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Letzter Tipp: Der stille Freund

Die Holländerinnen

Publiziert am 9. Oktober 2025 von Matthias Zehnder

Eine Rahmenhandlung schafft im einfachsten Fall genau das: Sie bildet einen Rahmen für Erzählungen. Scheherazade erzählt Geschichten, um ihr Leben zu retten. Das ist die Rahmenhandlung von «Tausendundeine Nacht» und gleichzeitig die Klammer für die Märchensammlung. Bei Gotthelf fällt einer Frau während einer Tauffeier auf einem Bauernhof in der frisch umgebauten Bauernstube ein alter, schwarzer Pfosten auf. Der Grossvater erzählt, was es mit dem Pfosten auf sich hat: Das ist die Geschichte der schwarzen Spinne. Gotthelf bettet seine fürchterliche Novelle in einen gottesfürchtigen Rahmen ein und verschafft ihr damit zugleich Glaubwürdigkeit. W. G. Sebald lässt in «Austerlitz» den Ich-Erzähler immer wieder einem Mann namens Austerlitz begegnen, der ihm über Jahre hinweg Fragmente seiner Lebensgeschichte erzählt. Es sind zufällige Begegnungen in Bahnhöfen, Bibliotheken und Ruinen. Sie bilden den Rahmen, in dem die Erinnerungen an Kindheit im Exil und an die Shoah Stück für Stück rekonstruiert werden. All diese Rahmenhandlungen machen das Erzählen selbst zum Thema. Nicht nur Scheherazade, auch der Grossvater bei Gotthelf und Austerlitz erzählen letztlich um ihr Leben. Das ist auch bei Dorothee Elmiger so: Ihren neuen Roman hat sie gleich mehrfach verschachtelt in eine Rahmenhandlung eingebettet. Dabei ist ein – paradoxerweise sprachlich höchst kunstvoller – Abgesang auf die Sprache als Erzählmedium entstanden, voller Bilder, Erinnerungen und Leerstellen. In meinem 276. Buchtipp sage ich Ihnen, warum mich das Buch fasziniert hat.

 

Ich wette, Sie haben in der Schule auch gelernt, dass indirekte Rede schwerfällig und eher zu vermeiden sei. Dieses Buch beweist das Gegenteil: Dorothee Elmiger erzählt fast die ganze Geschichte in indirekter Rede. Nur die Rahmenhandlung ist im Indikativ gehalten: Die Erzählerin, eine namenlose Schriftstellerin, hält in einem Hörsaal einen Vortrag über ein Ereignis, das Jahre zuvor stattgefunden hat. Sie wurde von einem renommierten Theatermacher eingeladen, an einem Stück in den Tropen mitzuwirken. Genauer: einer Expedition in einen Dschungel, um den Spuren eines ungelösten Falls nachzugehen.

Ziel der Expedition ist eine Rekonstruktion: Es geht um zwei niederländische Frauen, die in jenem Dschungel verschwunden sind, um ihre letzten Schritte und ihre Spuren. Ihr Verschwinden soll durch eine Art theatralisches Projekt rekonstituiert werden.
Damit öffnen sich vier Ebenen:

  1. In der Gegenwart tritt die Schriftstellerin ans Rednerpult und hält einen Vortrag.
  2. Im Vortrag berichtet sie über eine Expedition in den Dschungel.
  3. Bei der Expedition ging es um ein Theaterprojekt.
  4. Das Theaterprojekt handelt vom Verschwinden zweier Holländerinnen.

Kein Wunder, ist die Geschichte verschachtelt: Dorothee Elmiger erzählt Geschichten innerhalb von  Geschichten, oft in indirekter Rede, mit Rückblenden und mehreren Zeitebenen. Sie spielt mit Theater, Recherche, Erinnerung und Imagination. Ihre Sprache ist dicht und poetisch. Immer wieder sind einzelne Worte dabei kursiv gesetzt. Damit führt Elmiger eine weitere Textebene ein.

Das mag kompliziert klingen. Wenn man sich auf die Lektüre einlässt, entwickelt der Text aber einen eigentümlichen, fast schon magischen Sog. Ganz zu Beginn erzählt die Schriftstellerin, wie ihr beim Schreiben die Sprache abhanden gekommen ist:

