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Der Schädel von Sant’Abbondio
Sommerzeit – Reisezeit – Lesezeit. In meiner literarischen Sommerserie stelle ich Ihnen jede Woche einen spannenden Krimi vor, der Sie an einen besonderen Ort entführt. Dabei erleben Sie Regionen, die wir sonst nur als Touristen kennen, aus der Perspektive der Einheimischen. Sechs Wochen, sechs Bücher, sechs Reiseziele – vom Mittelmeer bis an den Atlantik, vom Tessin bis nach Berlin. Heute geht es ins Tessin, nach Montagnola. Hier hat Hermann Hesse die zweite Hälfte seines Lebens verbracht und hier lebt Moira Rusconi, Übersetzerin aus Deutschland. Bereits zum vierten Mal ermittelt sie in Sachen Mord in Montagnola. Diesmal ohne die Unterstützung der Polizei, denn das Verbrechen liegt fast schon fünfzig Jahre zurück. Im Dorf leben aber noch eine ganze Reihe von Menschen, die damals mit dem Mordopfer bekannt waren, darunter auch Moiras Vater Ambrogio. Prompt verdächtigt ihn das halbe Dorf, den Mord begangen zu haben. Also stürzt sich Moira in die Ermittlungen, um den Ruf ihres Vaters wiederherzustellen. Das erweist sich als schwieriger als gedacht, denn Ambrogio glaubt mittlerweile selber dran, dass er es gewesen sein könnte. In meinem 266. Buchtipp, der fünften Folge meiner Sommerserie, sage ich Ihnen, warum sich die literarische Reise ins Tessin lohnt.
Das Tessin ist ein Sonderfall. Es liegt zwar auf der Alpensüdseite, gehört aber zur Schweiz. Es ist der einzige italienischsprachige Kanton. Schuld daran ist niemand geringerer als Napoleon Bonaparte: Er stellte die Tessiner vor die Wahl, ob sie lieber zur Lombardei oder zur damaligen Helvetischen Republik gehören wollten. Die Tessiner wählten die Schweiz. Deshalb ist das Gebiet seit 1803 ein vollwertiger Kanton, blieb aber lange aussen vor, weil die Reise ins Tessin beschwerlich und im Winter über die verschneiten Pässe zuweilen sogar unmöglich war.

Das änderte sich mit dem Bau der Gotthardbahn 1882: Die Eisenbahnverbindung durch den Berg machte das Tessin erreichbar. Die ersten, die den südlichen Kanton für sich entdeckten, waren Künstler: Ab etwa 1900 zog das milde Klima Maler, Schriftsteller und Intellektuelle an. Sie sammelten sich auf einem Hügel bei Ascona, den sie «Monte Verità» nannten. 1906 reiste auch Hermann Hesse auf den «Berg der Wahrheit». Er flüchtete vor seiner Frau und seinen Kindern und der Baustelle seines neuen Hauses am Bodensee. Im Brief an einen Freund schwärmte er «Alpen, See, Inseln, ein wilder Felsenberg, Akte im Freien» und schrieb vom «Luft- und Sonnenbadplatz, wo man nackt geht».
Später zog Hesse mit Frau und Kindern nach Bern, verliess sie aber 1919 endgültig und zog ganz ins Tessin: in die Casa Camuzzi in Montagnola oberhalb von Lugano. Bis heute ist Montagnola als Hesse-Dorf bekannt. Hier schrieb er Werke wie «Siddharta», «Narziss und Goldmund» und «Der Steppenwolf». Hugo Ball, Thomas Mann und Bertolt Brecht haben Hesse in Montagnola besucht. Heute befindet sich in der Casa Camuzzi das Hesse-Museum. Im Übrigen ist das Dorf heute nicht mehr nur für Hesse bekannt. In Montagnola haben auch weitere Berühmtheiten gewohnt, darunter etwa George Harrison, der Lead-Gitarrist der Beatles. Offenbar wohnt heute Sergio Ermotti in Montagnola, der CEO der Schweizer Bank UBS.
