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Die Auferstehung
Michael Ende hat einmal gefragt: «Was tun die Personen in einem Buch, wenn es niemand liest?» Nachzulesen ist die Frage in seinem wunderbaren «Zettelkasten»-Buch. Man könnte die Frage ergänzen: Was tun die Personen, wenn die Geschichte zu Ende ist? Ganz besonders gilt das für die Heldinnen und Helden von Jugendbüchern. Sind Hanni und Nanni mittlerweile erwachsen? Was wohl George, Ju, Dick, Anne und Tim heute machen? Wenn Sie in meinem Alter sind, wissen Sie sicher, dass das Figuren von Enid Blyton sind. Vielleicht kennen Sie dann auch Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews, die drei jugendlichen Detektive der Serie «Die drei Fragezeichen». In den USA umfasste die Serie bis 1990 knapp sechzig Bände von elf verschiedenen Autoren. Auf deutsch wird die Serie seit 1993 selbstständig weitergeführt. Bisher sind über 230 Bücher erschienen! In allen Bänden sind Justus, Peter und Bob so jugendlich wie eh und je. Nur wir Leser sind älter geworden – und fragen uns unweigerlich, was wohl aus den drei Fragezeichen geworden wäre, wenn sie in unserem Alter wären. Diese Frage hat Andreas Eschbach jetzt beantwortet: In «Die Auferstehung» erzählt er eine Geschichte, in der die drei Jungs Mitte Fünfzig sind. «Ja», sagt Peter im Buch, «wir werden alt. Sogar wir.» In meinem 274. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was mich an dieser Geschichte über das Älterwerden interessiert hat.
Justus Jonas ist Mitte fünfzig, stämmig, mit leicht gelockten, dunklen Haaren und ersten grauen Strähnen. «Sein dünner Kinnbart ließ ihn aussehen wie einen alt gewordenen Piratenkapitän», beschreibt Andreas Eschbach den ersten der drei Detektive. Justus lebt noch immer auf dem Schrottplatz. Seine Mission: Geräte reparieren, damit sie nicht auf dem Müll landen. Der Schrottplatz sieht in etwa aus wie früher. Selbst Tante Mathilda gibt es noch. Sie ist jetzt fast neunzig Jahre alt und nicht mehr gut zu Fuss. Aber es ist immer noch aussichtslos, sich ihr zu widersetzen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.
Nach dem Tod von Onkel Titus war es ihr ein paar Jahre lang schlecht gegangen, und eine Weile hatte es so ausgesehen, als wolle sie ihm schnellstmöglich folgen. Doch dann hatte sie sich berappelt und war nun, abgesehen davon, dass ihr einst grauer Pagenkopf schneeweiß geworden war, wieder ganz die Alte. Gut, sie saß öfter und länger in ihrem gusseisernen Gartenstuhl auf der Terrasse als früher, trank den Kaffee dünner und brauchte eine Brille zum Lesen, aber auf ihren Sinn fürs Kaufmännische war noch immer Verlass. (Seite 28)
Wenn Sie als Kind zu den Leserinnen und Lesern der drei Fragezeichen gehört haben, lächeln sie unwillkürlich über das Bild von Tante Mathilda auf dem Schrottplatz. Trotzdem kann man sich fragen, was das soll: Ein gestandener Autor erzählt eine Geschichte über die Helden einer Jugendbuchserie, die jetzt Mitte Fünfzig sind. Als Mann, der selber die Mitte Fünfzig schon überschritten hat, sage ich Ihnen: Das ist spannend, weil sich das Buch nur vordergründig um eine neue Detektivgeschichte dreht. Im Kern ist es eine Geschichte über Identität und das Älterwerden und die Frage, was mit der Zukunft passiert, wenn sie plötzlich Vergangenheit ist.
Justus, Peter und Bob haben sich auseinandergelebt. Ein Grund dafür ist eine Liebesgeschichte, die in einem schrecklichen Unfall endete. Peter arbeitet mittlerweile bei Google im Google-Maps-Team, Bob ist Literaturagent und immer auf der Suche nach Prominenten, mit denen er ein Buch machen kann. Peter und Bob haben noch sporadisch Kontakt, mit Justus haben beide seit dreissig Jahren nicht mehr gesprochen. Peter erinnert sich:
Mann, wie lange war das her, dass Bob und er sich gesehen hatten? Drei Jahre mindestens. Wenn nicht vier. Noch länger, seit er Bob und Abigail daheim besucht hatte. Obwohl er sich dort immer wohlgefühlt hatte. Abigail war eine überaus sympathische Gastgeberin. Aber Los Angeles, das hieß fünf Stunden Fahrt, Minimum. Und es gab so wenig, was ihn dorthin zog. Das erste Mal zusammen hatte er die beiden bei der Taufe ihrer Tochter gesehen, Carolyn. Es kam ihm vor, als sei das gestern gewesen, dabei musste das Mädchen inzwischen … Er rechnete nach, erschrak: sechsundzwanzig? Meine Güte, wie die Zeit verging. Solange man jung war, glaubte man, eine Ewigkeit liege vor einem, in der man alle Möglichkeiten hatte. Tja, aber so war es nicht. So ein Leben war schneller vorbei, als man es sich vorstellen konnte. Und wer, dachte Peter, wüsste das besser als ich? (Seite 45f.)
