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Letzter Tipp: Die Schrecken der anderen
Die Assistentin
Schon mit ihrem ersten Roman war extrem erfolgreich: «22 Bahnen» erzählt von den Schwestern Tilda und Ida, die mit einer alkoholkranken Mutter aufwachsen. Die 22 Bahnen, die Tilda im Hallenbad schwimmt, werden zur Metapher für Ausdauer und Überleben. Mit «Windstärke 17» knüpfte Wahl nahtlos an: Diesmal steht Ida im Zentrum: Sie flieht nach dem Tod der Mutter auf die Insel Rügen. Diesmal spiegeln die Natur, Meer und Wind ihre innere Entwicklung. Beide Romane standen monatelang auf der Bestsellerliste des «Spiegel» – und das machte das deutschsprachige Feuilleton natürlich misstrauisch. Und jetzt wurde «22 Bahnen» auch noch verfilmt. Entsprechend skeptisch nahmen die Kulturredaktionen den dritten Roman von Caroline Wahl auf: «Die Assistentin» dreht sich nicht mehr um Tilda und Ida, diesmal geht es um Charlotte, die unschwer als Alter Ego der Autorin erkennbar ist. Sie soll damit ihre Zeit als Verlagsassistentin beim Diogenes Verlag in Zürich verarbeiten: Caroline Wahl hat als Assistentin von Verleger Philipp Keel gearbeitet und diese Zeit als «Kackzeit» bezeichnet. Ist das nun ein Rache-Roman? Mir ist das, ehrlich gesagt, egal. Mich hat die Geschichte fasziniert und ich habe herauszufinden versucht, was den Sog der Erzählweise ausmacht. Das und mehr sage ich Ihnen diese Woche in meinem 271. Buchtipp.
Charlotte Scharf (mit «r») ist Mitte zwanzig, hochqualifiziert und noch stärker motiviert. Trotzdem ist sie in einer Rolle gefangen, die sie klein hält: sie ist die persönliche Assistentin eines egozentrischen Verlegers in München. Charlotte sagt im Rückblick, dass sie in eine düstere Variante von «Der Teufel trägt Prada» geraten sei. Im Film spielt Anne Hathaway Universitätsabgängerin Andy, die als Assistentin der eiskalten und extrem anspruchsvollen Chefredakteurin einer Modezeitschrift arbeitet. Die kalte Chefin wird im Film gespielt von Meryl Streep.
Charlotte steht im Dienst von Ugo Maise, einem ebenso narzisstischen wie inkompetenten Verleger. Der Mann hat einen riesigen Verschleiss an Assistentinnen. Er hat kaum erfüllbare Ansprüche an seine Mitarbeiterinnen und spornt sie zu Höchstleistungen an, beurteilt aber ihre Arbeit nicht fair, sondern launisch, emotional und oft auch entwürdigend. So hat er jeder seiner Assistentinnen ein Frucht-Emoji zugeordnet. Anstehende Aufgaben markiert er mit den Emojis und teilt sie so zu. Charlotte hat die Erdbeere – Kollegin Jeanne hatte weniger Glück: Sie ist die Kartoffel.
Charlotte macht das nichts aus. Hauptsache, sie hat es in den Verlag geschafft, ein renommiertes Verlagshaus in München. Denn Charlotte will nach oben. «Da bist du ganz oben», sagt ihr Vater. «Da bist du ganz oben», sagt ihre Mutter, die immer sagt, was der Vater sagt. Nur um das, was die Tochter sagt, kümmern sie sich nicht.
Und so sieht Charlottes Privat- und Innenleben in etwa aus: Sie stempelt sich ein, stempelt sich aus, fährt abends in diese Wohnung, isst, schaut irgendeinen Scheiß, schläft, rennt, fährt in den Verlag und stempelt sich wieder ein. Wobei sie sich mit der Zeit immer später ausstempeln und immer schlechter schlafen wird. Sie wird den Haarausfall registrieren, den kalten Nachtschweiß, das Zucken der Augen, das Surren im Ohr. Aber Charlotte wird gar nicht richtig mitkriegen, wie es bergab mit ihr geht, so beschäftigt wird sie mit dem Verleger sein.
Aber so weit ist es ja Anfang September noch nicht. Die Haare sind noch alle da, die Nächte noch trocken, kein Augenzucken, kein Ohrensurren, noch geht es Charlotte relativ gut. Es ist ja auch noch Sommer.