Diese Promis spielen in den Geschichten von Mascha Vassena aber keine Rolle. Nur Hermann Hesse taucht immer wieder auf: Ambrogio Rusconi, der Vater von Hauptfigur Moira, ist emeritierter Literaturprofessor und wohnt in Montagnola unweit der Casa Camuzzi. Allerdings ärgert sich Ambrogio über den Rummel, den das Dorf rund um Hermann Hesse veranstaltet. Die vielen Schilder, die Festivitäten und der Hesse-Rundweg können ihm gestohlen bleiben. Ambrogio findet: Hesses Bücher seien ihm Denkmal genug. Wer Hesse nahe sein wolle, solle deshalb Hesse lesen, nicht Hesse feiern.
Tochter Moira sieht das entspannter. Im ersten Band der Serie lebte Moira noch in Frankfurt: Sie besuchte ihren Vater, weil der einen kleinen Schlaganfall erlitten hatte. Mittlerweile ist sie mit Tochter Luna ganz ins Tessin gezogen. Möglich ist das, weil sie als freischaffende Übersetzerin überall arbeiten kann. Allerdings übersetzt sie nicht Literatur, sondern Gebrauchsanweisungen – von der Kettensäge bis zur Klimaanlage.
Als Übersetzerin wurde sie von der Polizia Giudiziaria schon mehrfach zu Mordermittlungen beigezogen. Mittlerweile ist sie gut befreundet mit Inspektorin Chiara Moretti. Jugendfreund Luca Cavadini, der leitende Gerichtsmediziner im Kanton Tessin, ist im neuen Roman sogar mit Moira liiert. Es ist deshalb kein Zufall, dass Chiara ihre Freundin beizieht, als während der Weinlese im Weinberg der Cavadinis ein menschlicher Schädel gefunden wird. Das ist der Schädel von Sant’Abbondio, von dem im Titel des Romans die Rede ist.
Allerdings ist die polizeiliche Ermittlung nur von kurzer Dauer: Luca stellt mit einem DNA-Vergleich rasch fest, dass es sich bei dem Schädel um die sterblichen Überreste eines jungen Mannes handelt, der vor vielen Jahren in Montagnola verschwunden war. Er ist zwar offensichtlich eines gewaltsamen Todes gestorben, weil die Tat aber beinahe 50 Jahre zurückliegt, gilt sie als verjährt und die Polizei stellt ihre Ermittlungen sofort wieder ein.
Das hindert das Dorf aber nicht daran, über den Mord zu tratschen. Dabei gerät Ambrogio Rusconi in den Fokus des Dorfklatsches.
Das Il Mulino war gut besucht, und schon wieder bemerkte Moira verstohlene Blicke in ihre Richtung. «Weshalb tust du denn so geheimnisvoll?», sagte sie leicht gereizt, als Silvana dicht an sie heranrückte. Die nuschelte mit zusammengebissenen Zähnen etwas, das Moira nicht verstand. «Übst du dich im Bauchreden oder hast du Angst, dir fliegt was in den Mund, wenn du ihn aufmachst? Entschuldige, aber ist das so was wie versteckte Kamera?»
Silvana zog die Augenbrauen hoch und wollte gerade zu sprechen beginnen, als Gabriella an den Tisch trat und zwei Likörgläser mit dunkelbraunem Inhalt vor sie stellte. «Tut mir wirklich leid, Moira. Ich mag die Leute hier, aber manchmal sind sie einfach dumm.» Moira hob den Kopf und starrte sie an. «Ich habe keinen blassen Schimmer, was hier vor sich geht. Könnt ihr mich bitte endlich aufklären?»
«Oh.» Gabriella wirkte betroffen. «Du hast es also noch nicht gehört?»
«Ich merke nur, dass alle mir aus dem Weg gehen.»
«Ich muss mich um die Gäste kümmern», sagte Gabriella. «Aber Silvana erzählt dir alles.» Sie eilte zur Durchreiche, wo der Koch zwei Teller mit Brasato und Polenta abgestellt hatte. Moira sah Silvana frustriert an. «Ich fühle mich wie diejenige, die als Einzige den Witz nicht verstanden hat. Bitte erkläre ihn mir.»
Silvana legte ihre raue Hand auf Moiras. «Als dein Vater jung war, waren er, Vittorio, Matteo Lanfranchi und Domenico Tosi unzertrennlich. Im Dorf hießen sie nur das … »
«Quadrifoglio» sagte Moira. «Das hat mein Vater mir erzählt.»
«Bene, dann kann ich die Vorgeschichte ja weglassen. Also weißt du wahrscheinlich auch, dass wir alle dachten, Domenico sei nach Amerika gegangen. Aber jetzt hat sich herausgestellt, dass wir uns alle geirrt haben. Und nun fragen die Leute sich natürlich, wer ihn umgebracht haben könnte.»