Peter und Bob treffen sich nach langem wieder einmal zum Essen. Peter findet, Bob sehe noch genau so, wie er ihn in Erinnerung hat: immer noch schlank, das Haar immer noch strohblond und kräftig – nur die Brille ist neu. Später schüttelt Bob den Kopf darüber, wie die Zeit verfliegt: «Heute muss ich jeden Tag damit rechnen, Grossvater zu werden», sagt er. «Unglaublich, oder?» «Ja», sagt Peter. «Wir werden alt. Sogar wir.»
Das ist ein Gefühl, das ich nur zu gut kenne. Natürlich wissen wir alle, dass wir älter werden. Und trotzdem wird das Gefühl beim Blick in den Spiegel immer befremdlicher, weil man sich innendrin nie so alt fühlt wie der Mann im Spiegel aussieht. Wie sagt es Peter: Solange man jung ist, glaubt man, eine Ewigkeit liege vor einem, in der man alle Möglichkeiten hat. Aber so ist es nicht: So ein Leben ist schneller vorbei, als man glaubt.
Äusserlich wenigstens. Innendrin sind wir ja immer noch dieselben und schauen befremdet in den Spiegel. Ganz besonders gilt das, wenn wir an die Geschichten aus Kindheit und Jugend denken: Wir waren damals so alt wie Justus, Bob und Peter – und wenn wir heute ein Drei-Fragezeichen-Buch zur Hand nehmen, sind wir wieder Kind. Umso schockierender ist es, Justus, Bob und Peter im Alter von Mitte Fünfzig zu begegnen.
Im Laufe der Geschichte raufen die drei sich wieder zusammen und lösen, fast wie früher, ein Rätsel. Dabei geht es um eine junge Frau, die vor sieben Jahren im Dschungel des Amazonas verschollen ist. Die Frau wurde für tot erklärt, eine Schlammlawine hatte damals ein Forschungscamp fast ganz vernichtet. Jetzt, sieben Jahre später, ist die Frau aus dem Dschungel aufgetaucht. Darauf spielt der Titel des Buchs an: Ist es eine fabelhafte Auferstehung oder steckt ein Betrug dahinter? Die drei Fragezeichen raufen sich für die Ermittlung zusammen, weil es sich bei der jungen Frau um die Enkelin von Albert Hitfield handelt. Fans der drei Fragezeichen ist Hitfield ein Begriff: Er ist Krimischriftsteller und war Freund und Mentor der drei jugendlichen Detektive – und indirekt der Nachfolger von Alfred Hitchcock in den Geschichten. Der Fall knüpft also direkt an die Vergangenheit der drei an und ist durchaus spannend.
Er ist aber nicht der Grund, warum ich Ihnen das Buch ans Herz lege. Der spannende Punkt ist die Sache mit dem Älterwerden. Das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Die drei ehemaligen Detektive beschäftigen sich dabei nicht nur mit ihrem eigenen Alter. Peter versucht mit Hilfe von Google-Tools herauszufinden, wie das Gesicht der verschollenen jungen Frau sieben Jahre nach ihrem Verschwinden aussehen könnte. Und Justus hat sich auf seinem Schrottplatz sogar zu einem eigenwilligen Retter alter Dinge entwickelt.
Am Ende überwinden die drei alle Schwierigkeiten und Distanzen und treffen sich auf dem Schrottplatz von Justus wieder.
Später, am Nachmittag, standen sie zum ersten Mal seit über drei Jahrzehnten wieder alle drei auf dem Schrottplatz des Gebrauchtwarencenters Jonas. Und es war, als sei keine Zeit vergangen, dachte Bob. Peter tat sich schwer mit seinen Krücken und dem Fuß in Gips, musste schauen, wohin er trat, um in dem Durcheinander nicht zu stolpern. Justus stand ein wenig abseits und telefonierte, oder besser gesagt, hörte zu, was ihm jemand über den Hörer seines winzigen alten Mobiltelefons erzählte.
Aber sie waren wieder da, alle drei. Irgendwie toll, fand Bob. Die Sonne schien hell vom Himmel, doch man spürte, dass der Herbst nahte. Silberne Mücken schwirrten in der Luft, hoch über ihren Köpfen, als ginge es ihnen darum, sich noch einmal in den Sonnenstrahlen zu wärmen. Von weiter vorn hörte man, wie jemand auf Metall herumhämmerte. Es waren die beiden Helfer von Justus, die nicht mehr Patrick und Kenneth O’Ryan hießen wie damals.
Es war eben doch Zeit vergangen. (Seite 413)
…
«Diese auffallende Parallelität», warf Justus ein, «sollte uns nicht zu der Annahme verleiten, dass dieser Fall deswegen zwangsläufig unser letzter gewesen sein muss. Nirgendwo steht geschrieben, dass alte Leute keine Kriminalfälle mehr lösen dürfen.»
«Ganz im Gegenteil», pflichtete Bob ihm bei. «Denkt an Miss Marple. An Hercule Poirot. Die sind bekanntlich alle mit dem Alter immer besser geworden.»
«Du weißt aber schon, dass das nur literarische Figuren sind, Herr Literaturagent?», fragte Peter spöttisch.
Bob zuckte mit den Schultern. «Na und? Deswegen taugen sie trotzdem als Vorbilder.» (Seite 440)
Genau das ist der Punkt: Auch literarische Figuren sind Teil unseres Lebens. Deshalb ist es schön, zu erfahren, was sie erlebt haben, nachdem das letzte Buch zu Ende war. Und als Vorbilder taugen sie nicht trotzdem, sondern weil sie literarische Figuren sind.
Andreas Eschbach: Die Auferstehung. Kosmos, 448 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-440-17974-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783440179741
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 25.09.2025, Matthias Zehnder
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