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Die Frau der Stunde
Historische Romane sind eine ganz spezielle Textsorte. Sie basieren einerseits auf historischen Daten und Fakten, füllen andererseits aber die Lücken mit Phantasie. Zwischen diesen beiden Polen, also den historischen Fakten und der Phantasie, öffnet sich eine weite Skala. Es gibt Romane, die sich sehr eng den Fakten entlang bewegen. Ich denke zum Beispiel an den letzten Roman von Robert Harris: In «Abgrund» verwendet er die 560 Briefe, die der britische Premierminister Herbert Henry Asquith 1916 seiner Geliebten Venetia Stanley schrieb. Erfunden hat Robert Harris «nur» die Antworten. Am anderen Ende der Skala zwischen Fakten und Phantasie kann man seinen Roman «Fatherland» verorten: Es ist ein Thriller, der in einem Nazideutschland spielt, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat. Harris lässt die Weltgeschichte 1942 eine komplett andere Wendung nehmen. Heike Specht greift in ihrem neuen Roman nicht ganz so stark in die Historie ein. In ihrer Geschichte muss 1978 der deutsche Aussenminister, ein Mann der FDP, zurücktreten. An seine Stelle rückt Catharina Cornelius, eine Frau. Der FDP-Mann hofft wohl, dass Catharina im nur den Sessel warm hält. Doch die läuft zu Höchstform auf und mutiert, wie der Titel des Romans es sagt, zur «Frau der Stunde». In meinem 279. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum der Roman nicht nur ein nettes Gedankenspiel und eine spannende Geschichte ist, sondern erschreckend viel über unsere Gegenwart sagt.
Wir schreiben das Jahr 1978. In Bonn regiert Helmut Schmidt von der SPD als Bundeskanzler die BRD. Sein Aussenminister und Vizekanzler ist Hans-Dietrich Genscher von der FDP. Er ist gleichzeitig auch Bundesvorsitzender der FDP. Es sind unruhige Zeiten. In Italien wird Aldo Moro wird von den Brigate Rosse entführt und ermordet. Bretonische Separatisten verüben einen Sprengstoffanschlag auf das Schloss von Versailles. Anwar as-Sadat, Jimmy Carter und Menachem Begin reichen sich in Camp David die Hände. In Rom wird ein junger, attraktiver Pole zum Papst gewählt, in Bayern Franz-Josef Strauss zum Ministerpräsidenten und im Iran demonstrieren die Menschen gegen Schah Reza Pahlavi.
Heike Specht greift ganz leicht in diese Realität ein und lässt die Geschichte dann in einem einzigen Punkt eine andere Wendung nehmen. In ihrem Buch heisst der Kanzler (übrigens wie in den Romanen von Marc Raabe) Westphal und der Aussenminister Helmut Busch. Dieser Busch hat nicht nur jene eine Affäre zu viel, die seine Frau dazu bringt, die Scheidung einzureichen, er hatte seine Affäre auch noch monatelang als angebliche Hilfskraft in seinem Abgeordnetenbüro auf der Gehaltsliste des Bundes. Busch muss zurücktreten und damit droht die Koalition zwischen FDP und SPD in die Luft fliegen. Es sei denn, Helmut Busch zaubere eine smarte Lösung aus der Hosentasche.
Und das macht er: Seine Lösung heisst Catharina Cornelius. Gross, elegant – und klug. Und: eine Frau. Helmut Busch schlägt ihr vor, sie solle an seine Stelle rücken und das Aussenministerium übernehmen. Und das bedeutet 1978: Catharina soll die erste Aussenministerin und die erste Vizekanzlerin Deutschlands werden. Als sie das ihrer Freundin erzählt, der belgischen Journalistin Suzanne, ist Catharina voller Zweifel. Suzanne aber prostet ihr nur zu und lächelt.
