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Der stille Freund

Publiziert am 2. Oktober 2025 von Matthias Zehnder

Gute Schriftsteller haben oft eine ganz eigene Sprache, die zu ihrer Stimme wird, wenn wir sie lesen. Franz Kafka zum Beispiel beschreibt seine absurden, alptraumhaften Szenen in einer präzisen, fast schon klinischen Sprache, wie sie an einem Gericht gepflegt wird. Wenn ich Milan Kundera lese, spricht er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen zu mir und sitzt dabei, so stelle ich es mir jedenfalls vor, in einem Lehnstuhl vor vielen Büchern. Anders Friedrich Dürrenmatt: Wenn ich ihn lese, sehe ich ihn vor einer Flasche Wein in einem Restaurant sitzen und höre ihn mit berndeutsch gefärbtem Hochdeutsch sprechen. Was er sagt, ist so opulent, dass er dabei manchmal sogar mit den Lippen schmatzt. Natürlich bin ich weder Franz Kafka noch Milan Kundera oder Friedrich Dürrenmatt je so begegnet, wie ich sie vor mir sehe, aber ihre Sprache klingt für mich so. Bei Ferdinand von Schirach ist das anders: Ihn habe ich vor eineinhalb Jahren live erlebt mit seinem Stück «Regen». Darin spielt er einen Laienrichter, der Schriftsteller von Beruf ist. Bei Ferdinand von Schirach ist es umgekehrt: Er war lange Strafverteidiger und ist heute – nein, natürlich nicht Laienschrifteller. Er ist längst einer der erfolgreichsten Schriftsteller deutscher Sprache. Jetzt hat er einen neuen Erzählband vorgelegt: «Der stille Freund» versammelt vierzehn Geschichten über das Leben und den Tod. Beim Lesen sehe ich Ferdinand von Schirach vor mir und höre seine Stimme, wie ich sie in «Regen» erlebt habe: vorsichtig in der Artikulation, absolut klar in der Formulierung. In meinem 275. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum Sie das Buch lesen können, auch wenn Sie Ferdinand von Schirach noch nie live gesehen haben.

 

Das grosse Haus ist abgedunkelt, die Bühne, abgesehen von einem Stuhl und einem Bistrotisch mit Kaffeetasse, Zigaretten und einem Glas Wasser, leer. In diesem Setting tritt Ferdinand von Schirach in seinem eigenen Theaterstück «Regen» auf, im Smoking, mit schwarzem Schlips und polierten Schuhen. Er spielt, beinahe, sich selbst: einen 60jährigen Schriftsteller und Juristen. Er spricht vorsichtig, präzise, reflektiert. Es ist ein Einpersonenstück, ein Monolog – und das Gegenteil einer Performance. Der Mann auf der Bühne rauft sich nicht die Haare, er schreit nicht und macht keine Absonderlichkeiten. Er spricht nur. Er richtet sich dabei zwar immer mal wieder ans Publikum, es ist aber eher eine Art öffentliches Selbstgespräch. Eine Reflexion, an der er auch das Publikum teilhaben lässt. Zurückhaltend, manchmal lakonisch, immer präzise formuliert.

Genau diesen Ton schlägt Ferdinand von Schirach auch in seinen neuen Erzählungen an. Als ich die Texte las, habe ich ihn wieder vor mir gesehen, rauchend im Smoking, allein auf der grossen Bühne, wie er in lakonischem Ton spricht und beim Sprechen, wenigstens scheinbar, allmählich seine Gedanken fertigt. Und so sollte man die Geschichten auch lesen: langsam, sorgfältig, reflektiert. Es geht darin um das Leben und den Tod, um Sinn und um Zufälle, um Sicherheit und Freiheit.

Ferdinand von Schirach erzählt uns keine Abenteuergeschichten vom Zuschnitt eines Ernest Hemingway, sondern eher Miniaturen, die zum Denken anregen oder uns mindestens stutzen lassen. Manche Geschichten sind ganz kurz, eine besteht aus nur gerade sechs Abschnitten, die je ein kurzes Erlebnis mit dem Tod erzählen: Ferdinand von Schirach berichtet von Goethe, wie er 1792 an einem Feldzug gegen Frankreich teilnahm und im Kugelhagel spazierend seine Farbenlehre diskutierte. Er erzählt von der Hinrichtung von Trophime Boussanel während der französischen Revolution, wie der auf die Vollstreckung wartend in einem Buch liest und, als sein Name aufgerufen wird, eine Seite als Lesezeichen einknickt, das Buch vor dem Schafott auf einen Hocker legt – und dann geköpft wird. Er berichtet von Astrid Lindgren und ihrer Schwester, die jeden Tag telefonierten und zu Beginn des Gesprächs immer sagten: «Der Tod, der Tod, der Tod.» «Damit war die Sache erledigt und sie konnten sich über andere Dinge unterhalten», schreibt von Schirach. Und er erzählt von einer 83-jährigen Freundin, die sterbend in Salzburg im Spital lag. Als er sie besuchte, wog sie kaum noch 45 Kilo, sass aber gut gelaunt auf der Terrasse, rauchte und trank Kaffee. Der Krebs sei grauslich, sagte sie.