«Aber woher wollen sie wissen, dass der Tote Domenico ist?»
«Wegen des Goldzahns natürlich. So etwas spricht sich in Windeseile herum.»
Moira behielt für sich, dass die Vermutung richtig war. «Meinetwegen, aber was hat das mit mir zu tun?»
«Lass uns erst mal trinken.» Silvana hob ihr Glas, stieß mit Moira an und kippte den gesamten Inhalt, während Moira nur nippte. «So, dann erzähl mal.»
«Dein Vater», sagte Silvana und stellte das Glas auf den Tisch, «hatte einen schrecklichen Streit mit Domenico, nur ein paar Tage, bevor er verschwand. Sie haben sich sogar geschlagen. Und jetzt denken viele Leute im Dorf, dass er ihn umgebracht hat.» (Seite 59f.)
Das Schlimme daran ist: Papa Ambrogio kann sich an die Nacht des Verschwindens von Domenico nicht erinnern. Er hat einen klassischen Filmriss. Er fürchtet deshalb mitunter selber, dass er Domenico erschlagen hat. Grund genug für Moira, in Sachen Mord zu ermitteln. Diesmal ohne Rückendeckung durch die Polizei und ihre Freundin Chiara, die Inspektorin.

Das Schöne an den Krimis von Mascha Vassena ist, dass sie im Hier und Jetzt von Montagnola eingebettet sind. Da geht es nicht um Spione, Verschwörungen oder andere abstruse Geschichten, sondern um die menschlichen Verstrickungen im Tessiner Dorf. Heldin Moira ist keine verkappte Superwoman, sondern einfach eine neugierige Übersetzerin. Sie wohnt im kleinen Gästehaus ihres Vaters, Tochter Luna geht inzwischen im Tessin in die Schule.
Im Haus leben neben ihrem Vater auch fünf Katzen, die Ambrogio nach seinen Lieblingsautorinnen benannt hat: die Graugetigerte heisst Herta, die grosse Schwarze Ingeborg, der rote Blitz Luise, die blaugraue Kartäuser Marlen und die Geheimnisvolle mir der orangefarbenen Schwanzspitze heisst Elfriede. Zu den Freunden des Hauses gehören die Cavadinis mit dem Weinberg, Gabriella, die Wirtin vom Mulino, und Staatsanwältin Arianna Manzoni, die mit Ambrogio liiert ist. Sie alle haben ihre Sorgen und Nöte, verstehen es aber auch, das Leben im Tessiner Dorf zu geniessen. Der Merlot spielt im Buch deshalb eine ähnlich grosse Rolle wie der Mord.
Katzen und Menschen werden im Verlauf der Lektüre zu Freunden, denen man gerne zuschaut, wie sie ihren Alltag im Tessiner Dorf leben. Fast ein bisschen wie Friends, einfach für Erwachsene … Weil es diesmal um einen Mord geht, der fast 50 Jahre zurückliegt, kommt auch die Geschichte von Montagnola nicht zu kurz – und die Erinnerungen von Ambrogio. Er kramt in alten Fotoalben und zeigt Moira sogar einen kurzen Super8-Film aus der Zeit.
Das Buch führt deshalb auch vor Augen, was das Tessin liebenswert macht. Nein, es ist nicht der «Luft- und Sonnenbadplatz, wo man nackt geht», wie Hesse schrieb. Das gibt es zwar bis heute, wenn auch nicht mehr auf dem Monte Verità, sondern eher im Verzasca-Tal. Es ist die Mischung aus italienischer Lebensfreude und Schweizerischer Geborgenheit, aus Licht und Weite auf der Alpensüdseite, aus dörflicher Kleinheit und Weltgewandtheit.
Mascha Vassena setzt dieses Tessin wunderbar unaufgeregt in Szene und erzählt die Geschichte rund um Moria Rusconi so, wie man es sich für eine Sommerlektüre wünscht: spannend, aber entspannt.
Mascha Vassena: Der Schädel von Sant’Abbondio. Moira Rusconi ermittelt. Ein Tessin-Krimi. Eichborn, 320 Seiten, 26.50 Franken; ISBN 978-3-8479-0206-5
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783847902065
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 30.07.2025, Matthias Zehnder
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