«Du meinst also, ich soll das machen?» Catharinas Stimme geriet ungewollt hoch und etwas schrill, wie sie das manchmal tat, wenn Catharina erregt war. Kein Segen übrigens für eine Politikerin. Catharina beneidete ihre Mentorin Hilde von Rochow, die auch dank eines lebenslangen täglichen Zigarettenkonsums im zweistelligen Bereich eine tiefe raue Stimme hatte, die jeden Raum erfüllte und mühelos alle anderen auf ihre Plätze verwies. Catharina war selbst passionierte Raucherin, aber auch das hatte ihre Stimme nicht sonorer gemacht. Und auf dringenden Rat ihrer Ärztin versuchte sie seit Wochen, sich die Sucht abzugewöhnen, was allerdings bislang kaum von Erfolg gekrönt war. Sie schob es abwechselnd auf den Stress, die Opposition, Helmut Busch, Gregor und die Weltlage.
«Natürlich machst du das«, sagte Suzanne und nahm einen weiteren Schluck Wein. «Das ist deine Chance, Catharina. Unsere Chance.»
«Aber wie soll das gehen?» Catharina vergaß für einen Moment, dass sie ein kleines Vermögen für ihre taubenblaue Seidenhose ausgegeben hatte, und wischte die von den Erdnüssen salzig-fettigen Hände daran ab.
«So, wie es bei den Typen seit Jahr und Tag geht. Du greifst dir den Posten und bist am Zug», sagte Suzanne. Die Freundin brauchte Zuspruch, das merkte sie wohl, aber mehr als alles andere brauchte Catharina Cornelius jetzt einen kräftigen Tritt in den Hintern. Suzanne erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl und ging auf Catharina zu. «Hör mir zu. In Indien gab es schon eine Premierministerin, in Israel auch. Warum, um Himmels willen, soll es in der Bundesrepublik keine Außenministerin geben?»
«Bonn ist nicht Neu-Delhi und auch nicht Tel Aviv, das muss ich dir doch nicht erklären. Und wenn ich mich darauf einlasse und die Fraktion geht nicht mit, dann ist meine Karriere am Ende.» (Seite 53f.)
Nein, Bonn ist nicht Neu-Dehli oder Tel Aviv, Deutschland ist nicht Uganda, Botswana, Kirgistan, Argentinien oder Haiti. Alles Länder, die ihre Aussenpolitik viele Jahre vor der Bundesrepublik Deutschland einer Frau anvertrauten. Selbst die gute, alte Schweiz hatte fast 20 Jahre vor Deutschland eine Aussenministerin. In Deutschland sollte es weitere 43 Jahre dauern, bis mit Annalena Baerbock die erste Frau als Chefin ins Auswärtige Amt einzog. Heike Specht erzählt also eine fiktive Geschichte, die aber in die Realität eingebettet ist.
Diese Realität ist im Jahr 1978 für Frauen garstig. Ganz besonders für Frauen wie Catharina, die nicht dem Rollenbild der Frau entsprechen: Sie ist nicht verheiratet, hat keine Familie, kann nicht kochen und will keinen Haushalt führen. Freund Arno, ein Fernsehmoderator, der ebenso liebenswert wie schwul ist, warnt sie deshalb.
«Ich glaube an die Entwicklungsfähigkeit der deutschen Wähler. Das tue ich wirklich. Aber tatsächlich lässt sich nicht daran rütteln, dass dein Privatleben nicht jenem einer Mehrheit der Bevölkerung entspricht. Du hast nie jemandem die Hemden aufgebügelt oder die Socken gestopft.»
«Arno!», rief Catharina. «Wir leben im Jahr 1978.»
«Ich weiß und ich sage das auch ohne jeden Vorwurf.» Er lachte glucksend und rückte seinen Stuhl näher an Catharina heran. «Ich meine nur, dass du das auf dem Schirm haben musst. Ich sage nicht, heirate Theo. Ich sage nur, überlege dir gut, als welche Art Politikerin und Frau die Menschen dich sehen sollen. Bedenke, dass einige, vor allem Männer, die Tatsache, dass du nicht verheiratet bist und nie warst, irritierend finden. Und rechne immer damit, dass deine Feinde das, ohne mit der Wimper zu zucken, gegen dich verwenden werden.»
