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Die Schrecken der anderen

Publiziert am 28. August 2025 von Matthias Zehnder

Wenn zu Beginn eines Romans eine Leiche auftaucht, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass es sich um einen Krimi handelt. Eine Ermittlerin oder ein Ermittler wird sich auf Spurensuche machen, um auf den folgenden Seiten herauszufinden, wer der Mörder war. Oder die Mörderin. Nach diesem Muster beginnt auch der neue Roman von Martina Clavadetscher: Eingeschlossen im Eis des zugefrorenen Ödwilersees entdeckt ein Junge beim Schlittschuhlaufen eine Leiche – ein klassischer Krimi-Einstieg. Der schrullige Polizeiarchivar Schibig übernimmt zuerst die Bewachung des Fundorts, dann beginnt er zu ermitteln. Es mangelt nicht an Verdächtigen: der steinreiche Herr Kern, ein Club Zylinder tragender Herren, eine verrückte alte Dame. Als Leser tauchen wir ein in eine Atmosphäre des Verdachts: ein verhocktes Dorfmilieu, ein seltsamer Geheimzirkel, versteckte Gelder. Es könnte ein klassischer Kriminalroman sein in Anlehnung an Friedrich Dürrenmatt. Ist es aber nicht. Martina Clavadetscher sprengt die Grenzen des Krimis und zielt viel tiefer. In meinem 270. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ihr Roman spannend und eindrücklich ist, obwohl es darin gar nie um den Mörder geht.

 

Ödwil ist ein fiktiver Ort in der Schweiz, ein Provinznest mit einem sprechenden Namen wie Güllen im «Besuch der alten Dame» von Friedrich Dürrenmatt oder Bärenfels im «Schweizerspiegel» von Meinrad Inglin. Ödwil liegt am Ödwilersee in einem Gebiet, das Frakmont heisst – auch das ein fiktiver, sprechender Name. «Mont» steht für Berg und «Frak-» könnte auf das Kleidungsstück anspielen, den Frack. In der Geschichte spielt ein Männerverein eine Rolle, eine Mischung aus Service-Club und Geheimbund. Diese Männer tragen alle Zylinder. Die Landschaft des Frakmont könnte man also als Landschaft lesen, in der die Männer mit Zylinder die Macht haben.

Zu Beginn des Romans beschreibt Martina Clavadetscher die Landschaft. Wer genau liest, erkennt schon in diesem Abschnitt das Thema des Romans:

Aber dieses Verhängnis geschieht und es geschieht in einer Gegend, die kaum als eine offene wahrgenommen wird. Da sind die Felsen des Frakmonts, kantige Ausläufer der Alpen, da sind unebene Täler, eine vereiste Moorlandschaft, Torf. Die weitreichende Ödnis produziert giftige Gase und hartnäckige Legenden, die wie Lehmklumpen in der alten Erde schlummern. Etwas abseits davon, in einer Talmulde, liegt das ehemalige Schlachtfeld mit dem passenden Namen: Ödwilerfeld. Dahinter folgen noch mehr Felder, Landwirtschaft, unterbrochen von Dörfern, Autobahnen und Bahndämmen, dazwischen sich wiederholende Industriebauten mit Lagerhallen für Holz oder Stahl oder Kies. Und auf den Wiesen stehen gelegentlich Tiere und grasen. Der Winter ist störrisch hier. Ein frostiger Februarwind zieht durch die Moorgegend. In den Gärtnereien stehen leere Steinbrunnen und Skulpturen, vereiste Zen-Gärten oder Marmornachbildungen von griechischen Göttern. Die Grundstücke sind abgeschirmt von Lärmschutzwänden und Hecken – und überall hängen Täfelchen mit der Aufschrift: PRIVAT. (Seite 7f.)

Das sind programmatische Sätze – und eine ironisch-präzise Beschreibung der Schweiz: «Die weitreichende Ödnis produziert giftige Gase und hartnäckige Legenden, die wie Lehmklumpen in der alten Erde schlummern.» «Der Winter ist störrisch hier.» «und überall hängen Täfelchen mit der Aufschrift: PRIVAT.»

Das also ist der fiktive Ort Ödwil am Ödwilersee. Der See ist, seit vielen Jahren zum ersten Mal, zugefroren. Das Eis ist so dick, dass der See für die Öffentlichkeit freigegeben wurde: Man darf das Eis betreten oder darauf Schlittschuh fahren. Ein Junge nutzt das, skatet hinaus auf den See – und stolpert plötzlich. Eine seiner Kufen ist an einem Widerstand hängen geblieben.

