Bergdohlen, die wie eine Schulklasse auf Wanderschaft in Grüppchen an steilen Wiesen lagern, plötzlich abheben, sich zu einem Schwarm zusammenfinden, der, wie von unsichtbaren Fäden gesteuert, als ein fliegender Organismus über die Bergflanke schwirrt, um nach der Landung wieder in einzelne Dohlen zu zerfallen. Das ist schön beschrieben, aber nicht aus der Optik eines romantisierenden Städters, sondern mit jener Nüchternheit, die sich Bergler zu eigen machen. Tim Krohn stellt das fest, weil es halt so ist.

Aber zurück zu Margrith Schmied. Zu den Gewohnheiten der wackeren Bibliothekarin gehört es, in einer der Nächte die Bergflanke hinter dem Hotel emporzusteigen, so lange, bis sich der Weg verliert, durchfroren und glücklich wieder abzusteigen und nach kurzem Schlaf noch vor der Morgendämmerung ins dampfend heisse Bad zu steigen.

Sie fühlte bei diesen Ausflügen keine Furcht, sie hielt sich für so unscheinbar, dass niemand ihr etwas antun würde, und bergsicher war sie auch, hatte gute Schuhe und sogar, für alle Fälle, kleine klappbare Steigeisen. (Seite 55)

Gut gerüstet verlässt sie auch diesmal kurz nach Mitternacht das Hotel und steigt beschwingt über knirschenden Schnee und knackendes Eis bergan. Um die Lunge zu schonen, atmet sie so wenig wie möglich durch den Mund und denkt dabei an Hans Castorp in Thomas Manns «Zauberberg». Sie geniesst den Schneeduft, ein Wort, auf das sie bei Robert Walser gestossen ist. Sie liest gerade wieder «Geschwister Tanner».

Sie fühlte sich immer freier und kauerte schließlich gar an einem dünnen Pfad, der wohl zu einem der verstreuten Ställe führte, nieder, um zu pinkeln. Auch das, erinnerte sie, hatte sie schon früher getan, und wie jedes Jahr entdeckte sie, wie anders sie sich gleich fühlte. Wie wichtig und richtig es doch war, sich der Wildnis auszusetzen, sagte sie sich, den Körper wieder wahrzunehmen als ein Stück lebende Natur. Im Grunde war ja auch sie nur ein Tier, und viel naheliegender war es, das Geschlecht der freien Luft auszusetzen, als eingeschnürt zu sein in Kleider, in ein Leben hinter Fenstern, Mauern und Bücherregalen, eingeschnürt in all die täglichen Bemühungen, sich zu verhalten, wie es Anstand oder menschliche Gewohnheit forderten! (Seite 56f.)

Sie passiert in einem Waldstück eine Stelle mit Holzschlag – dieses Wort kennt sie, seit sie Tolstoi gelesen hat. So klettert sie, bewehrt mit Wollfäustlingen und den Worten aus ihren Büchern immer höher und fühlt sich dem Berg gegenüber gut gewappnet. Doch dann trifft sie auf ein verendendes Reh und weiss nicht weiter. Ihre romantischen Vorstellungen von den Bergen reissen ein wie Papierkulissen. In ihrer Not greift sie, Bibliothekarin, die sie ist, zu einem Buch, das sie bei sich trägt, und liest dem sterbenden Reh daraus vor.

Bezeichnenderweise handelt es sich dabei um Adalbert Stifters Novelle «Bergkristall». Stifter erzählt darin von zwei Kindern in den Bergen, die am Heiligen Abend ihre Grossmutter im Nachbardorf besuchen und auf dem Rückweg von einem heftigen Schneesturm überrascht werden. Sie suchen Schutz in einer Höhle und verbringen eine Nacht in Angst. Erst am nächsten Morgen werden die Kinder gerettet. Adalbert Stifter schildert die Berge als schöne und majestätische, aber auch gefährliche und unbarmherzige Macht. Daraus also liest die Bibliothekarin dem Reh vor. Es ist eine absurde Szene.

Obwohl die Bibliothekarin also eigentlich von der Unbarmherzigkeit der Natur weiss, ist sie völlig hilflos, als ebendiese Natur sie unbarmherzig mit einem verendenden Reh konfrontiert. Tim Krohn zeigt so mit leiser Ironie, wie die Romantisierung der Berge die Unterländer ins Unterholz führt. Er erzählt keine Geschichten über die Berge, sondern «Erzählungen aus den Bergen».

Dabei sind diese Berge keineswegs immer nur schroff und abweisend. Im Gegenteil. Als dem Trompeter Valentin Casutt die Musik abhanden kommt wie anderen Leuten ein Stock oder Hut, findet er in den Bergen wieder zu seiner Trompete. Im Hotel Therme verirrt er sich in den Maschinenraum und ist fasziniert von dem, was der da hört, von den Klängen und Rhythmen, dem kontrapunktischen Glucksen und Zischen. Adalbert Stifter rettet die Kinder in seiner Novelle in einer Schneehöhle – Tim Krohn rettet seinen Trompeter im Hotelkeller.

Um Schlag Mitternacht verschwand er wieder im Maschinenraum, am Fuß des Wassertanks legte er sich zu Boden, schlief ein und träumte sich in eine Welt, in der das Pumpen, Surren, Zischen, Gurgeln und Gestampfe den Menschen so natürlich waren wie Licht und Dunkelheit. Schließlich weckte ihn ein Klang, der nur in seinem Kopf war, er fehlte noch im Raum. Halb schlafend griff er nach der Pocket Trumpet, setzte einen Ton, ein dreigestrichenes Cis – es war tatsächlich nur der eine hohe Ton gewesen, der noch fehlte. Er spielte ihn fast eine Stunde lang und war so glücklich, als habe er soeben einen neuen Stil erschaffen. (Seite 33)

Er wird in seinem Maschinenkeller noch weitere Töne entdecken und beschwingt als Musiker neu starten. Und wir Unterländer? Wir freuen uns an den stillen Tönen bei Tim Krohn und wandern, vielleicht, das nächste Mal etwas anders auf den höchsten Berg.

Tim Krohn: Die Stille der Höhe. Erzählungen aus den Bergen. Atlantis, 192 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-7152-5051-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783715250519

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Basel, 11.12.2025, Matthias Zehnder

PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten,   abonnieren Sie meinen Newsletter. Dann erhalten Sie jede Woche:

  • den neuen Buchtipp
  • den aktuellen Sachbuchtipp
  • den Hinweis auf den Wochenkommentar
  • das aktuelle Fragebogeninterview

Nur dank Ihrer Unterstützung ist der Buchtipp möglich. Herzlichen Dank dafür!