«Puh!» Catharina stützte ihren vom Rotwein schwer gewordenen Kopf in die Hände, ihr Chignon hatte sich schon vor Stunden aufgelöst, die langen braunen Haare fielen ihr in Wellen über die Schulter. «Von dir hätte ich eine solche Gardinenpredigt am wenigsten erwartet, Arno.»
«Ich weiß. Aber ich weiß auch, dass du mich für meine Offenheit liebst.» Er schob sich eine Traube in den Mund und lächelte sein charmantestes Lächeln. «Außerdem kennt keiner deiner Freunde die Showbranche so gut wie ich. Und am Ende funktioniert Politik doch nicht viel anders, oder?» (Seite 115)
Heike Specht erzählt die Geschichte der Aussenministerin Deutschlands anhand der Geschichten von drei Frauen, drei Freundinnen. Neben Catharina sind das die belgische Journalistin Suzanne und die iranische Filmemacherin Azadeh. Die drei haben sich als Schülerinnen in einem Internat in der Schweiz kennengelernt und sind seither beste Freundinnen, obwohl (oder vielleicht auch weil) sie so unterschiedlich sind. Die drei Figuren ermöglichen es Heike Specht auch, die Situation von Frauen 1978 aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen. Suzanne ist verheiratet und hat Kinder. Trotzdem versucht sie berufstätig zu sein – eine Herausforderung. Azadeh ist Dokumentarfilmerin und engagiert sich in ihrer Heimat für die Rechte der Frauen und gegen Schah Reza Pahlavi.
Sie bringt sich damit in Gefahr und Freundin Catharina in Gewissenskonflikte. Denn im Iran braut sich eine Revolution zusammen. Die Menschen, vor allem die Frauen, gehen auf die Strasse und demonstrieren. Schliesslich ergreift der Schah die Flucht und ein Geistlicher greift nach der Macht: Ajatollah Khomeini.
Die Beflissenheit, mit der die französischen, italienischen, englischen, amerikanischen und deutschen Journalisten seinen Worten lauschten, stieß Catharina ab. Die Gier nach Sensation, nach Budenzauber, nach einer merkwürdig neuen und gleichzeitig uralten Form von Männlichkeit war ihr zuwider. Gregor hatte ihr vor ein paar Tagen aufgeregt berichtet, dass Frederik Lamberty angeblich ganz kurz davor sei, ein exklusives Interview mit dem Ajatollah zu ergattern. Catharina konnte sich lebhaft vorstellen, welchen Auftrieb es dem ehrgeizigen Lamberty geben würde, wenn er als einzig Auserwählter mit wichtiger Miene dem Ajatollah lauschen durfte und anschließend in jeder Talkrunde der westlichen Hemisphäre von dieser «Sternstunde des Journalismus» berichten konnte. ‹Lamberty erklärt, wie Ajatollah Khomeini tickt.›
Dieser weißbärtige Mann mit dem Turban und dem entschlossenen Blick jagte Catharina einen Schauer über den Rücken. Der Kanzler vertrat die Meinung, dass die Mullahs gar nicht in der Lage waren zu regieren. ‹Die interessieren sich doch nur für ihre Schriften, den Koran und so weiter. Die können doch kein Land führen.› Aber Catharina fragte sich, ob das nicht wieder ein Fall von fehlender Fantasie war. (Seite 193)
Die Passage zeigt auch, wie Heike Specht die Männer ins Visier nimmt: Der Bundeskanzler hat zu wenig Phantasie, der narzisstische Star-Journalist giert nach Sprechzeit in den Talkrunden und die Reporter jagen nur der nächsten Sensation nach. Bloss für die Menschen interessiert sich niemand, schon gar nicht für die Frauen. Und die erleben nach dem Sturz des Schahs im Iran die grosse Enttäuschung: Statt Teil des Aufbruchs zu sein, werden sie von den religiösen Fanatikern unter den Schleier gezwungen und weggesperrt. Catharina ist entsetzt. Nicht nur als Freundin von Azadeh, die persönlich darunter leidet und deren Familie aus dem Land flüchten muss, sondern auch als Aussenministerin. Sie bringt das Thema im Bundestag zu Sprache.