Aus Wut und Neugier will er sehen, was seinen makellosen Lauf gestoppt hat. Das Hindernis ist blau und sieht aus wie das Stück einer Jeanshose. Er zerrt am Stofffetzen. Er kriegt es nicht zu fassen. Es ist zu straff gespannt. Unter dem Textil befindet sich etwas Hartes, wie gefrorenes Holz. Mit den Handschuhen wischt er den Schnee weg, putzt sich die Sicht frei – bis er genug sieht. (Seite 9)

Und erschrickt: Es ist eine Leiche, deren Hosenbeine den Lauf des Jungen gestoppt – und die Handlung des Romans in Gang gebracht haben. Das Bild dieser eingefrorenen Leiche, deren Hosenbeine aus dem Eis ragen, bringt das zentrale Motiv des Romans auf den Punkt: Es geht um verdrängte Geschichten, die kollektiv geduldet werden. Ereignisse in der Vergangenheit, die die Gesellschaft des Tals verdrängt, die sie einzufrieren versucht, die aber doch unerwartet an die Oberfläche stossen und den Lauf der Dinge stören – wie die Jeans die makellose Schlittschuh-Fahrt des Jungen.

Der Junge alarmiert die Polizei. Die lässt sich aber Zeit und bittet Polizeiarchivar Arnold Schibig, der in der Nähe wohnt, erst einmal nachzuschauen, ob da wirklich eine Leiche im Eis eingeschlossen sei. So wird Schibig in die Sache hineingezogen. Auf dem Eis trifft er Rosa, eine geheimnisvolle alte Frau, die in einem Wohnwagen am See wohnt. So werden Rosa und Schibig zufällig zum Ermittlerduo. Sie kümmern sich allerdings herzlich wenig um die Leiche, es wird rasch klar, dass es um andere, viel grössere Verbrechen geht.

Ein gedeckter Güterzug donnert Richtung Süden. Die rostbraunen Wagen kommen aus einer anderen Zeit und gehen in eine andere Zeit; sie durchstreifen Schibigs Sichtfeld, aus reiner Notwendigkeit durchstoßen sie für ein paar Sekunden Schibigs Teil der Geschichte. Die Eisenschlange zieht alles, woher sie kommt, hinter sich her und schiebt alles, wohin sie geht, vor sich her – und die geschwungenen Sprühschriften an den Wagenwänden sind die mitgebrachten Spuren einer gelangweilten Jugend von irgendwo.
Wusstest du, hört er die Alte in seinem Kopf sagen, dass während des Weltkriegs täglich fünfzig Güterwagen voll Kohle aus dem Erzgebiet Richtung Italien zu Mussolini durchs Land rasten? Täglich fünfzig Waggons, während die Menschen hier Torf aus dem Moor stachen und nichts davon wussten.
Die Spurkranzräder donnern. Der Krach ist massiv. Die Laderäume und Schiebewände rasen vorbei. Vor der Wucht des Güterzuges schließt Schibig die Augen. Der Pfeifton will nicht weggehen. Er kann kaum atmen. Erinnerungen schnüren ihm den Hals zu, das Monstrum macht ihn bewegungslos. Dulden kennt keinen Widerstand, denkt er. Deswegen ist Dulden die scheinheiligste Form von Verbrechen. (Seite 166f.)

Das ist der zentrale Punkt: Dulden ist die scheinheiligste Form des Verbrechens. Das, was da kollektiv geduldet wird, ist die Nazi-Vergangenheit der Schweiz: Martina Clavadetscher thematisiert die Verstrickungen der Schweizer Politik und Wirtschaft in die Geschäfte der Nationalsozialisten. Die Geschäfte waren mit dem Ende des Dritten Reichs keineswegs zu Ende, sie schwelten unterschwellig weiter. Die grösste Gefahr ist deshalb nicht der Tod, kein Mord und keine weiteren Leichen. Die grösste Gefahr ist das Vergessen. Die «Schrecken der Geschichte», die der Titel anspricht, sind nicht nur die der anderen. Solange wir uns der Geschichte nicht stellen und sie erinnern, könnten es auch unsere eigenen sein.

Martina Clavadetscher entwirft mit ihrer Geschichte ein Panorama der Schweiz von Dürrenmattscher Prägung. Im Zentrum stehen Arnold Schibig, der Polizeiarchivar, der alle Distanz in den Wind schiesst und sich von einer Neugier treiben lässt. Im Wohnwagen sagt Schibig zu Rosa:

Wissen Sie, ich bin den ganzen Tag um Geschehnisse herum, die vergessen wurden – und in den meisten Fällen nie mehr auftauchen, sagt Schibig leise und die Alte nickt. – Aber da auf dem Eis, da war ich plötzlich Teil der Geschichte, bevor sie zur Geschichte wird. (Seite 66)

Die alte Rosa aus dem Wohnwagen, die Schibig zu den Ermittlungen ermuntert, ist ein wunderlicher Vogel. Sie ist überzeugt, dass alles zusammenhängt. Der Tote im Eis, die Legende von den Drachen, der Güterzug, die Zylinderherren.