«Aber den Tod darf man nicht so ernst nehmen. Wenn man verzweifelt ist, stirbt man. Wenn man nicht verzweifelt ist, stirbt man auch. Besser also, man ist nicht verzweifelt.» (Seite 61)

Das dürfen wir durchaus als Motto für das ganze Buch lesen. Dem Band vorangestellt hat Ferdinand von Schirach ein Zitat von Vladimir Nabokov: «Ich gestehe, ich glaube nicht an die Zeit.» Ich glaube, letztlich bedeutet es dasselbe wie der Satz der sterbenden Freundin. Ferdinand von Schirach kommentiert das nicht, er lässt es stehen. Das gilt für alle vierzehn Geschichten.

Auch wenn die Erzählungen vom Tod handeln, beherzigt Ferdinand von Schirach, was ihm seine Freundin in der Geschichte sagt: Besser, man ist nicht verzweifelt. Auch wenn der Tod überraschend zuschlägt wie in der Erzählung, die dem Band den Titel gab. Ferdinand von Schirach erzählt darin von Massimo, der alle zwei Wochen mit seiner alten Cessna von seiner Farm in Namibia in die Hauptstadt fliegt.

Es war eine alte Cessna 172. Wir sind oft mir dieser Maschine geflogen das sind gutmütige kleine Flugzeuge, solide und robust, sie brauchen nur kurze Landebahnen, und mit ein bisschen Pflege tun sie Jahrzehnte ihren Dienst. Massimo flog damit alle zwei Wochen nach Windhuk, um Einkäufe zu erledigen und Freunde zu besuchen. Das war angenehmer, als sechs Stunden in dem furchtbar unbequemen Toyota zu sitzen.

Als das Flugzeug abhob, stieg ein Schwarm Webervögel auf. Dagegen ist auch der beste Pilot machtlos. «Vogelschlag» stand später in dem offiziellen Unfallbericht. Er liegt mit den Fotos auf meinem Schreibtisch, während ich diesen Text schreibe. (Seite 7)

Die kurze Passage zeigt schön, wie Ferdinand von Schirach schreibt. Da ist zunächst der lakonische Ton: Knapp, nüchtern, ohne Erklärungen. Er erklärt zum Beispiel nicht, was Webervögel sind. Es ist nicht nötig, zu wissen, dass die Vögel zwar so klein wie Sperlinge sind, aber Gemeinschaftsnester mit über 100 Brutkammern bauen und deshalb oft in grossen Schwärmen auftreten. Trotz der Knappheit haben die Texte etwas Dokumentarisches. Von Schirach schreibt: «Vogelschlag» stand später in dem offiziellen Unfallbericht. Er liegt mit den Fotos auf meinem Schreibtisch, während ich diesen Text schreibe. Wir sehen ihn vor uns, wie er im Anzug an seinem Schreibtisch sitzt, neben sich den Unfallbericht der Flugbehörde.

Ferdinand von Schirach vermittelt auf diese Weise den Eindruck, dass er aus seinem Leben erzählt. In seinen Erzählungen tritt er immer wieder als Schriftsteller auf, der nur dokumentiert, was andere ihm erzählt haben. Ferdinand von Schirach bleibt auf diese Weise in seinen Texten Anwalt seiner Figuren. Auf den ersten Blick scheint er darauf zu verzichten, uns eine Fiktion zu errichten, in die wir eintauchen können. Wir merken erst auf den zweiten Blick, dass bei Ferdinand von Schirach der Schriftsteller in seinen Erzählungen Teil seiner Fiktion ist, indem er uns eine Rahmenhandlung konstruiert.

Aber zurück zur Erzählung «Der stille Freund». Nachdem uns Ferdinand von Schirach mit dem Unfallbericht schockiert hat, erzählt er uns vom Leben seines Freundes Massimo. Wie er schon als Kind die Bibel las, aber nicht zufrieden war mit dem Gott, der ihm da entgegentrat.