Ihr ursprünglicher Plan sei es gewesen, einiges über die Prämissen und Methoden ihrer Arbeit zu sagen, über die Texte und Positionen, an denen sie sich orientiere, die ihr Denken im Laufe der Jahre begleitet hätten, ergänzt von einigen wenigen biografischen Anmerkungen und zwei, drei Sätzen zu ihrem Verhältnis zu den richtungsweisenden Schulen und Traditionen, um anschließend dann in ihr Werk einzuführen. Aber obwohl sie genau dies in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt getan habe und obwohl sie glaube, schreibend und sprechend durchaus eine kohärente poetische Theorie entwickelt zu haben, sei ihr nun jede einigermaßen klare Bestimmung ihrer Arbeit, jede sichere Feststellung ihr Schaffen betreffend unmöglich geworden. Tag für Tag, sagt sie, habe sie sich in den letzten Wochen vor ihren Laptop gesetzt und an diesem Vortrag gearbeitet, aber über Nacht sei ihr stets bedeutungslos geworden, was sie tags zuvor aufgeschrieben habe, und einer gespensterhaften Penelope gleich habe sie das am Vortag Gewobene immer wieder aufgetrennt. Stattdessen hätten sich ihr Bilder aufgedrängt, Hieroglyphen, unvermittelt wie Blitzlichter: Frauen mit Aschekreuzen auf der Stirn, ein Toter in der U-Bahn-Station, die Arme und Beine wie zufällig von sich geworfen, die Erinnerung an vier Reiterinnen mit verhüllten Gesichtern, die ihr im Februar vor zwei Jahren in einer abgesperrten Querstraße in New Orleans entgegengekommen seien. Auf ganz ähnliche Weise habe sich zuvor bereits ihr eigentliches Schreiben aufgelöst, eigenhändig habe sie es, wenn man so wolle, in immer kleinere Teile zerlegt: Der Text, jeder Versuch eines Textes habe sich fragmentiert, sei zunehmend formlos geworden. (Seite 9)

Mich erinnert das an den «Brief des Lord Chandos» von Hugo von Hofmannsthal. Thema des fiktiven Briefs ist die Kritik der Sprache als Ausdrucksmittel und die Suche nach einer neuen Poetik. So, wie Hofmannsthal, paradoxerweise in höchstem poetischem Ausdruck, das Abhandenkommen der Sprache beklagt, beschreibt Dorothee Elmiger in höchster sprachlicher Präzision, wie ihr die Sprache als Ausdrucksmittel abhanden kommt und ihr bedeutungslos wird. Sie schreibt:

Sie selbst zumindest habe sich den Text in den Jahren, die sie schreibend verbracht habe, nie als Rettung, sondern vielmehr als Ausdruck einer irren, gellenden Lebendigkeit gedacht, einer Gegenwart, von der sie selbst ja ganz durchschossen sei. (Seite 10)

Der Text ist also keine Rettung mehr, sondern Ausdruck der lebendigen Gegenwart. Anders gesagt: Die Sprache ist für Dorothee Elmiger nicht mehr das mediale Transportmittel für eine Botschaft, sondern pure Performance. Dorothee Elmiger schreibt also nicht, sie tanzt Sprache.

Das ist für mich der spannendste Aspekt am ganzen Buch. Ich begreife es als Antwort auf die Texte generierenden KI-Maschinen, die in stupender Geschwindigkeit formal perfekte Texte absondern, die keine Rettung mehr sind, weil sie keinen Absender mehr haben und deshalb absolut bedeutungslos sind. Sprache und Text können nur insofern überleben, als sie unmittelbarer Ausdruck eines empfindenden Selbst sind – Ausdruck einer irren, gellenden Lebendigkeit wie Dorothee Elmiger schreibt.

Diese Skepsis, erzählt die Schriftstellerin, ergreift sie nicht nur im Umgang mit der Sprache, sondern auch mit Büchern:

Als sie an jenem Abend in das Haus am Frankfurter Stadtrand, das sie zu jener Zeit bewohnt habe, zurückgekehrt sei und ihr dunkles Arbeitszimmer betreten habe, sei es ihr für einen Moment so vorgekommen, als gehörten die vom orangen Licht der Straßenlaterne beleuchteten Bücher, die Zeitschriftenstapel und leeren Wassergläser auf einmal einer weit zurückliegenden Vergangenheit an – als würde sie die Requisiten, das Schreibgerät einer anderen, einer irgendwie Verschwundenen betrachten. (Seite 13)

Dorothee Elmiger beschreibt also nicht nur das Verschwinden zweier holländischer Touristinnen, sie beschreibt den Untergang der Sprache und der Buchkultur. Das zentrale Motiv, das sich durch das Buch zieht, das Verschwinden der Holländerinnen, wird zur Chiffre für Ungewissheit und Ohnmacht. Der Dschungel wird zum Bild für das Unkontrollierbare, das Chaos und das Verhängnis.