Eine zentrale Rolle spielt der reiche Erbe Kern, der von Sehstörungen geplagt wird. Er ist reich und mächtig, leidet aber darunter, dass er mit seiner Frau keinen Erben zeugen kann  – eine überdeutliche Metapher für die Blindheit der arrivierten Gesellschaft und die Fruchtlosigkeit des Verdrängens.

In seinem Dachgeschoss liegt in einem Spitalbett seine 100jährige Mutter. Sie ist zwar alt und krank, kontrolliert aber wie eine Spinne in ihrem Netz alles und zieht heimlich die Fäden. So koordiniert sie zum Beispiel die Aktivitäten der Zylinderherren, einem Verein, der sich im Gasthof Adler trifft und mit Geld und Spenden eine grosse Volkspartei und eine radikale Jugendgruppe unterstützt.

Die Kriminalhandlung dient nur als Einstieg, als spannungsgeladener Zugang für die Reflexion über Erinnerung, Schuld und kollektives Schweigen. Als Leser sieht man sich schnell selber gefangen in einem literarisch dicht gewobenen Text. Zuweilen ist es gar nicht so einfach, in der verschachtelten Erzählung zwischen Realität, Erinnerung und Mythen den Überblick zu behalten. Man mutiert unweigerlich selber zum Ermittler.

Die «Zylinderherren» erinnern mich an die alten, einflussreichen Vereine und Hinterzimmer-Clubs: Männer aus Politik, Wirtschaft und Kirche, die sich hinter verschlossenen Türen absprechen. Der Zylinder steht dabei für männliche Macht und Besitz: Noch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts tragen Fabrikdirektoren und Bundesräte gerne so einen schwarzen Hut. Martina Clavadetscher spielt dabei immer wieder auf versteckte Gelder an, auf NS-Vermögen, die in die Schweiz transferiert und nach 1945 jahrzehntelang verheimlicht und verschwiegen wurden.

Schön am Buch ist, dass diese Themen eben nicht dokumentarisch abgehandelt werden, sondern nur anklingen. Besonders wichtig sind dabei die Namen. Die Zylinderherren treffen sich im Gasthof Adler – da liegt der Reichsadler nicht fern. Der Name von Polizeiarchivar Schibig erinnert mich an «schäbig» und «schieben» – er heisst aber mit Vorname «Arnold». Das ist ein altdeutscher Heldenname. Seine Bedeutung: Adlerherrscher. Und noch ein Beispiel: Die Leiche im Eis entpuppt sich als Mann, der MacGuffin heisst. In der Filmtheorie ist ein MacGuffin eine Person oder ein Objekt, das die Handlung einer Geschichte vorantreibt, für die Zuschauer aber unwichtig ist. Ein MacGuffin löst etwas aus, ist aber selbst nicht der Kern der Geschichte. Populär wurde der Begriff übrigens durch Alfred Hitchcock. Er bezeichnete den MacGuffin als Gerät, das die Handlung in Gang setzt. Und genau das ist die Funktion der Leiche in der Geschichte.

Lesenswert ist der Roman übrigens nicht nur seiner Themen wegen, sondern weil er schlicht gut geschrieben ist. Ich gebe ihnen zwei Beispiele dafür.

Der Alltag wirkt wie ein Narkotikum, aus dessen Tiefen sie immer seltener hochkommen. Etwas muss passieren, denkt Kern, sonst passiert es mit ihnen. (Seite 48)

Der Alltag als Narkotikum – das ist eine dieser Stellen, die ich mir beim Lesen angestrichen habe und die mir geblieben sind. Oder hier, die Gedanken von Rosa:

Wenn Verbrechen wie hierzulande seit Jahrhunderten ununterbrochen und in Zeitlupe begangen werden, wenn der große Akt des Bösen sich in unzähligen kleinen, zögerlichen, geradezu nichtig erscheinenden Momenten vollzieht, dann wird die Menschheit getrost dabei zuschauen, ohne dahinter Schlimmes zu vermuten, ohne zu sehen, was tatsächlich geschieht – es geschieht zwar vor aller Augen, aber niemand erkennt es als das, was es wirklich ist. Eine barbarische List. (Seite 127f.)

Die Menschen schauen getrost zu, wenn sich das Böse in kleinen Schritten vollzieht. Ein Gedanke von Dürrenmattschem Format.

Martina Clavadetscher: Die Schrecken der anderen. C.H. Beck, 333 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-406-83698-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406836985

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Basel, 28.08.2025, Matthias Zehnder

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