Und vor allem: Sie hat das Musikmachen wieder so richtig für sich entdeckt. Zum Glück. Also: Sie stempelt sich ein, stempelt sich aus, fährt abends in diese Wohnung, isst, schaut irgendeinen Scheiß, schläft, rennt und stempelt sich wieder ein. Und sie macht Musik. Vor allem am Wochenende, aber auch jeden Abend zwischen Essen und Schlafen, und manchmal, wenn ihr während der Arbeit ein guter Gedanke kommt, schickt sie sich selbst eine E-Mail mit dem guten Gedanken. Abends, wenn sie dann wieder an ihrem MacBook und Keyboard sitzt, freut sie sich über die Mail von sich selbst und lässt die Gedanken mit der Musik fließen.
Charlotte drückt die Zigarette aus, steckt die Airpods ins Airpodcase, öffnet die Tür in den Verlag und stempelt sich ein. (Seite 132f.)
Der Verleger zieht sie immer stärker rein in seine Welt. In einem Kauderwelsch aus Deutsch, Französisch und Englisch lobt er Charlotte in den siebten Himmel. «Good Job. Ich danke Ihnen. Bon weekend!», «Merci bien für all Ihre gute Hilfe», «Sie machen übrigens alles prima» und «Merci beaucoup». «Thanks a lot, liebe Frau Scharf» oder «C’est fanta! Danke, danke». Nur um wenig später über sie herzufallen. Nicht mit eigentlichen Schimpftiraden, sondern mit spitzen Bemerkungen, «das haben wir doch abgemacht Frau Scharf, pas vrais?!» In einem Moment lobt er sie mit Worten wie «You are the best!», nur um ihr im nächsten Moment mit einem scharfen «Zut!!!» in die Parade zu fahren.
Charlotte lernt einzustecken. Denn wenn sie sich verteidigt, wird alles nur viel schlimmer. Es ist eine emotionale Achterbahn. Wenn sie Lob bekommt, verspürt Charlotte Glücksgefühle und dabei ist ihr bewusst, dass dieses Glück sehr fragil ist und der Verleger jederzeit verbal zuschlagen kann. Sie schwankt ständig zwischen Lob, Zufriedenheit und Euphorie und Unzufriedenheit, Nichtachtung und Wut. Das setzt ihr zu.
Zumal der Verleger es nicht bei der Arbeit in seinem Büro belässt. Er nimmt Charlotte mit zu geschäftlichen Terminen und ruft sie auch zu sich nach Hause: Im Untergeschoss seiner Villa hat er ein Büro. Er findet, dass sie da ungestört arbeiten können – sie fühlt sich ihm dabei ausgeliefert. Dabei zeichnet Caroline Wahl ihre Protagonistin nicht einfach als Opfer. Charlotte geniesst es durchaus, von dem mächtigen Mann fast schon umworben zu werden und ihn begleiten zu können.
Später fuhr er sie mit seinem Sportwagen, einem alten Aston Martin oder so, zurück zum Verlag. Er fuhr sehr schnell, und Charlotte genoss die Fahrt.
Charlotte kennt sich selbst zu gut, um sich als Feministin zu bezeichnen. Natürlich ist sie für gleiche Chancen und so weiter, aber sie setzt sich nicht gerade aktiv dafür ein, und vor allem freut sie sich, wenn sie Vorteile wegen ihres Aussehens oder ihres Auftretens als junge Frau genießt.
Aber als sie lachte, während der Verleger über eine seiner Meinung nach unförmige, unansehnliche, «grässliche» Frau schimpfte, die vor seinem Sportwagen auf dem Lastenrad den Berg hochstrampelte, anstatt die Radfahrerin zu verteidigen oder wenigstens nicht zu lachen, war sie schon enttäuscht von sich selbst.
In stillem Einvernehmen ließ er sie in der Nähe des Verlags in einer Seitenstraße raus. (Seite 137)
Mal behandelt er sie wie seine heimliche platonische Geliebte, mal wie eine Sklavin, in deren Anwesenheit er ungeniert mit Geschäftsfreunden über sie spricht, als wäre sie nicht im Raum. Der Verleger vereinnahmt sie immer mehr, macht sie abhängig von seinem Lob, verletzt sie gezielt mit seinen spitzen Bemerkungen und vor allem überhäuft er sie mit immer mehr Arbeiten, Aufgaben und Todos. Wenn sie einen Auftrag erledigt hat, informiert Charlotte den Verleger kurz per Mail. Am Ende eines Arbeitstages fasst sie alle erledigten Aufträge noch einmal in einer «Terminé»-Mail zusammen. Ein perfides System: Die Assistentin kontrolliert ihre eigene Produktivität gleich selbst. Charlotte kommt immer stärker unter die Räder, sie brennt langsam aber sicher aus. Sie sucht Hilfe bei ihren Eltern und erzählt vom seltsamen Verhalten ihres Chefs, aber die lachen nur. «Ein komischer Kauz», sagt der Vater und ist stolz, dass seine Tochter in einem so renommierten Verlag auf der Chefetage arbeitet.
