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Auf ganz dünnem Eis

Publiziert am 12. November 2025 von Matthias Zehnder

John Irving und T. Coraghessan Boyle in Amerika oder, in der deutschen Literatur, Daniel Kehlmann und Robert Menasse schreiben in einer Sprache, die ich als vollmundig bezeichnen würde. Es sind breit angelegte Romane, realistisch erzählt, aber oft ins Skurrile und Komische überspitzt. Gerade John Irving holt oft so weit aus wie einst Charles Dickens. Seine Geschichten mäandern förmlich um die Figuren und die einzelnen Erzählstränge. Er schreibt wie ein Geschichtenerzähler, dem immer noch ein saftiges Detail in den Sinn kommt. Die Sprache des Schweizer Schriftstellers Peter Stamm ist das Gegenteil davon. Er reduziert seine Sprache bis zur Kargheit und pflegt einen knappen Stil. Da ist kein Wort zu viel, keine Beschreibung überflüssig. Sein Metier sind nicht Romane mit hunderten von Seiten, sondern kurze Erzählungen: Peter Stamm packt ein Leben auf ein Dutzend Buchseiten. Eindrückliches Beispiel für seine Erzählkunst ist «Auf ganz dünnem Eis», ein schmaler Band mit neun Erzählungen. In meinem 281. Buchtipp sage ich Ihnen, warum mir die Erzählungen von Peter Stamm unter die Haut gehen.

 

Lakonisch. So könnte man die Sprache von Peter Stamm bezeichnen. Er braucht nicht viele Worte. Ausschmückungen gibt es nicht. Er verwendet wenig Adjektive. Seine Sprache ist nicht gerade trocken, aber alles andere als blumig. Das wirkt manchmal etwas kühl. Und das ist paradox, weil Peter Stamm oft von grossen Gefühlen schreibt. Man liest seine Texte sorgfältig, auch zwischen den Zeilen.

Eine vergleichbare Präzision in der Sprache kenne ich zum Beispiel von Ödön von Horvath. Er schaffte es, auf wenigen Zeilen die Vorurteile seiner Figuren blosszulegen und zu zeigen, wie sie aneinander vorbeireden. Ich gebe Ihnen dafür ein Beispiel aus den «Geschichten aus dem Wiener Wald» und sage Ihnen gleich danach, was das mit Peter Stamm zu tun hat.

«Geschichten aus dem Wiener Wald» ist ein Theaterstück. Es beginnt damit, dass Alfred seine Mutter besucht. Die beiden sitzen beim Essen. Es kommt zu folgendem Dialog:
Alfred: Ich glaub, es wird Zeit. Der Hierlinger muss jeden Moment erscheinen. Es ist auch noch eine Dame dabei.
Die Mutter: Was ist das für eine Dame?
Alfred: Eine ältere Dame.
Die Mutter: Wie alt?
Alfred: So mittel.
Die Mutter: Hat sie Geld?
Alfred: Ich habe nichts mit ihr zu tun.

Horvath skizziert da auf ganz wenigen Dialogzeilen das Verhältnis von Mutter und Sohn, die gegenseitigen Vorurteile und Hoffnungen, wie sie aneinander vorbeireden. Die Mutter hofft (oder fürchtet), dass ihr Alfred etwas mit der Dame hat und erkundigt sich nach deren Vorzügen: Wie alt ist sie? Hat sie Geld? Bei Horvath entsteht eine Geschichte daraus, weil die Figuren in ihren Vorurteilen steckenbleiben und nicht miteinander klarkommen.

Peter Stamm schreibt ähnlich knapp. Aber bei ihm entstehen die Geschichten, weil die Figuren nicht mit sich selber klar kommen. Es ist manchmal schon fast schmerzhaft zu lesen, wie ungeschickt sie durch die Welt tappen, im Unklaren mit sich selbst. Eine zentrale Textstelle, die das auf den Punkt bringt, ist der folgende Gedanke von Sarah, einer Schauspielerin:

Manchmal wünsche ich mir, ich lebte in einem Theaterstück. Da weiß man immer, was man sagen, was man machen, was man fühlen muss. Alles ergibt einen Sinn, und wenn man einmal nicht weiterweiß, flüstert einem die Souffleuse die richtigen Worte zu. (Seite 133f.)

Sarah ist die Hauptfigur in zwei der Erzählungen. Beide heissen fast wie der ganze Band: «Auf dünnem Eis». Das bezieht sich, natürlich, nicht auf einen gefrorenen See, sondern auf die Sicherheit, mit der sie ihre Rolle spielt. Nicht als Schauspielerin, sondern ihre Rolle als Figur in ihrem eigenen Leben. Denn da weiss sie nie, was sie sagen, was sie machen, ja: was sie fühlen muss. Das ist spannend. Dass man im richtigen Leben keinen Text und keine Regieanweisungen hat, ist nachvollziehbar. Aber Sarah weiss nicht einmal, was sie fühlen soll. Ihr eigenes Leben ergibt für sie keinen Sinn und da ist auch keine Souffleuse, die ihr die richtigen Worte zuflüstert. Übrigens lässt Peter Stamm auch den Leser allein damit: Im Buch gibt es keinen Erzähler, der uns eine Erläuterung souffliert.