Ich erinnere mich, wie er eines Morgens im Internat in mein Zimmer kam, im Schlafanzug auf den Tisch stieg und laut die drei Fragen Kants stellte: «Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?» Dann sprang er herunter und sagte: «Das wird das nächste Jahr.» Bei einem Jahr blieb es nicht. Er las Platon, Aristoteles, Descartes und Spinoza. Nächtelang erklärte er mir, dass er ein Traum innerhalb eines Traums sein könnte. Oder ein Gehirn, das sich diese Welt nur ausdenke, eine Simulation. Dann ging es weiter mit Hegel, Fichte, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger und der Frankfurter Schule. Und nie wurden Kants Fragen beantwortet. (Seite 11)

Auch die Naturwissenschaften helfen Massimo nicht weiter, weder Physik, noch Astronomie. Und bin so klug als wie zuvor, sagt Faust im Theaterstück von Goethe. Und dann kommt es in der Erzählung über Massimo zu diesem speziellen Moment:

An einem frühen Morgen im August, nachdem Massimo wieder die ganze Nacht gelesen hatte, trat er auf die Terrasse seines Hauses in Florenz. Es war schon warm, die Dächer der Stadt leuchteten, die Kuppel von Santa Maria del Fiore, Giotto Kampanile und der Turm des Palazzo Vecchio. Und dann, ganz plötzlich, wurde ihm klar, dass nur das Lebendige wahr ist, nur das Staunen, nur die Schönheit unserer Welt, dieser eine Moment. Er ging in ein Café, bestellte ein Cornetto, biss hinein und konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Massimo nannte diesen Moment später seinen «stillen Freund», zu dem er immer wieder zurückkehren konnte. Das verstand ich sehr gut. (Seite 12)

Es ist ein faustischer Moment: Massimo freut sich über diesen Augenblick, den Augenblick, in dem das Lebendige, das Staunen und die Schönheit wahr sind. Sein «stiller Freund» ist jener Augenblick, zu dem Faust sagt, verweile doch, du bist so schön. Ferdinand von Schirach führt es uns wunderbar vor Augen: Wie bei Faust reichen Massimo all die Weisheiten der Welt nicht, um den Sinn des Seins zu erklären. Das kann nur dieser eine, erfüllte Augenblick.

Das alles sagt Ferdinand von Schirach nicht. Er zeigt es uns in dieser Geschichte und das gleich zweimal. Einmal, indem er erzählt, was Massimo erlebt, ein zweites Mal nach dessen Tod. Massimo hatte gesagt, man müsste einfach einmal alle Regeln aufschreiben, mit denen ein Leben gelinge. Nach Massimos Tod fragt seine Tochter von Schirach (respektive die Schriftstellerfigur in der Erzählung), ob er dieses Buch für sie schreiben kann. Doch der lehnt ab.

Alle Fragen nach einem Sinn sind Kinderfragen. Niemand weiss, warum das eine Leben glückt und das andere nicht. Es gibt keine Regeln, es gab sie noch nie. Ich jedenfalls kann Massimos Buch nicht schreiben. Aber ich erinnere mich an den Geruch des Sommers in Südfrankreich, als ich 15 Jahre als war und an den roten Sand des Tennisplatzes in unserem Park und an die sehr langen, weissen Seidenhandschuhe meiner Tante. Ich bin Schriftsteller, ich erzähle nur Geschichten. (Seite 13)

Der Schriftsteller sagt also: Es gibt keine Regeln. Nur diese eine: Suche Deinen Augenblick, deinen «stillen Freund». Im gleichen Atemzug erinnert er sich an seinen eigenen Augenblick, der nach Sommer in Südfrankreich riecht. Ferdinand von Schirach sagt das alles nicht explizit, er führt es vor Augen. Und unterläuft am Ende seine eigene Erzählung, indem er sagt: Ich bin Schriftsteller, ich erzähle nur Geschichten. Anders gesagt: Se non è vero, è ben trovato. Wenn es nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden. Man könnte mit Fernando Pessoa anfügen: «Da wir dem Leben keine Schönheit abzuringen vermögen, sollten wir zumindest versuchen, unserem Unvermögen Schönheit abzuringen.»

Ferdinand von Schirach selbst beschränkt sich übrigens nicht darauf, nur Schriftsteller zu sein. Er geht auch mit seinen neuen Texten wieder auf Tournee, allerdings erst in einem Jahr: Im Oktober 2026 kommt das Programm in der Berliner Philharmonie zur Uraufführung.