Ein zentrales Thema ist: Wie kann man überhaupt erzählen, was geschieht? Wie viel Wahrheit lässt sich aus Erinnerung, aus Recherche oder Imagination ziehen? Die Erzählerin bleibt bewusst distanziert, erzählt im Konjunktiv und lässt vieles offen.

Dabei erweist sich nicht nur die Sprache als zu brüchig, auch Fotos erweisen sich als nutzlos. Von den Kameras der beiden Touristinnen, die in ihren Rucksäcken gefunden wurden, konnten Bilder gesichert werden. Die ersten vierzehn Bilder zeigen die beiden am Tag ihrer Wanderung. Sie haben sich abwechselnd gegenseitig am Rande kleiner Rinnsale, auf kathedralenhaften Lichtungen, neben auffälligen Gewächsen, Bäumen und einmal neben dem verrosteten Wrack eines abgestürzten Kleinflugzeugs fotografiert.

Tagelang sei danach kein einziges Bild mehr geschossen worden, die Kamera ungenutzt geblieben, bis sie dann, in der Nacht vom achten auf den neunten Tag, wieder eingeschaltet worden sei. Zwischen ein und drei Uhr morgens habe jemand in schneller Folge 91 Mal auf den Auslöser gedrückt, und es seien diese Nachtaufnahmen, die 91 kritischen Nachtbilder gewesen, denen das Interesse in erster Linie gegolten habe: User mit Namen wie – sie atmet hörbar aus – d0rky_, mandalorian210 oder DeDuitseStefan hätten sie im Zuge exzessiver, quasi forensischer Studien bearbeitet, Zeitstempel analysiert, relative Koordinaten bestimmt, mithilfe von Markierungen, von Pfeilen und Linien, ihre Thesen zu belegen versucht.

Auch der Theatermacher habe sich vornehmlich für diese bei Nacht geschossenen Bilder interessiert, aber er sei nicht müde geworden, zu betonen, dass es ihm gerade nicht um ihre Enträtselung, um eine Aufklärung, eine Lösung des Falls, im Grunde auch nicht um die Holländerinnen an und für sich gehe, sondern allein um die Bilder als Dokumente, als Überreste unserer Zeit. Das eigentliche Mysterium der Welt sei, mit Oscar Wilde gesprochen, das Sichtbare, nicht das Unsichtbare. (Seite 103f.)

Auch die Fotos taugen nicht mehr zur Dokumentation und Aufklärung. Es sind nur noch Überreste unserer Zeit. Und dann folgt ein zentraler Satz des Buchs: Das eigentliche Mysterium der Welt sei, mit Oscar Wilde gesprochen, das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.

In traditioneller Denkweise ist das Unsichtbare als das Geheimnisvolle. Gott zum Beispiel, die Seele, Ideen oder das Transzendente. Oscar Wilde dreht das um. Er sagt: Das Mysterium steckt im Sichtbaren selbst, im Alltäglichen, im Offensichtlichen. Für Oscar Wilde ist die Oberfläche nicht trivial, sondern bedeutungstragend. Schönheit, Erscheinung und Form sind keine Masken, die man abstreifen müsste, um zu einer tieferen Wahrheit gelangen zu können. Für Oscar Wilde sind sie die Wahrheit.

Damit stellt Oscar Wilde die Idee eines tieferen Sinns infrage: Für ihn ist das Sichtbare nicht bloss Schein, sondern trägt das Rätselhafte in sich. Wir neigen dazu, Geheimnisse im Verborgenen zu suchen. Wilde sagt: das wirklich Unbegreifliche liegt direkt vor uns. Das Sichtbare ist zu komplex und zu reich, um es ganz durchdringen zu können. Im Vorwort zu «Das Bildnis des Dorian Gray» schreibt er: «Alle Kunst ist Oberfläche und Symbol zugleich.» Und: «In Wahrheit spiegelt die Kunst nicht das Leben, sondern den Betrachter.»

Wer als Künstler zur Rettung antritt, überschätzt sich deshalb masslos. Die Hybris des Künstlers führt Dorothee Elmiger am Theatermacher vor, der mich an Werner Herzog und seinen Film «Fitzcarraldo» erinnert hat. Wer Kunst als Macht versteht, kann nur scheitern. Dorothee Elmiger führt genau das in ihrer Erzählung vor: Eigentlich handelt sie nicht von den holländischen Touristinnen, sondern vom Erzählen – oder besser: vom Lesen. Das Thema ist die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, das Scheitern und Verschwinden des Erzählens. Das ist anspruchsvoll zu lesen, aber – das ist, wie beim Chandos-Brief, das Paradoxe daran – ein sprachlicher Hochgenuss.

Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. Roman. Hanser, 160 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-446-28298-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446282988

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Basel, 09.10.2025, Matthias Zehnder

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