Weil Sarah kein Engagement als Schauspielerin findet, übernimmt sie in einem Krankenhaus für Ärzte in Ausbildung die Rolle einer Patientin. Die spielt sie viel zu dramatisch und bricht bei einer Untersuchung sogar in Tränen aus. Wie das eine Schauspielerin halt kann. Das beeindruckt einen jungen, angehenden Arzt so sehr, dass er sie in die Arme nimmt. Was ihm einen Verweis der Ausbildnerin einbringt – und ein Lächeln von Sarah.

Die beiden begegnen sich wieder, vor allem aber schreiben sie sich Nachrichten. Obwohl Sarah einen festen Freund hat, mit dem sie zusammenlebt, heben die Chats mit Jungarzt Jonas schnell ab. Im realen Leben begegnen sie sich kaum. Sie toben sich nur in der Fantasie aus, auf dem Handybildschirm. Sarah hat endlich eine Rolle gefunden – und fällt deswegen im realen Leben von der Rolle.

Ganz in einer falschen Realität lebt ein junger Schweizer, der in den Niederlanden als Skilehrer arbeitet: Er unterrichtet Holländer in einer Skihalle.

Die Ampel steht auf Grün. Eine Minute Abfahrt, fünf Minuten auf dem Förderband in diesem scheußlichen Tunnel. Die Deckenverkleidung ist an vielen Stellen von Skistöcken durchlöchert, an den Betonwänden sind Graffitis, Plakate für Veltins, Runter geht’s von selbst. Aus den Lautsprechern tönt Oberkrainermusik und in regelmäßigen Abständen eine Durchsage auf Deutsch, Holländisch und Englisch, Bitte setzen Sie sich nicht auf das Förderband. In Neuss haben sie einen Sessellift, dafür ist unsere Piste doppelt so lang, die längste der Welt. (Seite 9)

Auch der Schweizer Skilehrer hat ein Problem, aber er hat sich in seine Rolle geflüchtet. Wenn auch in Holland.

In einer ähnlich künstlichen Realität lebt eine KFOR-Soldatin im Kosovo. Sie arbeitet für die Uno-Friedenstruppen, verlässt die Kaserne aber kaum. Sie ist älter als die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen. Sie fühlt sich eingesperrt, versteht sich nicht mit den Vorgesetzten, sieht keinen Sinn in dem, was die Truppe im fremden Land tut. Auch sie ist in die neue Rolle geflüchtet:

An Armin möchte ich nicht denken. Er hat mich von allen am wenigsten verstanden. Meine Unzufriedenheit, meinen Wunsch auszubrechen, wegzukommen und dann auch noch zur Truppe. Das musste ausgerechnet ihm passieren, der immer so stolz darauf war, den Militärdienst verweigert zu haben. Das war seine Darstellung. In Wirklichkeit hatte er sich einfach für den Zivildienst entschieden, das war keine Verweigerung, keine Heldentat, der Weg des geringsten Widerstands. Und jetzt meldet sich seine Frau für die Friedenstruppe, kriegt eine Pistole und lernt schießen. Seine Frau. Ich bin nicht seine Frau, nicht mehr. Eigentlich war ich es noch nie. Er hatte unbedingt heiraten wollen, als ich schwanger wurde. Es war seltsam, aber ich hatte vom ersten Moment an das Gefühl, dass er mir das Kind angehängt hatte, dass es sein Kind war, das er in mir ausgesetzt hatte, um meinen Körper zu kolonisieren. (Seite 75)

Aber auch die Flucht zu den Friedenstruppen fühlt sich falsch an. Also setzt sie sich in einen Bus und fährt los, quer durch Kosovo, Serbien, Ungarn, Österreich und Deutschland. Ziel: München.

Ich habe gehofft, Landschaften zu sehen, aber inzwischen ist es ganz dunkel draußen, nur manchmal ziehen Lichter vorüber, Reihen von Straßenlaternen, beleuchtete Industriegelände, Tankstellen, Siedlungen, einzelne Häuser. Kein Mensch auf der Welt weiß, wo ich bin, nicht einmal ich selbst. (Seite 82)

Sie sitzt im dunklen Bus und fährt durch fremde Länder. Vor ihr sitzt ein Kind, das auf seinem Handy ein Spiel speilt:

Jump and Run, eine kleine Figur mit grünen Haaren rennt durch ein System von unterirdischen Tunneln und Röhren, überall lauern Gefahren, aber das Kind ist geschickt und weicht allen aus. Wer wegläuft, überlebt. (Seite 83)

Wer wegläuft, überlebt. Das liesse sich gut als Titel für das ganze Buch verwenden. Peter Stamms Figuren laufen weg. Nicht vor anderen Menschen, sondern vor ihrem eigenen Leben, vor sich selbst. Peter Stamm schildert die inneren Dramen nicht, er zeigt sie. Er schildert sie in kurzen Sätzen, wie diese Begegnung der Soldatin mit dem spielenden Kind im Bus.

Auf den ersten Blick sind seine Erzählungen harmlos. Aber sie lassen einen nicht mehr los. Man sieht das dünne Eis plötzlich überall, nimmt die feinen Risse wahr, es knirscht und knackt im Leben vieler Menschen. Und nirgendwo ist eine Souffleuse in Sicht.

Peter Stamm: Auf ganz dünnem Eis. Erzählungen. S. Fischer, 192 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-10-397127-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103971279

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Basel, 12.11.2025, Matthias Zehnder

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