«Wir hier in der Bundesrepublik betrachten die Welt mit der Brille des Ost-West-Konfliktes», entgegnete ihm Catharina und drückte den Rücken durch. «Und tatsächlich liegt der Iran am Schnittpunkt des Kalten Krieges. Aber worauf ich hier ausdrücklich auch hinweisen möchte, ist die Tatsache, dass wir die Kräfte, die sich in Teheran anschicken, die Macht zu übernehmen, nicht kennen. Wir wissen nicht genau, was Khomeini will, wir wissen nicht genau, was der neue Premierminister will. Und wir müssen die Augen offen halten, auch im Hinblick auf die Lage der Menschenrechte, von einigen Frauengruppen haben wir beispielsweise gehört …»
«Jetzt kommt sie mit den Frauen, du lieber Himmel!», rief ein Hinterbänkler der bayerischen Konservativen und einige Herren begannen, höhnisch zu lachen. Der Geräuschpegel stieg ebenso schnell, wie die Qualität der Zwischenrufe sank.
«Liebe Frau Dr. Cornelius», setzte Willig an und blinzelte sie mit seinen kleinen dunklen Äuglein an. «Menschenrechte sind sicher wichtig, aber wir sind eine große Industrienation, unsere Fabriken brauchen Energie, unsere Unternehmen benötigen Aufträge, unsere Arbeiter wollen Arbeit.» Die konservative Fraktion klatschte tosend Beifall. (Seite 263)
Es kommt zu garstigen Zwischenrufen im Bundestag, die sich gegen Catharina als Frau richten. Mann zweifelt ihre Kompetenz an. Sie habe sich «nach oben geschlafen». Catharina erstarrt – und wir erstarren mit ihr. Von dieser misogynen Arroganz der Männer zu lesen, ist zuweilen (auch und gerade als Mann) schwer erträglich. Wie sie mit den Frauen umspringen, ist kaum auszuhalten – und zwar nicht nur in Teheran, sondern auch in Brüssel und in Bonn. Heike Specht schafft es, dass wir uns beim Lesen richtig echauffieren.
Möglich ist das auch deshalb, weil der Roman ja weit weg von der Gegenwart im Jahr 1978 spielt. Und dann schalten wir den Fernseher ein und sehen genau solche Männer, wie sie Heike Specht in ihrem Buch karikiert und hören genau jene Argumente, über die wir uns soeben aufgeregt haben. Im Iran werden Frauen immer noch unterdrückt, in der Politik müssen sie sich immer noch gegen hämische Männer durchsetzen und wie war das nochmal mit den Menschenrechten? «Liebe Frau Dr. Cornelius, Menschenrechte sind sicher wichtig, aber wir sind eine große Industrienation …»
Mit dem Trick der historischen Fiktion schafft Heike Specht eine Distanz zwischen uns und dem geschilderten Geschehen, die es uns ermöglicht, ehrlich moralisch zu reagieren. Das öffnet eine Kluft zur Gegenwart und wir merken: Im Grunde sind die Männer, um Erich Kästner zu zitieren, noch immer dieselben alten Affen.
Darüber hinaus und zur Hauptsache ist der Roman von Heike Specht eine spannende Geschichte über drei starke Frauen in den 70er-Jahren. Der einzige Makel: Sympathische Männerfiguren sind rar. Ich vermute allerdings, dass das kein Makel des Romans ist, sondern der Realität.
Heike Specht: Die Frau der Stunde. Roman. Droemer, 352 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-426-56513-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783426565131
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 30.10.2025, Matthias Zehnder
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