Und doch findet sie im Elternhaus manchmal Zuflucht:
Wenn Charlotte an ihre Kindheit denkt, sind da viele Bilder voller Licht und Wärme. Freibadbesuche, Shopping-Ausflüge mit der Mutter in die Stadt, Sonntagsspaziergänge, die sie Schlechte-Laune-Spaziergänge nannten, weil eben am nächsten Tag Montag war und deswegen alle schlechte Laune hatten, Urlaube in Südfrankreich und im Allgäu und vor allem das Nicht-allein-Sein.
Das Nicht-allein-Sein war das Beste, das ist Charlotte leider erst im Rückblick klar geworden. Morgens aufstehen, die Treppe runtergehen, und da sind Menschen, die zu einem gehören und zu denen man gehört. Deswegen hat Charlotte die Eltern eigentlich immer gern besucht, denn wenn sie zu Hause war, war sie wieder Kind, und alles war wie früher und gut oder mindestens besser. (Seite 221f.)
In München aber lebt sie allein und ist ihrem Verleger voll und ganz ausgeliefert. Zwar entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte mit einem netten jungen Mann, der Verleger annektiert aber so viel Zeit von Charlotte, dass die ihr Privatleben komplett abmelden muss.
Was ist spannend an dieser Geschichte? Es ist von Anfang an klar, dass es nicht gut herauskommen kann. Dass die Beziehung zum Verleger toxisch ist, dass er sie ausnutzt und sie mit absurden Aufgaben und ständiger Kontrolle in ein verzerrtes Machtverhältnis zieht. Körperlich passiert nichts oder fast nichts, aber auch die Seele kann Schaden nehmen. Was also ist an der Geschichte spannend, wenn der Absturz sich schon auf der ersten Seite abzeichnet?
Genau das. Wir wissen es von der ersten Seite an, dass das nicht gut enden wird und Charlotte weiss es auch. Das macht Caroline Wahl schon im ersten Satz klar.
Dass das Ganze eine riesengroße Fehlentscheidung war, hatte Charlotte eigentlich von Anfang an gespürt. Schon bevor die riesengroße Fehlentscheidung getroffen wurde, als sie die Stellenausschreibung sah, spürte sie, dass das eine riesengroße Fehlentscheidung werden könnte. (Seite 8)
Charlotte weiss, dass sie in einer düsteren Variante von «Der Teufel trägt Prada» geraten ist. Und wir wissen, dass sie es weiss. Caroline Wahl spielt mit diesem Wissen. Sie kokettiert mit Rückmeldungen, die ein Lektor zur Geschichte geben könnte und gibt uns mit kleinen Ausblicken einen Vorgeschmack darauf, was noch passieren wird.
Zwischenstand. Die Dramaturgie ist irgendwie gar nicht so gut, es schleppt sich. Wann geht’s endlich ab?, wird sich der Leser fragen. Aber Spoiler: So richtig abgehen wird es nicht. Den ersten Höhe- oder besser Tiefpunkt gab es schon mit Jeannes Zusammenbruch, jetzt kommt der zweite. Dann spitzt sich die Lage im neuen Jahr noch mal zu, und es kommt zum dritten und letzten Tiefpunkt. Und dann haben es Charlotte und der Leser geschafft. Der Leser wird am Ende fragen: «Und das war es jetzt gewesen?» und sagen «Ich hab irgendwie mehr erwartet. So schlimm war er ja gar nicht.» Charlotte fand es jedenfalls schlimm genug. Wirklich. (Seite 256)
Caroline Wahl unternimmt also alles, um uns unter die Nase zu reiben, dass die Geschichte erfunden ist. Sie verrät von Beginn an, wie die Geschichte ausgehen wird, schlecht nämlich, und tut alles, um die Spannung zu nehmen. Und was tun wir als Leser? Wir glauben wider besseren Wissens an Charlotte. Wir glauben daran, dass es irgendwie vielleicht doch zu einem Happy End kommen könnte. Dass Charlotte nicht untergehen wird. Dass sie reüssieren kann.
Genau wie Charlotte selbst glauben wir also wider besseres Wissen an einen guten Ausgang der Geschichte. Caroline Wahl führt uns damit vor Augen, wie einfach wir uns verführen lassen, an ein gutes Ende zu glauben. Obwohl sie uns ständig davor warnt, tappen wir sehenden Auges in die genau gleiche Falle wie Charlotte. Und das, das ist grosses Kino.
Caroline Wahl: Die Assistentin. Roman. Rowohlt, 368 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-498-00770-6
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498007706
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 04.09.2025, Matthias Zehnder
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